Lapvona (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023
336 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27827-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lapvona - Ottessa Moshfegh
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'Lapvona' - Ottessa Moshfeghs Roman über menschliche Monstrosität, Ungleichheit, Korruption und Tyrannei. 'Was für ein grauenvolles Meisterwerk!' (Theresia Enzensberger)
Es riecht nach Kot und Verwesung, nach Blut, Vieh und Schlamm - das ist Lapvona, der gottverlassenste Ort der Romanwelt. Hier ist niemand vom Glück begünstigt, am wenigsten Marek, der missgestaltete Sohn des Schafhirten. Doch sein Elend birgt auch eine große Kraft: baldige Nähe zu Gott durch Entsagung und Erniedrigung. Als er von Villiam, dem irren Landvogt, aufs Schloss berufen und als neuer Fürstensohn eingeführt wird, glaubt Marek sich zu Höherem erkoren. Denn noch ahnt er nicht, wie grausam nicht nur die Not, sondern auch die Sättigung den Menschen macht. In ihrem neuesten Meisterwerk entwirft Ottessa Moshfegh ein höllisches Panoptikum menschlicher Monstrosität und trifft in der grotesken Darstellung von Ungleichheit, Korruption und Tyrannei den Nerv unserer Zeit erschreckend genau.

Ottessa Moshfegh wurde in Boston geboren und ist kroatisch-persischer Abstammung. Für ihre Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem PEN/Hemingway Award. Zuletzt erschien von ihr der Roman Der Tod in ihren Händen (2021). Ottessa Moshfegh lebt im Süden Kaliforniens. Lapvona ist ihr zweiter Roman bei Hanser Berlin.

Zu Ostern waren die Räuber wieder da. Dieses Mal töteten sie zwei Männer, drei Frauen und zwei kleine Kinder. Dem Schmied wurde Werkzeug gestohlen, aber kein Gold oder Silber, denn er hatte keins. Die Mutter der erschlagenen Kinder attackierte einen der Eindringlinge — sie spaltete ihm den linken Fuß mit der Axt. Die Nachbarn überwältigten den Räuber und schleppten ihn auf den Marktplatz, wo er verprügelt und an den Pranger gestellt wurde. Bis Einbruch der Nacht bewarfen ihn die Dorfbewohner mit Tierkot und Schlamm. Grigor, der Großvater der toten Kinder, konnte vor lauter Trauer nicht schlafen, also stand er mitten in der Nacht auf, ging mit einem Gartenmesser zum Marktplatz, schnitt dem Räuber das Ohr ab und warf es in einen der üppig blühenden Zitronenbäume. »Sollen es die Vögel fressen!«, schrie Grigor dem blutenden Mann ins Gesicht und humpelte schluchzend davon. Welche Gräueltaten der am Pranger stehende Räuber genau begangen hatte, konnte niemand sagen. Die restlichen Räuber waren geflüchtet und hatten sechs Gänse, vier Ziegen, sechs Käseräder und ein Fass Honig mitgenommen, zusätzlich zum Schmiedewerkzeug.

Lämmer wurden keine gestohlen, da der Lammhirte, Jude, auf einer Weide mehrere Kilometer von der Dorfmitte entfernt lebte und seine Lämmer in dieser Nacht wie immer sicher in ihrem Pferch schliefen. Die Weide lag am Fuß eines Hügels, auf dessen Kuppe Villiam, Lapvonas Fürst und Landvogt, in einem Schloss aus Stein residierte. Villiams Wachen standen bereit, ihn zu verteidigen, sollten je bedrohliche Individuen den Berg erklimmen. Als Jude in jener Nacht wach am Feuer lag, meinte er zwischen den Schreien, die vom Dorf herüberhallten, auch das Sirren der Darmsehnen an den Bögen der Wachen zu hören. Es war kein Zufall, dass Jude und sein Sohn Marek auf der Weide unterhalb des Schlosses lebten. Villiam und Jude waren blutsverwandt, sie hatten einen gemeinsamen Urgroßvater. Jude betrachtete Villiam als seinen Cousin, auch wenn die beiden Männer sich noch nie begegnet waren.

Am Montag ging Marek, dreizehn Jahre alt, ins Dorf, um beim Ausheben der Grube zu helfen, in der die Toten beigesetzt werden sollten. Er wollte behilflich sein, doch als man die Leichen auf dem dichten Gras des Friedhofs aufbahrte und die Männer die Schippen zur Hand nahmen, überlegte er es sich anders. Die Köpfe der Toten waren nur in dünnen Stoff gewickelt. Marek stellte sich vor, ihre Gesichter seien noch lebendig. Als eine sanfte Brise aufkam, sah es aus, als würden die Wimpern den Stoff berühren. Marek sah die Umrisse ihrer Lippen, und sie schienen sich zu bewegen, schienen zu sprechen und ihm zuzuflüstern, er solle sich besser aus dem Staub machen. Die toten Kinder sahen fast niedlich aus, wie steife Holzpuppen. Marek bekreuzigte sich und trat den Rückzug Richtung Dorfstraße an. Die Männer aus dem Dorf brauchten ihn sowieso nicht, sie hoben das Grab mühelos ohne ihn aus. Es scherte niemanden, dass Marek da gewesen und wieder verschwunden war. Für die anderen war er ein streunender Hund, der hin und wieder ins Dorf gelaufen kam. Er war ein Bankert, das wusste jeder.

Marek war klein für sein Alter, missgebildet und verwachsen. Seine Wirbelsäule war in der Mitte so schief, dass die rechte Seite des Brustkorbs aus dem Rumpf herausragte, was dazu führte, dass der rechte Arm halb angewinkelt vor dem Bauch ruhen musste. Der linke Arm hing lose im Schultergelenk. Marek hatte krumme Beine. Auch sein Schädel war missgestaltet, aber den versteckte er unter einer zerlumpten Strickmütze und seinem knallroten Haar, das noch nie gebürstet oder geschnitten worden war. Sein Vater hatte langes, braunes Haar und verurteilte Eitelkeit als Todsünde. In ihrer bescheidenen Hütte auf der Weide gab es keinen Spiegel, für so etwas hätten sie sowieso kein Geld gehabt. Jude war der älteste Junggeselle in Lapvona. Andere Männer nahmen ihre jüngeren Cousinen zur Frau, wenn sie eine brauchten — viele Frauen starben im Kindbett —, oder tauschten in einem Dorf im Norden ein paar Schafe oder Schweine gegen ein großgewachsenes Mädchen und heirateten das.

Jude konnte es nicht ertragen, sein Spiegelbild zu sehen, nicht mal in dem sauberen, eiskalten Bach, der durch das Tal floss, oder im See, in dem er sich ein paar Mal im Jahr badete. Er war außerdem davon überzeugt, dass Marek sich nicht selbst sehen sollte. Er war froh, dass er einen Sohn hatte und nicht eine Tochter, für die wäre die mangelnde Schönheit noch schlimmer gewesen. Marek war hässlich. Und schwach. Ganz und gar nicht wie Jude, dessen Knochen und Muskeln geschmeidig und glatt wie vom Ozean geschmirgelte Klippen waren, selbst wenn seine Haut dreckig und von Lämmermist verschmiert war. Von seinem Vater erfuhr Marek nicht, dass sein Gesicht unmögliche Proportionen hatte: Auf der hohen Stirn des Jungen traten die Adern stark hervor, er hatte eine krumme Kartoffelnase, dünne Lippen und ein Kinn, das übergangslos in einen runzligen, faltigen Hals mündete, an dem die Haut wie ein Vorhang über Kehle und Adamsapfel hing. »Schönheit ist der Schatten des Teufels«, sagte Jude.

Auf dem Rückweg vom Friedhof kam Marek am Pranger vorbei, wo der blutende, stöhnende Räuber in einer Sprache wehklagte, die er nicht kannte. Marek blieb stehen, um ein Gebet für seine Seele zu sprechen. »Gott, vergib ihm«, sagte er laut, aber der Räuber stöhnte weiter. Marek trat zu ihm. Niemand war in der Nähe. Vielleicht hatte der Gestank des Kots in der warmen Frühlingssonne die Leute vertrieben. Oder die anderen waren alle beim Begräbnis der Toten. Marek sah dem Räuber in die Augen. Sie waren grün, genau wie seine eigenen. Aber es waren grausame Augen, fand Marek. Wenn er noch dichter heranging, würde er vielleicht den Teufel in ihnen erkennen. Als er sich näherte, schrie der Räuber wieder laut auf, als ob ausgerechnet Marek ihm helfen könnte. Selbst wenn der Junge stark genug wäre, um den Stock des Prangers anzuheben und dem Räuber bei der Flucht in den Wald zu helfen, würde er das nicht tun. Gott sah zu.

»Gott vergebe dir«, sagte Marek zu dem Räuber.

Er kam noch näher und wagte es, eine Hand auf den Räuberarm zu legen. Marek sah, dass der Fuß des Mannes gebrochen war und schlaff herunterhing, dass sich ein Knochen durchs Fleisch gebohrt hatte und die Haut gelb und runzelig aussah. Der Atem des Mannes ging schnell und rasselnd. Die Fliegen saßen in Schwärmen auf ihm und ließen sich auch nicht von seinem unverständlichen Geschrei verscheuchen. Marek schloss die Augen und betete, bis der Räuber aufhörte zu heulen. Als er die Augen wieder öffnete, spuckte ihm der Räuber ins Gesicht. Marek wusste, dass er nicht wegzucken durfte, weil das seinen Ekel gezeigt hätte und Gott ihn dafür bestrafen würde. Stattdessen beugte er sich herunter und küsste den Räuber auf den Kopf, dann leckte er sich die Lippen, um den salzigen Schweiß des Mannes zu schmecken und das ranzige Fett, das sein rötliches Haar verklebte. Der Räuber krümmte sich und streckte Marek die Zunge heraus. Der machte einen Knicks, wandte sich ab und ging davon. Er war überzeugt, dass der Räuber jetzt nicht mehr vor Schmerzen oder schlechter Laune schrie, sondern im Rausch der Erlösung, auch wenn die Schreie genauso klangen wie vorher.

Marek verließ den Marktplatz und ging seelenruhig von dannen, ein Kitzeln im linken Arm; es war das Gefühl, gut zu sein. Er hatte sich Gottes Gnade erarbeitet, während das restliche Dorf jetzt für seine Beschimpfungen litt und die Toten zur letzten Ruhe bettete, die, im Gegensatz zu den Lebenden, ihren Frieden gefunden hatten.

Am Dorfausgang kam Marek an Villiams Wachen vorbei, die dort die Straße im Auge behielten. Der Junge lächelte und winkte ihnen zu. Sie beachteten ihn nicht. Die Wachen stammten aus dem Norden, waren groß und stark. Nordmänner waren für ihre kaltherzige Art bekannt. Körperlich waren sie den Einheimischen aus Lapvona überlegen, und stände ihnen der Sinn danach, könnten sie das Dorf in Schutt und Asche legen, Villiams Schloss stürmen und ihn mit einem scharfen Ellbogen ins Herz aus dem Weg räumen. Aber sie waren nach vielen Generationen der Leibeigenschaft so abgerichtet, dass sie Villiams Befehle fraglos befolgten, als gehörten sie ihm. Tatsächlich waren sie sein Eigentum, ebenso wie ihm alle Bediensteten im Schloss gehörten, das ganze Dorf und die Wälder und Bauernhöfe, die im Lehnsgut verstreut lagen. Villiam war der Besitzer von Judes Weideland und der kleinen Hütte, in der Jude und Marek wohnten. Das Weideland war umgeben...

Erscheint lt. Verlag 23.1.2023
Übersetzer Anke Caroline Burger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel LAPVONA
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Allegorie • Armut • Der Tod in ihren Händen • Despot • Dürre • Dystopie • Ekel • Flut • Gewalt • Gott • Größenwahn • grotesk • Hierarchie • Hirte • Historischer Roman • Hungersnot • Kannibalismus • Klimawandel • Körper • Korruption • Mein Jahr der Ruhe und Entspannung • Misstrauen • Mittelalter • Nihilismus • Perversion • Sadismus • Schloss • Ungleichheit • Unorthodox • Vaterschaft
ISBN-10 3-446-27827-3 / 3446278273
ISBN-13 978-3-446-27827-1 / 9783446278271
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