Die Verräter (eBook)

(Autor)

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2023
160 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27820-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Verräter - Artur Weigandt
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Artur Weigandt schreibt als Chronist der Heimatlosen über den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Suche nach der eigenen Herkunft und den Krieg in der Ukraine.
Uspenka, ein Plandorf in der weiten Steppe im heutigen Kasachstan, in dem alles parallel zueinander läuft: Straßen, Menschen, Kühe. Alles, was in Uspenka geschah, könnte auch im Rest der UdSSR so geschehen sein: die Repressionen, der Zwang, die Deportationen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion verwaiste Uspenka. Viele Menschen gingen weg und begannen ein neues Leben in der Fremde. Und wurden damit zu Verrätern ihrer Heimat.
Artur Weigandt, selbst in Uspenka geboren, hat einen journalistischen Heimatroman geschrieben, über ein Dorf, das für den Lauf der Geschichte nie eine Rolle spielte, und über die Menschen, in deren Erinnerungen das Dorf weiterlebt. Mit diesen Menschen spricht er, und er folgt den Spuren, die Flucht und Vertreibung in seiner eigenen Familie hinterlassen haben. Nur um am Ende festzustellen, wie sehr der russische Angriff auf die Ukraine seine Identität infrage stellt.

Artur Weigandt wurde 1994 in Uspenka (Kasachstan) geboren. Studierte in Frankfurt am Main Ästhetik, verbrachte aber auch längere Zeit in Prag, Kyjiw und Tbilissi. Er absolvierte eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. 2021 wählte ihn das Medium-Magazin zu den Top-30-bis-30-Journalisten. Journalistische Stationen unter anderem bei F.A.Z., ZEITmagazin, ZEIT und WELT. Bei Hanser Berlin erschien 2023 sein Debüt Die Verräter.

Zombies


»Ilja, du musst dich retten. Nach Kasachstan. Dort bist du fürs Erste sicher. Dann kaufen wir dir Flugtickets nach Deutschland. Die ziehen alle Männer in Russland ein«, sage ich zu meinem Cousin und blicke aus dem Fenster meiner Wohnung in Berlin. Von oben sehe ich ein kleines Kind mit einer blau-gelben Flagge die Straße entlanglaufen und halte meine Tränen zurück.

Doch Ilja hört mir nicht zu. »Ich möchte nicht mehr reden. Wir werden abgehört. Glaube ich.« Mein Cousin legt auf.

Meine Telegram-App wird mit Nachrichten aus Propagandakanälen geflutet. 10.000, 15.000, 24.000 Nachrichten. Ich habe keinen Überblick mehr. Akku tot. Bildschirm schwarz. Die Hände über meinem Gesicht. Auch schwarz.

Ich denke an das Bild, das im Flur meiner Eltern hängt. Es zeigt Ilja mit etwa zehn Jahren in russischer Armee-Uniform. Blonde Haare. Barett. Ein Gewehr in der Hand. Im Hintergrund die russische Flagge. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, wurden alle Kinder in ihren Schulen so abgelichtet, in Uniform und mit Waffe.

Jetzt ist der 19. April. In der Ukraine gibt es Explosionen entlang der Frontlinie. Mykolajiw, Saporischschja, Marjinka, Slowjansk, Kramatorsk und Charkiw werden bombardiert. Russische Truppen stürmen die Asow-Stahlwerke von Mariupol.

Meine Hände fühlen sich wie Gummi an. Sie zerfließen, wenn ich zum Handy greife. Alles wirkt dieser Tage schwer. Am liebsten würde ich nicht aufstehen. Liegen bleiben. Erstarrt. Ausgebrannt.

Auf meinem Schreibtisch stehen drei Tassen voll mit Kippenstummeln. Ich rauche immer mehr. Jedes Mal, wenn sich eine Packung leert, gehe ich eine neue kaufen. Auf dem Weg nach Hause weine ich.

Der Krieg hat Ilja und mich wieder zueinandergebracht, nach zehn Jahren Funkstille. Jeder hatte sein Leben, seinen Alltag. Wir wussten voneinander, so wie Verwandte eben voneinander wissen. Mein Cousin hatte Physik studiert und war gerade auf Jobsuche, als der Krieg anfing. Ich war damit beschäftigt, mich als Journalist über Wasser zu halten und meinen Studienkredit zurückzuzahlen.

Seit Februar 2022 sprechen wir wieder miteinander. Bei jedem Wort, das wir austauschen, schwebt über ihm das große Ungewisse. Jederzeit könnte er in der Ukraine an der Front stehen, als Kanonenfutter für die ukrainische Artillerie. Mich verfolgen Albträume: dass er in den Krieg gegen die Ukraine ziehen muss, gegen das Land, aus dem unser Großvater stammt. Gegen das Land, aus dem viele meiner Freunde hierher nach Deutschland geflohen sind. Wie soll ich diesen Menschen jemals unter die Augen treten? Ich versuche, ihn zu überzeugen. Mit ihm zu sprechen. Er glaubt mir nicht. Er lebt in seiner eigenen Realität. Einer Realität, die durch einen Telefonanruf, eine Telegram-Nachricht aus dem Westen bedroht wird. Auch wenn in ganz Russland Männer eingezogen werden, glaubt er nicht, dass es ihn treffen wird.

»Ich bin Journalist, Ilja. Bitte glaub mir doch. Du musst gehen, solange es noch geht. Ein Freund aus Jekaterinburg ist erst vor kurzem nach Deutschland geflohen. Seine Freunde in Omsk wurden alle eingezogen. Ich würde dich nicht anlügen«, sage ich zu ihm.

Doch er will für alles Beweise, und für die Beweise will er weitere Beweise. Und wenn diese Beweise bewiesen worden sind, dann sind diese Beweise trotzdem Propaganda. Manchmal sagt er: »Die Wahrheit hat immer zwei Seiten.« Eine alte sowjetische Phrase. Die giftige Propaganda, die Putin versprüht, schließt sich fast nahtlos an die sowjetische an.

In Westeuropa nennt sich das »False Balance«, also falsche Ausgewogenheit. Argumente und Belege werden angeführt, die in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Nachweisen stehen. Die Wahrheit ist, dass Russland diesen Krieg begonnen hat. Dass Russland Kriegsverbrechen in der Ukraine begeht. Dass Russen eingezogen und in einen riesigen Fleischwolf geworfen werden, der sich russische Armee nennt.

Durch die Ukraine zieht sich eine Frontlinie, und ich traue mich nicht, diese Linie mit meinem Leben zu vergleichen, aber gleichzeitig zieht sie sich auch durch meine Familie und meine Beziehungen. Meine Partnerin ist Ukrainerin. Ich habe Familie in Belarus, in Russland, in der Ukraine und in Kasachstan. Und wir alle glauben uns gegenseitig nicht.

Ich tippe auf die Profilbilder meiner Verwandtschaft in Russland. Fotos von einem normalen Alltag. Ich sehe Propagandasprüche wie »Russland vorwärts« oder »Slava Rassia«, Heil Russland. Ich rufe meine Mutter an, dann meinen Vater. Beide frage ich, was wir tun können. Von beiden kommt die gleiche Antwort. »Wir können nichts tun. Sie sind in diesem System aufgewachsen. Sie kennen ihre Geschichte. Wir können sie nur warnen.«

Warnungen, denke ich, sind sinnlos. All die Warnungen aus Westeuropa werden bis heute in den Wind geschlagen. Sie bewirken bei meinem Cousin fast hämische Nachrichten. Der Krieg hat den Kontakt vielleicht nicht ganz gekappt, aber er ist wie das kaputte Kabel eines flimmernden und flackernden Fernsehers, bei dem man nicht genau weiß, wo der Bruch entstanden ist.

10.10.2022 16:20

»Wie kommt ihr ohne Lebensmittel zurecht?«

10.10.2022 16:22

»Wir haben Lebensmittel.«

10.10.2022 16:34

»Friert ihr in Deutschland?«

10.10.2022 16:46

»Wir frieren nicht. Es ist alles in Ordnung.«

10.10.2022 16:48

»Ihr lügt doch!«

Würde mein Cousin jetzt an die Front geschickt werden, ich dürfte kein Mitleid mit ihm haben. Mein Cousin, mit dem ich in den kasachischen Sandstraßen gespielt habe, würde zum Feind, zum Gegner werden. Zu einem, der womöglich Kriegsverbrechen begehen würde.

Viele Russen fliehen nach Kasachstan. Verwandte erzählen mir, dass Uspenka plötzlich wieder voller Geflüchteter sei, fast wie zu Gründungszeiten. Dieses Mal suchen die Russen, deren Vorväter so viele Völker dorthin verbannten, Schutz in Kasachstan. Schutz im Land der Verbannten. Ich höre von Fliehenden, die in einem Zug mit Rekruten sitzen. Die einen fliehen vor dem Krieg in die zentralasiatischen Staaten, die anderen ziehen in den Krieg. Für nichts.

Ich rufe meine Mutter an, um sie zu fragen, ob sie ihren Bruder überzeugen konnte, in das Haus meiner Großeltern zu fliehen. »Artur, was soll er denn machen? Er ist gerade ganz im Norden Russlands. Wo soll er hin? Er kommt erst Ende September zurück nach Omsk und von dort aus dann vielleicht nach Uspenka.«

»Mama, wir müssen etwas tun. Hast du mit deinen anderen Geschwistern gesprochen?«

»Wenn sich dein Cousin und dein Onkel weigern zu gehen, dann können wir nichts tun.«

»Wir müssen weiter mit ihnen reden!«

»Artur, es hat keinen Zweck. Sie haben dort ein Leben. Sie werden es nicht aufgeben. Auch nicht auf die Gefahr hin, eingezogen zu werden.« Meine Mutter klingt fast wütend. »Okay, Mama, Dawai, poka«, sage ich und lege auf.

In den Online-Nachrichten lese ich von deutschen Friedensdemonstrationen. Immer wieder fordern Demonstranten von rechts oder von links Friedensverhandlungen. Frieden würde für meine Familienmitglieder in Russland Einsicht bedeuten. Es wäre eine Einsicht, von der ich nicht glaube, dass sie wirklich existiert. Es würde bedeuten, dass mein Cousin mir irgendwann sagt: »Du hast recht. Wir waren im Unrecht.«

Daran kann ich nicht mehr glauben. Das Verhältnis zwischen mir und ihm wird nie wieder wie vorher sein. Frieden wird es zwischen uns nicht mehr geben. Ich stelle mir vor, wie wir uns in zehn Jahren in Russland begegnen. Wir würden miteinander sprechen. Aber die Politik und der vergangene Krieg würden uns nie wieder so nah sein lassen, wie wir es in Uspenka einmal waren. Wir würden beide wissen, dass wir uns seit dem 24. Februar 2022 voneinander entfernt haben. All die gutgemeinten Worte, die wir uns sagen würden, würden ein Fake sein.

»Fake, alles Fake.« Ich glaube, das ist der meistgebrauchte Ausdruck meiner Verwandten. Egal, was ich ihnen über die Schrecken, die Russland über die Ukraine bringt, erzähle, egal, was ich ihnen an Beweisen...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 90er • Anpassung • Autobiografisch • Deportation • Deutschland • Dorf • Dorfgeschichte • Einwanderung • Eltern • Erinnerung • Familiengeschichte • Fremde • Heimat • Heimatsuche • Integration • Kasachstan • Korruption • Krieg • Memoir • Migration • Osteuropa • politisch • Postsowjetisch • Russland • Russlanddeutsche • sowjetisch • Sowjetunion • Steppe • Ukraine • Verrat
ISBN-10 3-446-27820-6 / 3446278206
ISBN-13 978-3-446-27820-2 / 9783446278202
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