Die Erinnerung nicht vergessen (eBook)
192 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27813-4 (ISBN)
Private Aufzeichnungen, biografische Erinnerungen, politische Reflexionen: Ljudmila Ulitzkaja setzt ihre autobiografische Prosa nach 'Die Kehrseite des Himmels' in die Gegenwart fort. Persönliche Notizen über ihre Familie, über Herkunft und Glauben, über den eigenen Körper und seine Narben stehen neben den drängenden Fragen zur politischen und ökologischen Situation. Im Frühjahr 2022, kurz nach Putins Überfall auf die Ukraine, zog Ulitzkaja aus Moskau nach Berlin. Das Verbot von 'Memorial' beschäftigt sie ebenso wie das Verhältnis von Individuum und Staat im Totalitarismus. Ein offenes, ehrliches und kompromissloses Plädoyer für eine bessere Erinnerungskultur, das die Autorin selbst mit Leben füllt.
Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021), Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022) und zuletzt Die Erinnerung nicht vergessen (2023). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2020 den Siegfried Lenz Preis sowie 2023 den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und den Günter-Grass-Preis.
"Die regimekritische russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja schreibt in ihrem aktuellen Buch vom Leben zu Sowjet-Zeiten und danach. Und mahnt dabei eindringlich, nicht zu vergessen, was geschah und geschieht." Harald Loch, Augsburger Allgemeine, 20.01.23
Mein Name
Heute Nacht der Entschluss — ohne Punkt und Komma zu schreiben … aber das kann man nicht lernen dazu muss man etwas verlernen —
und keine Chronologie … die ist endgültig vorbei — das Leben ist wie ein runder See dessen Ufer alle gleichzeitig zu sehen sind oder wie eine Kugel die ihre Flugbahn fast vollendet hat und nun abwärts fliegt immer weiter und dann — bumm! — explodiert
ich also — was für eine Ljussja was für eine Ulitzkaja — ich weiß nicht wer …
in meiner Hand wird ein weißer Stein liegen mit meinem wahren Namen und der aus meinem Pass wird auf einem grauen Stein stehen auf dem deutschen Friedhof wo Mama und Großmutter liegen
einstweilen aber tut es ein beliebiges Pseudonym und dazu ein gemurmeltes nächtliches Gebet
ich bin nicht Ljussja Ulitzkaja das sind fremde Laute kratzig wie Glas
vor allem keine Ljudmila
woher die kommt weiß ich — als ich zur Welt kam schwärmte mein sechzehnjähriger Onkel Vitja für eine Ljudmila ein Mädchen vom Land er brachte diesen zufälligen Namen ins Haus und er wurde mir angehängt
meinen wahren Namen kenne ich nicht
»Jewgenija« blitzte auf in meinem Vatersnamen und dann im Familiennamen meines zweiten Mannes des Vaters meiner Söhne
alles daran ist zufällig wie die Brown’sche Teilchenbewegung …
noch bevor ich mich von meiner geliebten Biologie verabschieden musste
und noch nicht herausgewachsen war aus der larvenartigen Unbewusstheit und noch im Urozean der Reproduktion schwamm — armes Mädchen wie unsinnig und unharmonisch der Körper wächst während die Seele nicht hinterherkommt — verbrachte ich mein halbes Leben im Bann der hartnäckigen und irrigen Idee der unerlässlichen Vermehrung und Fortsetzung des Selbst
erst am Ende des Lebens beginnt das Begreifen welch dunkle Existenz die Ursuppe aus wimmelnden Eizellen und Spermien verheißt — die Biologie mit der ich damals noch verbunden war sagte hartnäckig und entschieden: es ist Zeit, es ist Zeit, es ist Zeit
und schon liegt unter meinen Füßen ein Stück Seidenstoff ein Muster aus einer italienischen Ausstellung
und neben mir steht ein männliches Geschöpf
und ein Geistlicher führt uns um einen kleinen Tisch herum
der kurzzeitig ein Analogion spielt
und diese Prozedur heißt Trauung
und das geschah mit mir mit keiner anderen
und das Stück gemusterten Stoff kann ich noch heute aus der Kommode nehmen und zeigen
damals glaubte ich auf dem gemusterten Stoff zu stehen und um den wackligen Tisch herumzulaufen sei eine notwendige Bedingung fürs Kinderkriegen
damals war ich noch Ljudmila
die Natur hatte nach einem Geschöpf männlichen Geschlechts verlangt zur Fortsetzung der Illusion des eigenen Daseins und nach Erfüllung dieser natürlichen Aufgabe wurden zwei Kinder geboren mit der Reaktionsschnelligkeit des Vaters geistreichem Humor leicht gezierten Lippen beim Lachen und mit einer Hälfte meiner Erbmasse — eigenwillig und selektiv aufgeteilt zwischen meinen Söhnen: der Ältere hat die gute Auffassungsgabe und Zielstrebigkeit bekommen der Jüngere das Künstlerische und die Fähigkeit es frei umzusetzen in seinem Fall in der Musik
nicht auf ewig war dieser Mann — nach zwölf Jahren verließ ich dieses Ägypten feierte die Einsamkeit eine gewisse Schwerelosigkeit der Befreiung
bei null beginnt alles Neue
danach ein neues Lebensmuster
gezeichnet von einem anderen Mann mit starkem unbeugsamem Namen
mit der unbeirrten Hand eines klugen unangestrengten Egozentrikers mit unfehlbarem Auge und dem natürlichen Gleichgewicht eines gesunden jungen Tiers
ohne jeden Zweifel an der eigenen Richtigkeit
manchmal trifft der Name genau und man braucht nicht auf einen anderen wahren zu warten
an stillen Abenden kann ich ein wenig trinken während mein Mann Andrej in seinem Leben bereits genug getrunken und gefeiert hat
jetzt im Alter trinke ich mich manchmal abends in einen angenehmen leichten Rausch nachts schreibe ich Worte auf und er schläft längst hinter der Wand auf dem sauberen Fußboden auf einer Bambusmatte vollkommen in seiner Art in seiner völligen Aufrichtigkeit und Unbekümmertheit so wie er ist er kann und will nichts anderes sein als er selbst und all das liegt in seiner Bewegung von Bleistift-Hand-Schulter-Stein und Papier
das auch ich Tage und Nächte mit Zeichen bedeckte bis die Tastatur das furchteinflößende Weiß des Papiers besiegte
befreit vom Bemühen vom Können von Absichten entsteht das »jetzt genau jetzt nicht gestern und nicht morgen«
das Mädchen das um eine graue Katze weint von der es gewaltsam getrennt wurde
und der Mann der nach Workuta zurückkehrt wie in seine Heimat
der Mann der auf der langen Reise erkennt dass es keine Heimat gibt sondern nur das Fenster aus dem er den ersten Baum sieht und die Leine auf der fadenscheinige Wäsche im Wind trocknet Ärmel und Beine schwingend
und der Körper schläft im Viehwaggon und vergisst wohin und wozu er strebte wovon er träumte
an den Schienenstößen stöhnt der Waggon und eilt ins Ungewisse
Mama verbot mir Großmutter anders zu nennen als Lenotschka so sehr wollte Mama ihre Jugend bewahren … geblieben ist nur noch ein Foto: wir drei sitzen auf einem Sofa mit runder Rückenlehne die noch junge Großmutter meine blutjunge Mutter und ich fünfjährig Großmutter ist ungefähr achtundvierzig viel jünger als ich heute … an der Seite steht eine Lampe weiß aus Porzellan säulenförmig mit lila-rosa Pseudo-Jugendstil-Blumenmuster die jetzt auf mein Kissen leuchtet
Großmutter Lenotschka eine große breitknochige vollbusige Frau mit kurzem Hals stämmigen Beinen und hochgestecktem lockigem Haar … mit einem Hut wie man ihn damals trug
als sie alt war schnitt ich ihr immer die ergrauenden Locken kurz auch Mama schnitt ich die Haare … Locken schneiden ist leicht man sieht nicht wenn die Schere abgerutscht ist
wunderbare Zähne bis ins hohe Alter beim Lachen entblößte sie eine »dichte« Zahnreihe wie Tolstoi es bei Wronski nennt
sie lachte gern besonders wenn ihre ungesund dicke Schwester Sonja sie besuchte die ebenfalls große Zähne hatte aber außerdem noch große dunkelrote Nägel an den dicken Fingern …
Mädchen muss man Geschenke machen
Großmutters Schwester Sonja schenkte mir ein Strickkleid himbeerlila eine unglaubliche Farbe für die ärmlichen Zeiten damals sie hatte es nach dem Krieg von der Rigaer Küste mitgebracht
ich merkte mir das verheißungsvolle Wort Küste
in diesem Kleid umarme ich auf einem im Fotoatelier aufgenommenen Bild eine andere Sonja — meine Urgroßmutter väterlicherseits … auf dem Foto bin ich etwa drei
schade dass es heute kaum noch Fotos auf Papier gibt jeder fotografiert mit dem Smartphone für den Augenblick nicht für die Wand oder ein Fotoalbum es bleibt keine Spur außer in einer Wolke aber dort schauen wir nie hinein
das früheste Familienfoto hängt an der Wand — mein Urgroßvater Issaak Ginsburg ein alter Mann mit Kippa
das bedeutet: selbst wenn er getauft wurde als er in die Kadettenschule aufgenommen wurde ist er nach fünfundzwanzig Jahren Militärdienst im Alter zum Judentum zurückgekehrt
sein Georgskreuz für die Einnahme von Plewna 1878 habe ich im Vorschulalter mit auf den Hof genommen um damit zu prahlen und so verschwand es für immer aus unserem Haus
Jugendfotos von Issaak gibt es nicht kann es nicht geben — damals gab es noch keine Fotoateliers
mit dem Alter geht es bei den Juden immer durcheinander sie wussten nie wie sie einen Jungen eintragen lassen sollten um zwei Jahre älter oder um drei Jahre jünger
es gibt viele Sofias in der Familie außer dieser Ururgroßmutter noch die Mutter meines Großvaters Jakow die in den fünfziger Jahren bei ihrer Tochter Raja in Leningrad lebte — sie aß nie Konfekt sammelte es aber um es ihrem Sohn Jakow meinem Großvater ins Straflager zu schicken ich weiß nicht ob es ihn je erreichte
am Ende ihres Lebens wohnte diese Urgroßmutter in...
Erscheint lt. Verlag | 23.1.2023 |
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Übersetzer | Ganna-Maria Braungardt, Christina Links |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | - |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Autobiografie • Berlin • Emigration • Erinnerungen • Essays • Gedächtniskultur • Kindheit • Memorial • Russland • Tagebuch • Totalitarismus • Ukrainekrieg |
ISBN-10 | 3-446-27813-3 / 3446278133 |
ISBN-13 | 978-3-446-27813-4 / 9783446278134 |
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