Arno Schmidt (eBook)
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01774-0 (ISBN)
Wolfgang Martynkewicz, Dr. phil., Jahrgang 1955, freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse. Er schrieb auch die Monographien über Jane Austen und Edgar Allan Poe. Zuletzt erschien sein Buch: »Das Café der trunkenen Philosophen. Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten» (2022).
Wolfgang Martynkewicz, Dr. phil., Jahrgang 1955, freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse. Er schrieb auch die Monographien über Jane Austen und Edgar Allan Poe. Zuletzt erschien sein Buch: »Das Café der trunkenen Philosophen. Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten» (2022).
Die Prägung
Geschichte und Vorgeschichte
Am 18. Januar 1914, einem Sonntag, kommt Arno Schmidt in Hamburg-Hamm zur Welt. Es ist ein kalter Wintertag. Von Russland bis zum Atlantischen Ozean herrscht zumeist eisiges Frostwetter, selbst Frankreich hat, wie es im Wetterbericht der Deutschen Seewarte heißt, «weit verbreitet strenge Kälte»[1]. Während im Süden Deutschlands die Temperaturen bis auf minus 9 Grad und im Osten bis auf minus 14 Grad sinken, hat sich in Hamburg das Hoch bereits abgeschwächt, bei bedecktem Himmel und einem Nordostwind der Stärke 2 werden Temperaturen um den Gefrierpunkt und ein fallender Luftdruck von 760,7 mm Hg gemessen.[2]
Für Schmidt, der als Erwachsener Hochdruck nicht verträgt und auf dessen Schreibtisch stets Barometer und Thermometer stehen werden, der in seinen Tagebüchern von sechs Zeilen zwei dem Wetter einräumt und sehr komplizierte Arbeiten[3] nur bei fallendem Luftdruck unter 1000 mbar anfängt, ein ganz passabler Start.
Doch in Hamburg redet in diesen Januartagen des Jahres 1914 kaum einer vom Wetter. Es sind die letzten Monate vor dem ‹großen Krieg›, der lange vorhergesagt und der nicht zuletzt auch von einer kollektiven Mentalität getragen und befördert wurde. Im Juli 1914 entlädt sich diese Mentalität, insbesondere innerhalb der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, in einem Hurra-Patriotismus, der den kommenden Krieg als Volksfest feiert. Am 31. Juli war es dann so weit: Ein Offizier des Regiments Hamburg ritt «an der Spitze eines Zuges Infanterie durch die Straßen der Stadt und verlas auf den öffentlichen Plätzen die kaiserliche Verordnung über die Verhängung des Kriegszustands. Um 11 Uhr abends verbreiteten Extrablätter die Nachricht vom deutschen Ultimatum an Rußland. Einen Tag später, am 1. August gegen 6 Uhr abends, wurde die deutsche Mobilmachung bekannt. Der Krieg war zur Gewißheit geworden.»[4]
Diese eher zufällige Koinzidenz zwischen Geburt und Kriegsbeginn wird für Schmidt zum Kismet seines Lebens. Von hier an datiert er jenes Zu spät![5], das er über seinen Start, ja, über seine ganze Laufbahn verhängt sieht. Schmidt, der schon früh den Drang verspürt, in allem ganz anders werden zu wollen, der von einem Leben als Privatgelehrter und Schriftsteller träumt, ist im Grunde zeit seines Lebens ein Mensch, der an einen Determinismus glaubt, das heißt daran, daß die Zukunft genau festliegt, jede Einzelheit[6].
Zeugung und Geburt sind für ihn willkürliche Daten, die Vorgeschichte aber, mit der der Mensch auf die Welt kommt, empfindet er als restriktive Wahrheit oder, mit einem vielleicht etwas pathetischen Begriff, als Schicksal, das für ihn jenes Ensemble von Möglichkeiten bezeichnet, an das alle seine Entwürfe gebunden sind. Es gibt Menschen, die sich außerhalb ihrer Geschichte stellen und mit jenem Kind, das sie gewesen sind, nichts mehr zu tun haben wollen. Schmidt hängt jedoch, wie es Sigmund Freud von den Neurotikern sagt, «affektvoll»[7] an den Erinnerungen seiner Kindheit; er kommt von der Vergangenheit nicht los und wird im Fortschreiten der Zeit von ihr festgehalten, besser gesagt, bestimmte Anteile seiner Persönlichkeit werden festgehalten und an einer Schwelle arretiert, die er sein ganzes Leben nicht überschreitet. Hans Wollschläger spricht vom «Angewurzeltsein des Fliehenden»[8]. Aber ist Schmidt wirklich ein Fliehender, ein Mensch, der vom Wunsch des Entkommens beseelt ist? Oder trifft diese Metapher nicht vielmehr nur die imaginäre Seite seines Lebens, die er im Werk darzustellen und in seinen Figuren zu verkörpern versucht? Sehen wir uns, um diese Frage zu beantworten, die Vorgeschichte etwas genauer an.
Sein Vater, Friedrich Otto Schmidt, ist zur Zeit von Arnos Geburt Polizist in Hamburg. Er ist im Dezember 1911 von Schlesien kommend an die Alster gezogen. Drei Monate später, am 18. März 1912, hat er in Lauban geheiratet und seine Frau und seine einjährige Tochter Luzie mit nach Hamburg genommen. Seiner schlesischen Heimat trauert er nicht nach; mit Stolz zeigt er sein Leben lang den 1915 erworbenen Hamburger Bürgerbrief vor. Er möchte sich hier integrieren, einen Platz finden und endlich in geordneten Verhältnissen leben. So macht er sich zum Polizisten, zum Familienvater, zum Kleingärtner. Das sind die Rollen, die ihm das Leben anbietet, er wird sie aus dem einzigen Grund zu spielen versuchen, weil er hofft, so seinem Leben Sinn zu verleihen. In Wirklichkeit spürt er in jeder Lebenssituation eine Distanz. Arno Schmidt wird ihn später egoistisch[9] nennen, und er unterscheidet sich in diesem Urteil nicht sehr von dem seiner Mutter, die in ihm einen Mann sieht, der keine Opfer bringen konnte.
In Halbau (Schlesien) ist er als uneheliches Kind 1883 zur Welt gekommen. Der Vater setzte sich kurz vor seiner Geburt in die USA ab. So wächst er die ersten sechs Jahre bei den Großeltern auf. 1889 heiratet die Mutter und holt ihn nach Berlin-Weißensee. Die Verhältnisse sind ärmlich; der Stiefvater kann der Familie keinen Halt geben. Die Erinnerung an ihn ist vage und widersprüchlich: Arno Schmidt hält ihn für einen Metallarbeiter[10], seine Mutter für einen «Zigarrenmacher»[11], später entpuppt er sich als ein gebildeter Mann[12], der seinem Enkelkind, Arnos Schwester Luzie, Homers «Odyssee» schenkt.
Bis zur Konfirmation bleibt Otto Schmidt in Berlin-Weißensee, dann kehrt er zurück nach Halbau und lernt bei seinem Onkel das Glasschleiferhandwerk. Doch dabei hält es ihn nicht lange, er entscheidet sich für eine Karriere als Berufssoldat. Von 1904 bis 1906 ist er im Grenadierregiment Frankfurt/Oder stationiert, dann stach ihn, wie Arno Schmidt später schreibt, der Hafer[13], er meldet sich zum Kolonialdienst im Ostasiendetachment und geht für zweieinviertel Jahre, bis zum 12. August 1909, nach China. Es werden die Jahre seines Lebens sein, die Otto Schmidt am stärksten beeindruckt, ja fasziniert haben. Aus diesem Zeitabschnitt stammt jene Seite des Vaters, die selbst in dem maßlos überzeichneten Bild des Sohnes noch Sympathien ausdrückt: der Vater, so schreibt Arno Schmidt in einer frühen Erzählung, der sehr viel zauberhafte Dinge wußte, von feuerspeienden Bergen, von Chinesen und von Sternen[14].
Abenteuer sind begrenzt, auch dieses; und Abenteuer sollen, folgt man dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, nur dazu dienen, damit man sich hinterher wieder besser auf das bürgerliche Leben einlassen kann.[15] Ist das hier der Fall? Äußerlich ja, innerlich aber bleibt Otto Schmidt mit sich und der Welt im Widerspruch.
Er kommt zurück nach Schlesien, wird Grenadier in Lauban, später Sergeant. Hier lernt er auch seine Frau, Clara Ehrentraut, kennen; es kommt zu einer ungewollten Schwangerschaft. Als Folge davon wird am 18. März 1911 Luzie, Arnos Schwester, in Lauban geboren. Nach langem Hin und Her heiraten sie genau ein Jahr später. Damit hat er seine, wie Arno Schmidt sagt, desparate Jugend[16] hinter sich gelassen: eine Versorgungslaufbahn als Polizist, eine Familie, eine Mietwohnung und einen gepachteten Kleingarten, darauf gründet sich jetzt seine Existenz.
Doch Otto Schmidt spürt irgendwann, dass er keine Zukunft hat. Was ihm winkt, sind routinemäßige Beförderungen, Auszeichnungen, seine Pensionierung und der Tod. Diesen Zyklus vor Augen, beginnt er zu fliehen. Immer häufiger redet er jetzt von seinen China-Erlebnissen, träumt er davon, zurückzukehren und ein neues Leben zu beginnen. Ich weiß noch genau, schreibt Arno Schmidt, wie mein Vater immer erregter & wilder aufs Auswandern wurde.[17] Aber die Pläne scheiterten.
Da er als Polizist nicht zum Kriegsdienst eingezogen wird, meldet er sich nach dem Krieg, 1919, zum Einsatz im Baltikum. Er kehrt zurück, und schon nach kurzer Zeit hat er diesen absurden Zyklus wieder vor Augen; nun wird er disziplinlos gegen Vorgesetzte. Er beginnt seine Uniform, «das ewige Männchen machen, und bei jeder Gelegenheit stramm stehen»[18], zu hassen. Als er einmal die Ehrenbezeigung gegenüber einem Vorgesetzten unterlässt, wird er strafversetzt, man schiebt ihn nun von Polizeiwache zu Polizeiwache. Seine Pflichten als Familienvater und Ehemann nimmt er kaum mehr wahr; mit seiner Frau entzweit er sich, es kommt immer häufiger zu Verhältnissen mit anderen Frauen. Seine – von allen Familienmitgliedern lebhaft erinnerte – «kerzengerade Haltung»[19] ist nur noch Fassade, schon längst ist er ins Taumeln geraten und von einer Krankheit gezeichnet. Am 8. September 1928 stirbt er an einer Herzkrankheit. Mein Vater – leicht sei ihm, dem Schlesier, die hanseatische Erde[20], ruft Arno Schmidt ihm später nach. Doch aufrichtig ist das nicht gemeint, eher mit beißender Ironie gesagt, von einem, der sich durch seine Kindheit zeit seines Lebens aufs Äußerste verletzt fühlte.
Schmidts Mutter, Clara Ehrentraut, ist, als sie die Ehe eingeht, gerade achtzehn Jahre alt, ihr Mann schon fast dreißig. Sie wird aufgrund dieses Altersunterschieds das Gefühl nicht los, mehr...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Bargfeld • Bargfelder Bote • Deutschland • Hans Wollschläger • Karl May • Literatur • Monografie • Übersetzer • Zettels Traum |
ISBN-10 | 3-644-01774-3 / 3644017743 |
ISBN-13 | 978-3-644-01774-0 / 9783644017740 |
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