Bleich wie der Mond (eBook)
304 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61353-7 (ISBN)
Luca Ventura ist ein Pseudonym. Der Autor lebt am Golf von Neapel, wo er derzeit am nächsten Fall der Capri-Serie um den Inselpolizisten Enrico Rizzi und dessen norditalienische Kollegin Antonia Cirillo schreibt.
Rizzi erwachte in der Minute, bevor der Wecker klingelte, als hätte er eine innere Uhr.
Rasch langte er nach seinem Telefon und stellte die Weckfunktion aus, bevor das Ding losging und Gina neben ihm oder Francesca im Kinderzimmer gegenüber aufschreckten. Dann lauschte er für ein paar Sekunden in die Stille und schlug vorsichtig die Decke zurück.
»Liebling«, murmelte Gina schlaftrunken, schlang ihren Arm um ihn und zog ihn zurück. »Bleib doch noch liegen.«
Rizzi löste sich aus der Umklammerung. »Schlaf weiter«, flüsterte er, beugte sich über sie und küsste sie zärtlich. Kurz darauf stieg er in seine Boxershorts, seine Hose, streifte ein T-Shirt und den Pullover über und hörte, wie es unten in der Wohnung seiner Eltern rumorte.
Im Flur band er die Schnürsenkel mit einem Doppelknoten, nahm seine Windjacke vom Haken und verließ die Wohnung – zeitgleich mit seinem Vater, der ein Stockwerk tiefer, mit der Aktentasche unter dem Arm, ebenso lautlos die Tür hinter sich ins Schloss zog.
»Buongiorno«, brummte Vito, als sie hintereinander die Treppe hinunterliefen und Rizzi seinem Vater zur Begrüßung eine Hand auf die Schulter legte.
Romeo kam aus der Waschküche gekrochen, wedelte freudig mit dem Schwanz, schüttelte erwartungsvoll sein Fell und sprang, als Vito die entsprechende Handbewegung machte, auf die Ladefläche der Ape. Rizzi stieß das Tor auf, und Vito startete den Motor.
Es war dunkel, als sie die Gasse hinunterfuhren. Die Insel lag noch in tiefem Schlaf, und niemand begegnete ihnen. Vito fuhr die Strecke nach vierzig Jahren im Schlaf, wie auch Rizzi jede Kurve, jedes Schlagloch und jeden kleinen Buckel kannte.
Im Süden ragte der Monte Cappello wie eine schwarze Wand empor, und der Mond schien matt hinter dünnen Wolken. Vom Meer wehte ein leichter Wind, der schon die Wärme des Sommers in sich trug und sich auf der Haut ganz weich anfühlte.
Rizzi auf dem Beifahrersitz, neben seinem Vater, ließ den Arm aus dem Seitenfenster baumeln und sah hoch oben auf der Via Provinciale das Scheinwerferlicht eines Wagens, der von Anacapri kommend nach Capri kroch, und fragte sich, wer um diese Zeit, vor fünf Uhr morgens, dort schon unterwegs war. Es war müßig, darüber nachzudenken, ein Reflex, den wahrscheinlich alle Einheimischen hatten, die sich untereinander kannten, nicht nur Rizzi als Polizist, selbst wenn er nicht im Dienst war.
Vito fuhr auf dem Feldweg Schlangenlinien, lenkte dabei einmal zu nachlässig um die Schlaglöcher herum. Das Fahrzeug hüpfte, und Rizzi und sein Vater stießen mit ihren Köpfen ans Dach der Fahrerkabine, während im Scheinwerferlicht vor ihnen die beiden Pfeiler auftauchten, zwischen denen, etwas windschief, die verrostete Pforte in den Angeln hing.
Rizzi stieg aus, öffnete das Vorhängeschloss, zog die schwere Kette von den Gitterstäben und schob das Tor auf.
Auf dem abschüssigen Weg hinunter in die Gärten stellte Vito den Motor aus, holperte an den Weinstöcken entlang, den Hang abwärts, und kam mit einem Quietschen vor dem Schuppen zum Stillstand, neben Rizzis Motorroller, den er gestern Abend hier stehengelassen hatte.
Um diese Zeit, am frühen Morgen, war die Erde noch feucht und aufnahmebereit – ein Geschenk der Natur, das sie ausnutzen wollten. Der Regen der vergangenen Woche war kein wirklicher Regen gewesen und hatte bei Weitem nicht ausgereicht, um den Boden tiefer als ein paar Zentimeter zu durchdringen.
Vito stapfte zum Wasserhahn, der mit der Zisterne verbunden war, drehte ihn auf, und die Pumpe begann zu arbeiten. Der Wasserstrahl kam in rhythmischen Schüben aus dem Schlauch und plätscherte, von Vito geführt, in die Vertiefungen, die sie um die Stämme der Obstbäume herum gegraben hatten.
In der Ferne, kaum wahrnehmbar, begann der Morgen zu schimmern. Rizzi liebte es, in den Gärten zu arbeiten und das beginnende Tageslicht in den Stunden vor Dienstbeginn voll auszunutzen. Sein Plan war, den Streifen auf der Gartenrückseite, entlang der Mauer, wo kniehoch der Klee stand, freizumachen und eine neue Kartoffelsorte zu pflanzen. Genaugenommen war die neue Sorte eine alte, eine fast schon in Vergessenheit geratene bläulich-lilafarbene Knolle, die für Rizzi Teil seines Projekts war, in den Gärten verstärkt alte Sorten anzubauen und für Biodiversität zu sorgen, auch wenn Vito fand, das sei Kokolores: Sorten, die niemand kannte, und Kartoffeln, die schwarzlila waren, würden schwer verkäuflich sein.
Rizzi stach mit dem Spaten in die Erde, lockerte den Boden und warf Stück für Stück die fetten Klumpen auf, fruchtbare Erde, mit der sie hier auf Capri gesegnet waren. Er arbeitete sich Meter für Meter an der Mauer entlang, und der Schweiß begann ihm den Rücken hinunterzulaufen, als Vito von den Pfirsichbäumen herüberrief: »Bist du taub?«
Rizzi schaute auf.
»Dein verdammtes Telefon!«
Das Klingeln kam aus seiner Windjacke, die er in den Walnussbaum gehängt hatte. Rizzi rammte den Spaten in die Erde – aber als er zur Stelle war und den Apparat aus der Jackentasche holte, hörte das Klingeln auf.
Ein verpasster Anruf. Es war die Nummer vom Polizeiposten. Rizzi drückte auf Rückruf.
»Danke, dass du dich meldest«, sagte der Kollege Tiziano Gatti am anderen Ende. »Ich wollte gerade Cirillo aus dem Bett klingeln.«
»Worum geht’s?«
»Hier hat ein Typ angerufen. Er hat zwar nicht gelallt, aber so seltsam gesprochen. Formaggi Castaldo, hat er gesagt.«
»Die Käserei in Anacapri? Piazza La Torre?«
»Exakt.«
»Und weiter?«
»Nichts. Aufgelegt.«
»Hast du eine Rückrufnummer?«
»Da geht keiner ran.« Gatti pustete in den Hörer.
Rizzi schaute auf die Uhr. Dienstag, der zehnte Mai, kurz vor halb sechs Uhr morgens. Eigentlich sollte die Sonne bald aufgehen, aber der Himmel hatte sich zugezogen. »Ich fahre schnell rüber«, sagte er.
»Soll ich Cirillo Bescheid sagen?«
»Lass sie schlafen«, sagte Rizzi. »Ich melde mich wieder.«
Fünfzehn Minuten später war er in Anacapri und bog von der Via Giuseppe Orlandi auf die Piazza La Torre, stellte den Motor ab und bockte den Roller auf.
Das bunte Keramikschild von Ernestos Blumen- und Samenhandlung war verschwunden, stattdessen gab es über den Fenstern eine gestreifte Markise mit dem Schriftzug Mozzarella e altre specialità di formaggio – Mozzarella und andere Käsespezialitäten. Er war seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen – genau genommen, seit die Colasanti-Brüder sich entschieden hatten, den Laden ihres Vaters zu verkaufen und die Samenhandlung dichtzumachen.
Rizzi ging zum Hintereingang und zwängte sich an einer Schubkarre und Zementsäcken vorbei. Am Himmel hingen dunkle Wolken, und in der Ferne war ein Gewittergrollen zu hören. Die Tür war nur angelehnt. Auf dem Boden lagen feine Splitter, die aussahen wie Lackfarbe.
»Polizei!« Rizzi klopfte. Und öffnete die Tür.
Im Vorraum standen Gummistiefel, schwarze Halbschuhe und graue Filzpantoffeln. Rechts ging es in den Laden, und neben der Treppe in den oberen Stock lag ein kleiner fensterloser Büroraum. Rizzi öffnete links die Tür, und ein säuerlicher Geruch schlug ihm entgegen, Molke wahrscheinlich. Der Raum, der früher Ernestos Reich für Samen, Pflanzen und Gartenbedarf gewesen war, lag im Halbdunkel und war jetzt eine Käserei, der Boden weiß gekachelt und die Wand bis auf halbe Höhe mit Isolierfarbe gestrichen. Strom- und Wasserleitungen verliefen über Putz, und überall im Raum standen Wannen, Bottiche und Töpfe. Zu sehen war niemand.
»Hallo?«, rief Rizzi. »Ist hier jemand?«
Er ließ seinen Blick über Holzlöffel und Schöpfkellen schweifen. Alles war aufgeräumt und ordentlich. Der Raum hatte etwas Steriles. Nur die Madonna auf dem kleinen Regal über dem Metallschrank, das Foto von Padre Pio und der Krimskrams, den man dort abgelegt hatte, deuteten auf etwas Persönliches hin und befolgten keine Hygieneregeln. Irgendetwas irritierte Rizzi.
»Hallo!«, rief er noch einmal und lauschte in die Stille.
Vielleicht war es der gelbe Gummischlauch, der am Wasserhahn über dem Waschbecken angeschlossen war und nicht, wie alles andere, ordentlich aufgeräumt war. Statt über der Vorrichtung an der Wand zu hängen, wand er sich wie eine Schlange durch den Raum. Rizzi folgte ihm um Wannen und Tische herum und gelangte um die Ecke in einen Anbau mit bodentiefen Fenstern und Blick in einen kleinen Garten.
Der Schlauch endete vor einem Bottich aus Chromstahl. Drum herum war der Boden nass, eine riesige Pfütze. Hatte der Behälter ein Leck? Rizzi schaute sich um. Außer dem Bottich gab es einen Schemel und eine Glastür in den Garten, die einen Spaltbreit offen stand. War der Mann, der sich am Polizeiposten gemeldet hatte, hinausgegangen? Aber was in der Dunkelheit auf den ersten Blick da draußen wie eine gedrungene Gestalt aussah, war bloß eine Palme mit vertrockneten Blättern.
Rizzi holte sein Telefon aus der Hosentasche, um bei Gatti im Polizeiposten anzurufen und den Einsatz abzublasen. Falscher Alarm. Dann war er eben für nichts und wieder nichts die ganze verdammte Strecke nach Anacapri gefahren.
Plötzlich war es in der Käserei ganz hell, nur für einen kurzen Moment, ein Blitz am Himmel vielleicht, der für eine Sekunde durch die Wolken...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2023 |
---|---|
Reihe/Serie | Der Capri-Krimi | Der Capri-Krimi |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Büffelmozzarella • Capri • Capri-Krimi • Delikatessen • Enrico Rizzi und Antonia Cirillo • Familienbetrieb • Golf von Neapel • Mozzarella • Neapel • Tierschutz • vierter Fall |
ISBN-10 | 3-257-61353-9 / 3257613539 |
ISBN-13 | 978-3-257-61353-7 / 9783257613537 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich