Thomas Mann (eBook)

Werk und Zeit | Die erste umfassende Monographie zum Werk des Nobelpreisträgers
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2022 | 1. Auflage
1552 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77469-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Thomas Mann -  Dieter Borchmeyer
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Mit dieser einzigartigen Monografie legt Dieter Borchmeyer hier eine umfassende Darstellung des dichterischen und essayistischen Werks Thomas Manns vor. Borchmeyer schildert nicht nur die Lebensstationen Manns von Lübeck über München und Pacific Palisades bis nach Zürich, sondern beschreibt das Werk in seiner Totalität, setzt es in Beziehung zu seiner sozialgeschichtlichen, ästhetischen und weltliterarischen Tradition, und erläutert seine Verortung in der geistigen Situation der Zeit.

So spielen die politischen Wandlungen Thomas Manns im Spiegel seiner Erzählungen und Essays vom Kaiserreich über Weimarer Republik und Drittes Reich bis zur Kriegs- und Nachkriegszeit in Europa und Amerika in diesem Buch eine bedeutende Rolle, ja Thomas Mann zeigt sich als politischer Autor par excellence, auch schon zu der Zeit, als er selbst noch wähnte, ein »Unpolitischer« zu sein. Der Autor des Zauberberg, der Joseph-Tetralogie und des Doktor Faustus offenbart sich hier überraschend als Zeitgenosse.



Dieter Borchmeyer, geboren 1941, ist Professor emeritus an der Universit&auml;t Heidelberg, war Pr&auml;sident der Bayerischen Akademie der Sch&ouml;nen K&uuml;nste und lehrt im Rahmen der Stiftungsdozentur &raquo;Heidelberger Vortr&auml;ge zur Kulturtheorie&laquo; weiterhin an der Universit&auml;t Heidelberg. Borchmeyers Arbeitsfeld ist vor allem die deutsche Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert und das Musiktheater mit Monographien zu Goethe, Schiller, Mozart, Wagner und Nietzsche. Zuletzt erschien von ihm <em>Was ist deutsch?</em> (2017).

Vorsatz


Ich verzeihe es Mittelstadt-Advokaten und alten Jungfern, wenn sie ein Kunstwerk nicht losgelöst aus bürgerlichen Beziehungen zu würdigen vermögen. Den Künstler, der dieser männlichen Sachlichkeit unfähig ist, verachte ich. Das wollte gesagt sein.

Vorwort zur ersten Auflage der Buchausgabe von Bilse und ich (1906)

»Il n'y a pas de héros pour son valet de chambre.« Auf dieses Bonmot bezieht Hegel sich einmal in seiner Phänomenologie des Geistes. »Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in der Einzelheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu tun hat.«[1]  Und Hegel verweist auch auf Ottiliens Tagebuch in Goethes Wahlverwandtschaften, wo es heißt: »Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen wissen.«[2] 

Es mag verwunderlich sein, ein Buch, das sich eine – wohl die erste wirklich umfassende – Darstellung des Gesamtwerks von Thomas Mann vorgenommen hat, mit diesen Zitaten zu beginnen. Doch sie artikulieren den Vorsatz des Verfassers, dieses Werk nicht aus der Perspektive des Kammerdieners zu betrachten, sondern von der geschichtlichen Warte aus, die durch das Werk selbst postuliert wird, genauer: durch seine einzigartig intensive Verschränkung mit der Geschichte und Politik, Gesellschaft und Kultur, Literatur und Musik sowie mit dem umstürzenden Mentalitätswandel von einem spätbürgerlich temperierten 19. zum revolutionär erhitzten, totalitär aufgebauschten und kriegerisch mobilisierten 20. Jahrhundert, kurz mit der Zeit in dem umfassenden Sinn, in dem sie so oft Thema der Werke Thomas Manns selber ist. Dieses Buch will keine Biographie sein – mitnichten die Reihe der guten wie schlechten, geistvollen wie trivialen Lebensdarstellungen fortsetzen, wofür kein Bedarf mehr besteht. Biographisch ist Thomas Mann nahezu erschöpfend porträtiert. Es seien nur als positive Musterbeispiele Hermann Kurzkes Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk (1999) und eine repräsentative Einzelstudie genannt, die Leben, Werk und Zeitgeschichte im wichtigsten Abschnitt von Thomas Manns Vita meisterhaft ins rechte Verhältnis setzt: Hans Rudolf Vagets großes Buch Thomas Mann, der Amerikaner (2011).

Es versteht sich von selbst, daß eine hermeneutische Abhandlung wie die vorliegende biographische Bezüge nicht ausspart – sind sie doch für Thomas Manns Werk eine kaum weniger wichtige Quelle als die Dichtung Goethes, die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches oder Wagners Musikdramen. Man sollte diese Quelle indessen nicht nutzen, um eine kurzschlüssige Verbindung zwischen Leben und Werk herzustellen und die fiktive Welt der Romane und Erzählungen nach den Worten von Horst-Jürgen Gerigk »wieder in die empirische Welt zurückzutreiben, aus der sie, schaffenspsychologisch gesehen, tatsächlich hervorgegangen« sind, die sie aber vielfach transformieren und übersteigen. Sie als autobiographische Dokumente zu betrachten, würde – so Gerigk – »eine Blickstarre auslösen, mit der eine adäquate Lektüre unmöglich wird«.[3]  Zu Recht hat deswegen auch Albert von Schirnding in einer scharfen Kritik an der biographistischen Thomas-Mann-Literatur konstatiert: »Erfahrungen des Dichters gehen ins Kunstwerk ein. Dabei handelt es sich aber um eine Einbahnstraße. Es führt kein Weg zurück. Die umgekehrte Richtung, der Rückschluß vom Kunstgebilde auf die Lebensumstände des Dichters, ist Sache des Psychologen […]; mit Literaturverstehen hat es nichts zu tun.«[4]  Diese Einbahnstraße – und mit ihr die Todsünde des Biographismus – zu meiden, ist auch der Vorsatz des vorliegenden Buchs, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Leben um des Werks, nicht das Werk um des Lebens willen auszuloten. Bedeutungsvoll ist Thomas Mann für uns durch das Werk, das er geschaffen hat, und nicht durch sein Künstlerleben, so imposant es in vieler Hinsicht auch war. Selbst wenn wir von ihm nichts wüßten, würde uns sein Werk als von Intellekt, Empathie und Humor gleichermaßen geprägte Darstellung und Reflexion existentieller Grundfragen und erschütternder epochaler Erfahrungen unaufhörlich faszinieren.

Zu den ästhetischen Grundirrtümern der Moderne gehört es, so hat Richard Wagner einmal geäußert, »von den Dichtern anzunehmen, sie müßten erst ihre Dichtungen erleben« (zu Cosima, 22. Januar 1870)[5] . Das gilt ihm zufolge für jeden großen Künstler. In seiner Beethoven-Festschrift von 1870 hat Wagner sich etwa über die Versuche, zwischen der Eroica und Beethovens Beziehung zu Napoleon eine unmittelbare Verbindung herzustellen, lebhaft mokiert. Nichts, aber auch gar nichts lasse sich »für die Beurtheilung eines der wunderbarsten aller Tonwerke« aus jener Beziehung ableiten. »Können wir uns aus ihr auch nur einen Takt dieser Partitur erklären? Muß es uns nicht als reiner Wahnsinn erscheinen, auch nur den Versuch zu einer solchen Erklärung ernstlich zu wagen?«[6]  Mit Hohn und Spott erzählt er in seinem Aufsatz Über das Dichten und Komponieren (1879) von Karl Gutzkow, dem man vorgeworfen habe, »daß er Dichterliebschaften mit Baroninnen und Gräfinnen schildere, die er doch selbst gar nicht erlebt haben dürfte; wogegen dieser durch indiskret verdeckte Andeutungen ähnlicher wirklicher Erlebnisse sich mit Entrüstung vertheidigen zu müssen glaubte«.[7]  Unter Verweis auf Cervantes' Don Quijote konstatiert Wagner: »Das wirklich Erlebte hat zu keiner Zeit einer epischen Erzählung als Stoff dienen können.« Was den wahren Epiker auszeichne – und dafür ist ihm Cervantes das schlechthinnige Vorbild –, sei »das ›zweite Gesicht‹ für das Nieerlebte«.[8] 

Mit der Frage nach dem Verhältnis von Werk und Leben ist ein Problem berührt, das zu thematisieren Thomas Mann selbst schon früh Anlaß sah. In seinem Vorwort zu dem Roman eines Jungverstorbenen (1913) kam er zu dem Befund: »Nicht die Meisterwerke spielend-erfindender Kunst unter den Büchern sind es, die am meisten geliebt, am meisten gelesen werden […]. Heute zumal, wo eine Hochflut neuedierter Memoiren und Briefsammlungen den Markt überschwemmt […], alle primären, direkten und dokumentarischen Veröffentlichungen eines Massenabsatzes sicher sind: scheint es nicht heute, als hätte alles Vertrauen, alle auf das Menschliche gerichtete Wißbegier sich von den Erzeugnissen dichtender Einbildung abgewandt und sich auf solche Bücher geworfen, in denen Menschenschicksal und Leben ohne Fiktion, Intrige und Flausen sich selber vortragen?« (GW X, 55) Und wenn man sich doch den Erzeugnissen dichtender Einbildungskraft zuwendet, sucht man trotzdem immer wieder hinter Fiktionen und Vorspiegelungen das Leben selbst zu identifizieren.

Dagegen hat sich Thomas Mann in seinem klassischen Essay Bilse und ich (1906) mit einer bis heute unverändert gültigen Argumentation gewandt (die auch den Referenztext von Albert von Schirndings Polemik bildet). Er bezieht sich da auf die Versuche, die Figuren seiner Buddenbrooks als wirkliche Personen der Lübecker Gesellschaft zu entschlüsseln. In einem Beleidigungsprozeß gegen Johannes Valentin Dose, den Autor eines Schlüsselromans, hatte der klagende Rechtsanwalt diesen Fall bekanntlich mit dem des ehemaligen Leutnants Oswald Fritz Bilse verglichen, der in seinem Roman Aus einer kleinen Garnison (1903) die Offiziere eines Bataillons in Lothringen porträtiert hatte und deshalb zu Festungshaft verurteilt worden war. Der genannte Rechtsanwalt verglich Doses Schlüsselroman nicht nur mit dem von Bilse, sondern denunzierte auch Buddenbrooks als »Bilse-Roman«. Dagegen erhebt Thomas Mann humoristisch Einspruch. »Wenn man alle Bücher, in denen ein Dichter, ohne von anderen als künstlerischen Rücksichten geleitet worden zu sein, lebende Personen seiner Bekanntschaft porträtiert hat, auf den Namen Leutnant Bilse's taufen wollte, so müßte man ganze Bibliotheken von Werken der Weltliteratur unter diesem Namen versammeln, darunter die allerunsterblichsten.« (GKFA 14.1, 89f.) Als...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
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ISBN-10 3-458-77469-6 / 3458774696
ISBN-13 978-3-458-77469-3 / 9783458774693
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