Die Bäume (eBook)
368 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27692-5 (ISBN)
USA, Anfang des 21. Jahrhunderts: Im Städtchen Money in den Südstaaten werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen. Zwei afroamerikanische Detektive ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detektive des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money. Eine atemberaubende Mischung aus Parodie und Hardboiled-Thriller, wie es sie bislang in der amerikanischen Literatur nicht gegeben hat.
Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als zwanzig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN USA 2006 Literary Award und dem Academy Award for Literature der American Academy of Arts and Letters. Auf Deutsch erschienen bislang 'Ausradiert' (2008), 'God's Country' (2014) und 'Ich bin Nicht Sidney Poitier' (2014). Bei Hanser erschien zuletzt Erschütterung (Roman, 2022).
1
Money, Mississippi, sieht genau so aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas leicht Trauriges, wird zum Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen.
Knapp außerhalb von Money gab es etwas, was man sehr vereinfacht als Vorort, vielleicht sogar als Wohnviertel hätte betrachten können, eine gar nicht mal so kleine Ansammlung vinylverkleideter, Split-Level-Ranch- und Schuhkarton-Häuser, die inoffiziell Small Change hieß. In einem der verdorrenden Gärten fand um die ausfransenden Ränder eines mit verblassten Meerjungfrauen verzierten Aufstellpools ein kleines Familientreffen statt. Keine Feier, sondern ein gewöhnliches Treffen.
Hier lebten Wheat Bryant und seine Frau Charlene. Wheat war zurzeit arbeitslos, war ständig und immer zurzeit arbeitslos. Charlene wies oft und gern darauf hin, dass das Wort zurzeit ein Davor und ein Danach voraussetzte und dass Wheat in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Job gehabt habe, von einem Zurzeit also keine Rede sein könne. Charlene arbeitete als Empfangsdame bei der Money Tractor Exchange J. Edgar Price Eigentümer (der offizielle Firmenname, ohne Kommas) für Verkauf und Kundendienst, obwohl die Firma in letzter Zeit nicht viele Traktoren verkauft oder auch nur repariert hatte. In und um Money waren die Zeiten hart. Charlene trug stets ein gelbes Trägertop von der gleichen Farbe wie ihr gefärbtes und toupiertes Haar, und zwar, weil das Wheat wütend machte. Wheat trank eine Dose Falstaff-Bier nach der anderen, qualmte eine Virginia Slims nach der anderen — was ihn, wie er behauptete, zu einem von diesen Feministen machte — und erzählte seinen Kindern, das Bier sei nötig, um seinen dicken Bauch richtig in Form zu halten, und die Kippen seien wichtig für einen regelmäßigen Stuhlgang.
Wenn sich Wheats Mutter — Granny Carolyn oder Granny C — im Freien aufhielt, fuhr sie in einem dieser elektrischen Breitreifen-Wägelchen vom Sam’s Club herum. Es glich nicht einfach den Wägelchen von Sam’s Club, sondern war vielmehr dauerhaft vom Sam’s Club in Greenwood ausgeliehen. Es war rot und trug in weißen Buchstaben die Aufschrift am’s Clu. Der fleißige Elektromotor gab ein ständiges lautes Surren von sich, was jedes Gespräch mit der alten Frau zu einer ziemlichen Herausforderung machte.
Granny C wirkte immer ein bisschen traurig. Und warum auch nicht? Wheat war ihr Sohn. Charlene hasste die Frau fast ebenso sehr, wie sie Wheat hasste, aber sie zeigte es nie; Granny C war eine alte Frau, und im Süden respektiert man ältere Menschen. Ihre vier Enkelkinder, drei bis zehn Jahre alt, ähnelten einander überhaupt nicht, konnten aber unmöglich an irgendeinen anderen Ort oder zu irgendeiner anderen Familie gehören. Sie nannten ihren Vater beim Vornamen, und ihre Mutter nannten sie Hot Mama Yeller, das CB-Funk-Rufzeichen, das Charlene verwendete, wenn sie spätabends, nachdem die anderen schlafen gegangen waren, und gelegentlich auch beim Kochen mit Truckern plauderte.
Das CB-Geplauder machte Wheat wütend, teils weil es ihn an den einzigen Job erinnerte, den er einmal gehabt hatte: als Fahrer eines Sattelschleppers voller Obst und Gemüse für Piggly Wiggly, die Lebensmittelmarktkette. Diesen Job hatte er verloren, als er am Steuer einschlief und seinen Laster von der Tallahatchie Bridge fuhr. Nicht komplett, denn das Führerhaus baumelte stundenlang über dem Little Tallahatchie River, bis man ihn rettete. Er brachte sich in Sicherheit, indem er in die Schaufel eines Baggers kletterte, den man aus Leflore herangeschafft hatte. Er hätte seinen Job vielleicht sogar behalten, wäre der Laster nicht hängengeblieben, sondern einfach rasch und mit undramatischer Direktheit von der Brücke in den schlammigen Fluss gestürzt. So aber hatte die Geschichte reichlich Zeit, sich hochzuschaukeln, auf CNN, Fox und YouTube zu laufen, alle zwölf Minuten wiederholt zu werden und viral zu gehen. Der absolute Wahnsinn war der Clip, der zeigte, wie etwa vierzig leere Dosen Falstaff-Bier aus dem Führerstand herausfielen und in die Strömung unten hagelten. Selbst das wäre nicht so schlimm gewesen, hätte Wheat nicht mit seiner fetten Pranke eine Dose umklammert, als er sich zwischen den Zähnen der Baggerschaufel hindurchzwängte.
Bei dem Familientreffen ebenfalls anwesend war der Jüngste von Granny Cs Bruder, Junior. Sein Vater, J. W. Milam, wurde Junior genannt, also war sein Sohn Junior Junior, niemals J. Junior, niemals Junior J., niemals J. J., sondern Junior Junior. Der Ältere, den man nach der Geburt seines Sohnes einfach Just Junior nannte, war vor etwa zehn Jahren »am Krebs« gestorben, wie Granny C das genannt hatte. Er verschied knapp einen Monat nach Roy, ihrem Mann und Wheats Daddy. Irgendwie hielt sie es für wichtig, dass sie beide an der gleichen Krankheit gestorben waren.
»Granny C, ist dir nicht heiß mit dem dämlichen Hut?«, brüllte Charlene die alte Frau über dem Surren des Wägelchens an.
»Wie bitte?«
»Der Hut ist ja noch nicht mal aus Stroh. Eher so was wie ein Kunststoffdeckel. Und Luftlöcher hat er auch keine.«
»Was?«
»Sie kann dich nicht hören, Hot Mama Yeller«, sagte ihre Zehnjährige. »Sie hört überhaupt nichts. Sie ist stocktaub.«
»Verdammt, Lulabelle, das weiß ich doch. Aber du kannst nicht sagen, ich hätte sie wegen dem Hut nicht gewarnt, wenn sie plötzlich einen Hitzschlag kriegt und umkippt.« Wieder schaute sie auf Granny C herab. »Und in dem Apparat, in dem sie da rumgurkt, wird es auch ganz heiß. Davon wird dir noch heißer!«, schrie sie die Frau an. »Wie überlebt sie das bloß? Das würde ich gern mal wissen.«
»Lass meine Mama zufrieden«, sagte Wheat mit einem angedeuteten Lachen. Jedenfalls hätte es eins sein können. Wer wusste das schon? Sein Mund war zu einem dauerhaften schiefen Grinsen verzerrt. Viele glaubten, er habe vor Monaten beim Rippchenessen einen leichten Schlaganfall erlitten.
»Sie trägt schon wieder diesen dämlichen warmen Hut«, sagte Charlene. »Davon wird ihr noch schlecht.«
»Na und? Das macht ihr nichts. Was zum Geier geht dich das überhaupt an?«, sagte Wheat.
Junior Junior schraubte den Deckel wieder auf seine in einer Papiertüte steckende Flasche und sagte. »Sag mal, warum habt ihr eigentlich kein Wasser in dem Pool?«
»Das verdammte Ding leckt«, sagte Wheat. »Mavis Dill ist mit ihrem fetten Arsch dagegengeknallt, da hat die Wand einen Riss gekriegt. Dabei wollte sie noch nicht mal baden, ist einfach dran vorbeigegangen und dagegengeknallt.«
»Wie hat sie das denn hingekriegt?«
»Sie ist einfach fett, Junior Junior«, sagte Charlene. »Die Last kriegt das Übergewicht und kippt in die entsprechende Richtung. Schwerkraft. Wheat kann dir alles drüber erzählen. Stimmt’s, Wheat? Mit Schwerkraft kennst du dich aus.«
»Leck mich«, sagte Wheat.
»Solche Wörter dulde ich nicht vor meinen Enkeln«, sagte Granny C.
»Und wie zum Geier hat sie das jetzt gehört?«, sagte Charlene. »Schreie hört sie nicht, aber das hört sie.«
»Ich höre genug«, sagte die alte Frau. »Höre ich etwa nicht genug, Lulabelle?«
»Klaro«, sagte das Mädchen. Sie war ihrer Großmutter auf den Schoß geklettert. »Du hörst so ziemlich alles. Stimmt’s, Granny C? Du bist zwar schon so gut wie tot, aber hören tust du einfach prima. Stimmt’s, Granny C?«
»Na sicher, Püppchen.«
»Was wollt ihr denn jetzt mit dem Pool anfangen?«, fragte Junior Junior.
»Wieso?«, fragte Wheat. »Willst du ihn kaufen? Von mir aus kannst du ihn haben. Mach mir ein Angebot.«
»Ich könnte in dem Ding ein paar Schweine halten. Einfach den Boden rausschneiden und die Schweine reinstellen.«
»Nimm ihn mit«,...
Erscheint lt. Verlag | 20.2.2023 |
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Übersetzer | Nikolaus Stingl |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | THE TREES |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Afroamerikaner • Booker Prize • Detektive • Django Unchained • Emmett Till • Ermittlungen • Fünfziger Jahre • Gegenwart • Hardboiled • Leiche • Lynchmobs • Mordserie • Parodie • Rache • Rednecks • Südstaaten • Tarantino • Thriller • US-amerikanisch • Weiße |
ISBN-10 | 3-446-27692-0 / 3446276920 |
ISBN-13 | 978-3-446-27692-5 / 9783446276925 |
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