Was wir uns versprechen (eBook)
432 Seiten
Forever (Verlag)
978-3-95818-759-7 (ISBN)
Antonia Wesseling, geboren 1999, lebt in Köln. Schon als Kind erfand sie eigene Geschichten und fing später an, Jugendbücher zu veröffentlichen. Neben der Arbeit als Autorin bloggt sie auf Instagram und YouTube (@antoniawesseling) über gute Bücher, ihre Liebe zum Schreiben und mentale Gesundheit.
Antonia Wesseling, 1999 geboren, wohnt mit ihren Katzen in Köln. Schon als Kind erfand sie eigene Geschichten und fing später an, Jugendbücher zu veröffentlichen. Neben der Arbeit als Autorin, bloggt sie auf Instagram (@antoniawesseling) und YouTube (@tonipure) über gute Bücher, ihre Liebe zum Schreiben und mentale Gesundheit.
2. Kapitel
Julian
In der fünften oder sechsten Klasse wurden bei uns in der Schule ständig Freundschaftsbücher herumgereicht. Vorrangig bei den Mädchen, doch auch wir Jungen wurden ab und an um einen Eintrag gebeten. Warum sich diese Erinnerung ausgerechnet jetzt in meinen Kopf drängen muss? Weil ich in dem Moment, in dem ich hinter die Frage »Was willst du später werden?« mit krakeligen Buchstaben »Lehrer« geschrieben habe, mein Schicksal besiegelt habe. Wie hätte ich als Kind auch erahnen können, was es heißt, eine Meute Teenager im Zaun zu halten? Selbst zu Beginn des Studiums hatte ich noch keine Vorstellung davon.
»Haben Sie keinen Unterricht?« Eine Stimme in meinem Rücken lässt mich zusammenzucken. Hastig drehe ich mich um. Es mag absurd klingen, aber für einen kurzen Moment fühle ich mich wie damals zu meinen eigenen Schulzeiten: auf frischer Tat beim Schwänzen ertappt. Mit nur einem klitzekleinen Unterschied …
»Oh, entschuldigen Sie, Herr Rock. Ich habe Sie von hinten gar nicht erkannt.« Die Stimme gehört zu Frau Dietrich. Mathe- und Englischlehrerin in der Unterstufe. Ziemlich tough. Zumindest habe ich mitbekommen, dass sich das unter den Schülern erzählt wird. Gerade wirkt sie eher verlegen, vielleicht auch nur überrascht. So oder so … Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um etwas zu sagen. Mich zu erklären. Beispielsweise, warum ich nicht bei meiner Klasse bin, sondern wie bestellt und nicht abgeholt vor dem Unterrichtsraum stehe und die Wand anstarre.
»Warten Sie hier auf jemanden?«
Habe ich es nicht gesagt? Wie bestellt und nicht abgeholt.
Reflexartig schüttele ich den Kopf und bringe mich dadurch natürlich erst recht in Erklärungsnot.
»N-n-n-nein«, bringe ich über die Lippen und spüre, wie mir augenblicklich die Hitze in die Wangen schießt. Reiß dich zusammen, Julian! Oder willst du es auch noch vor den Kollegen vergeigen?
»Nein?« Aus ihrem Mund klingt alles so viel leichter. Kein Wunder. Sie hat das eine Wort wahrscheinlich gerade mal so viel Anstrengung gekostet wie ein einziger Atemzug.
»Ich …« Gerade als ich zu einem Satz ansetzen möchte, dringt aus dem Klassenzimmer lautes Geschrei. Mein Herz macht einen Satz, und ich fühle mich für einen kurzen Augenblick so, als würde ich mit dem Gesicht direkt gegen eine Fensterscheibe knallen.
»Was ist denn da los?« Frau Dietrich sieht mich irritiert an und schaltet keine zwei Sekunden später in einen anderen, besorgten Modus um. »Sind da Schüler drin?«
Mein Puls schnellt in die Höhe. Ich öffne den Mund, um endlich etwas Vernünftiges zu sagen, ahne jedoch im selben Moment, dass die Blockade eher schlimmer geworden ist. In Stressmomenten habe ich noch nie ein Wort rausbekommen.
Als Frau Dietrich die Tür zum Klassenzimmer aufdrückt und mit entschlossenen Schritten in den Raum stapft, glaube ich kurz, die Demütigung habe nun endgültig ihren Höhepunkt erreicht. Es ist, als hätte jemand von der einen auf die andere Sekunde den Stecker gezogen. Wie bei einer Lampe, die auf einen Schlag in vollkommene Dunkelheit springt. Obwohl ein Lautsprecher hier vielleicht der bessere Vergleich wäre, denn der Ton ist abgedreht. Von hundert auf null. Von »alles scheißegal« auf »hier ist eine Respektsperson anwesend«.
»Kann mir mal bitte jemand erklären, was hier los ist?«, donnert die Stimme der Lehrerin durch das Klassenzimmer.
Ich mache stumm einen Schritt hinter ihr in den Raum und lasse meinen Blick kurz über die Sitzreihen schweifen. Einige Stühle sind umgeworfen, und der Inhalt eines Stiftetuis hat sich auf dem Boden verteilt. Direkt vor dem Pult liegen noch immer die kleinen Papierflieger. Während Frau Dietrich nach Luft schnappt, wandern meine Augen zielstrebig zur Tafel. So, als wüsste ein Teil von mir, dass das Chaos nur ein läppischer Anfang gewesen ist. In Großbuchstaben hat jemand folgende Worte an die Tafel geschrieben: »Was ist lächerlicher als ein Rock, der sein Röckchen vermisst? Nur ein Lehrer, der seine Sprache vergisst.«
Ich warte darauf, dass sich in mir etwas regt. Dass ein Gefühl explodiert. Angst. Wut. Traurigkeit. Scham. Dass ich zu schwitzen beginne, hektisch versuche, die Kreideschrift zu entfernen, oder einfach nur auf der Stelle vor Scham ohnmächtig werde. Doch stattdessen stehe ich wie angewurzelt da und fühle nichts. Absolut nichts außer einer unendlichen Leere.
Es ist still im Raum. Dann dringen dumpfe Stimmen zu mir hinüber. Eine davon muss Frau Dietrich gehören. Vermutlich hat sie den frechen Spruch nun auch entdeckt und erwartet, dass ich etwas sage. Doch ich kann nicht. Nicht, solange ich an diesem Ort bin.
»Niemand bewegt sich aus diesem Zimmer, bevor ich nicht weiß, wer diese Schmiererei zu verantworten hat.«
Wahrscheinlich will sie damit irgendwas besser machen. Vielleicht glaubt sie auch, mir einen Gefallen zu tun. Oder aber sie mag einfach nur nicht so tatenlos rumstehen wie ich. Ich, der Referendar, der die letzten vierzig Minuten die Aufsicht über diese Klasse hatte. Ich, der nur zu gut weiß, wer für diese Kritzeleien verantwortlich ist.
»Also?«, wiederholt Frau Dietrich an die Klasse gewandt und beginnt, abwartend durch die Stuhlreihen zu gehen. Im Klassenzimmer ist es noch immer so mucksmäuschenstill, dass man fast anfangen könnte, Mitgefühl mit den Schülern zu haben. Schnell erinnere ich mich an die Horde wild gewordener Teenager, die ich noch vor wenigen Minuten selbst erlebt habe – bis ich die Flucht ergriffen habe. Man könnte es auf meine Unerfahrenheit schieben. Darauf, dass Teenager wirklich grausam sein können, oder darauf, dass ich aus irgendeinem Grund bisher einfach nur Pech gehabt habe. Mit dem falschen Fuß aufgestanden bin. Oder mit dieser Klasse einen Härtefall erwischt habe …
Ich könnte noch zig solcher Gedanken auflisten. Schließlich habe ich mir jede einzelne Ausrede davon bereits selbst erzählt, um mich nicht dem Offensichtlichen zu stellen.
»Ist Stottern eigentlich ansteckend?«
»Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, uns etwas b-b-b-beibringen zu können? Könnte es nicht sein, dass wir dann am Ende auch st-st-stottern?«
»Wieso heißen Sie eigentlich Rock mit Nachnamen, wenn Sie keine Röcke tragen? Oder ist das nur eine Abkürzung, damit Sie den Namen besser aussprechen können?«
Die Demütigungen sind das eine. Wie eine schmerzhafte Ohrfeige, die zwar noch minutenlang nachglüht, gegen die man sich aber mit der Zeit eine Art Polster zulegen kann. Spätestens dann, wenn man jeden einzelnen dummen Spruch bereits gehört hat.
Schlimmer ist die Arroganz.
Die Gruppe Mädchen, die sich trotz mehrfacher Ermahnung mitten im Unterricht die Nägel lackiert, der vorlaute Kalle aus der letzten Reihe, der die Sache mit den Papierfliegern gestartet und zuletzt die Klassenkameraden aufgestachelt hat, das Spektakel zu filmen. Mit Kalle hat alles begonnen. Es ist, als hätte er meine Angst gerochen und Spaß daran gehabt, die anderen auf mich anzusetzen.
»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer für dieses unterirdische Chaos verantwortlich ist, Herr Rock?«
Ein leises Kichern dringt aus der Ecke der Mädels und erstickt im nächsten Moment, als Frau Dietrich sich zu ihnen umdreht. Ich weiß, dass es nur eine richtige Antwort gibt. Eine Antwort, die Karl Julius, von allen Kalle genannt, in das Büro der Direktorin und mich im besten Fall zurück ans Pult versetzt. Eine Antwort, die Frau Dietrich befriedigen und den Schülern zeigen würde, dass ich bei diesen Spielen nicht mehr lange zusehen werde.
»Ich w-w-weiß n-n-nicht.« Irgendwie schaffen die Worte es, ihren Weg aus meinem Mund zu finden.
Frau Dietrich sieht aus, als koste es sie unheimlich viel Kraft, ein Seufzen zu unterdrücken. Zum Glück ertönt in diesem Moment die Klingel zur Pause, und wenige Sekunden später wird der Flur von lautem Getrampel und Rufen erfüllt.
Ich ertappe mich bei dem Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Schulgebäude zu stürmen.
»Also hat niemand hier etwas zu sagen? Niemand?« Frau Dietrich kehrt zurück zum Pult, klappt die Tafel zu und baut sich mit verschränkten Armen vor der Klasse auf. »Na schön! Wenn ihr meint, dass Feigheit etwas mit kollegialem Zusammenhalt zu tun hat … bitte, dann könnt ihr die Konsequenzen mit Sicherheit ja auch gemeinsam tragen.«
Es ist halb vier, als ich mit zügigen Schritten das Lehrerzimmer verlasse. Mein Unterricht ging heute nur bis zur sechsten Stunde, und obwohl ich genug Gründe gehabt hätte, sofort danach das Schulgebäude zu verlassen, lohnte es sich nicht, schon nach Hause zu fahren.
Um vier bin ich mit den Jungs verabredet, und von der Schule aus ist der Weg zu Tarek kürzer. So konnte ich immerhin die Zeit nutzen, um die Vorbereitungen für die nächsten Stunden abzuschließen.
Ich erreiche die Fahrradständer und verziehe nicht einmal das Gesicht, als ich meinen alten Drahtesel am Lenker vom Boden hochziehe und den Dreck vom Sattel klopfe. Es ist bereits das dritte...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2023 |
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Reihe/Serie | Light in the Dark | Light in the Dark |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | authentisch • Buchbloggerin • Deutsche Autorin • Emotionen • Gegensätze • Junge Erwachsene • Junge Leser • Köln • Liebesgeschichte • Liebesroman • Mental Health • New Adult • own voices • Panikattacke • Romance • romantisch • Stottern • Therapie • toxische Beziehung • Verlust |
ISBN-10 | 3-95818-759-5 / 3958187595 |
ISBN-13 | 978-3-95818-759-7 / 9783958187597 |
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