Die Geschwister (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3275-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Geschwister - Brigitte Reimann
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Die große Neuausgabe eines der meistdiskutierten Bücher der DDR-Literatur.

Das Sensationsbuch erstmals so, wie die Autorin es schrieb.

Dank eines Glücksfundes können wir diesen Roman, der aufgrund seiner verblüffenden Modernität derzeit international für Begeisterung sorgt, in einer ungekürzten, politisch ungeschönten Fassung auch hier neu entdecken.

Ostern 1961 erfährt Elisabeth, dass ihr über alles geliebter Bruder in den Westen gehen will, weil er in der DDR keine Zukunft sieht. Was wird bleiben von ihrer Gemeinsamkeit, wenn jeder seinen Idealen folgt? Wenige Tage hat sie noch Zeit, mit Uli zu reden. 

Die freiherzigere und mutigere, zugleich reifere und klarsichtigere Neuausgabe steht symbolhaft für das viel zu kurze Leben dieser faszinierenden Schriftstellerin, die sich selbst stets treu blieb. 

»Wer etwas über Mut und Hingabe erfahren möchte, muss Reimann lesen. Sie zeigt uns, wie man es krachen lässt, scheitert, wieder aufsteht und neu beginnt. Brigitte Reimann ist eine Ikone - eine Pionierin weiblicher Befreiung!« CAROLIN WÜRFEL.

 

 



Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung, »Die Frau am Pranger« (1956), freie Autorin. Mit »Ankunft im Alltag« (1961) gab sie der »Ankunftsliteratur« ihren Namen. Ihr Roman »Die Geschwister« (1963) über die gerade vollzogene deutsche Teilung war eines der meistdiskutierten Bücher jener Zeit. Mit nur 39 Jahren starb die Autorin in Berlin-Buch an den Folgen einer Krebserkrankung.

Veröffentlichungen: »Ankunft im Alltag« (1961), »Die Geschwister« (1963), »Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise« (1965), »Franziska Linkerhand« (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, »Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973« (1993), mit Hermann Henselmann, »Mit Respekt und Vergnügen« (1994), »Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen« (1995) und mit Irmgard Weinhofen, »Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973« (2003), sowie die Tagebücher »Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963« (1997) und »Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970 (1998); »Ich bedaure nichts. Mein Weg zur Schriftstellerin 1955 bis 1970« (Neuausgabe 2023). Aus dem Nachlass: »Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane« (2003). Zuletzt erschienen »Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern« (2008), »Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe« (2018) und »Katja. Erzählungen über Frauen« (2024).

1


Als ich zur Tür ging, drehte sich alles in mir.

Er sagte: »Das vergesse ich dir nicht.« Er stand gerade und ohne Bewegung mitten im Zimmer, er sagte mit einer kalten, trockenen Stimme: »Das werde ich dir nicht verzeihen.«

Ich fand die Klinke, und draußen im Korridor hielt ich mich eine Weile an der Klinke fest, während ich auf seine Stimme wartete, auf einen Fluch oder darauf, dass er seinen Schuh gegen die Tür warf.

Früher hatte er mit den Schuhen nach mir geworfen, wenn wir uns zankten, oder sogar mit einer Vase, und einmal, als ich ihn auf dem Balkon aussperrte, schlug er mit der Faust in die Glasscheibe. Damals, weit zurück, war er sehr jähzornig, und manchmal fürchtete ich mich vor ihm; jetzt wäre mir sein Jähzorn aber lieber gewesen als diese kalte, trockene Ruhe.

Ein paar Minuten lang blieb ich im Korridor stehen. Durch das offene Fenster sah ich die feuchten Äste des Nussbaums vorm Haus und die krausen Blattspitzen. Im Sommer wölben sich die Zweige dunkelgrün und schwer über die Treppe, und die Blätter ticken ans Fenster, wenn der Wind geht. Heute ist der Dienstag nach Ostern; die Forsythien sind schon verblüht. Morgen wäre Uli abgereist.

Es blieb still im Zimmer, und schließlich ging ich auf Zehenspitzen zur Küche, auf dem roten Kokosläufer – solange ich zurückdenken kann, liegt ein roter Kokosläufer im Korridor, alle vier oder fünf Jahre ein neuer, nur in den Jahren nach dem Krieg war er schäbig und grau und abgetreten. An den Wänden hängen auch immer noch dieselben Drucke, Liebermann und Leibl; die Landschaften van Goghs, die ich meinen Eltern geschenkt habe, liegen in einer Schreibtischschublade unter alten Schulzeugnissen und den säuberlich abgehefteten Briefen und Postkarten, die wir während unserer Studienzeit schrieben.

In der Küche setzte ich mich auf das Schuhschränkchen, und als ich eine Zigarette anzündete, sah ich, wie meine Hände zitterten.

Ich glaube, ich hatte nicht erwartet, dass Uli so reagieren würde, und ich fragte mich, ob ich überhaupt etwas erwartet oder vorausberechnet hatte, als ich heute Morgen zu Joachim hinüberlief, nur über die Straße, über den gepflasterten Hof und die enge, düstere, mit Messingleisten beschlagene Treppe hinauf. Er wohnt schräg gegenüber, in einem hässlichen Mietshaus, das ein kleiner Geschäftsmann hier am Stadtrand gebaut hat, spekulierend darauf, dass die Stadt sich nach dieser Seite hin ausdehnen würde; der Geschäftsmann hatte sich aber geirrt.

Ich fragte mich nun sogar, warum ich zu Joachim hinübergelaufen war, und während ich auf dem niedrigen Schuhschrank saß und rauchte und misstrauisch meine Hände beobachtete, versuchte ich mir darüber klarzuwerden, was ich für Uli empfand, jetzt, ein Viertel nach acht Uhr, in der Küche voll Morgensonne … Die ganze Zeit sah ich sein Gesicht mit dem kräftigen Kinn und mit dicken, schwarzen, flachen Brauenbögen und den hellbraunen Augen, die mit dunkleren Pünktchen wie Rostflecken gesprenkelt sind. Ich bin vierundzwanzig, ein Jahr jünger als er, und durch all die Jahre war mir sein Gesicht nah und vertraut – nur im letzten Jahr, seit den Sommerferien, wenn ich mich recht erinnere, fand ich zuweilen einen Ausdruck von Härte, der mir fremd und quälend unverständlich blieb.

Wenn ich meinen Freunden von ihm erzählte – ach, und sie belächelten meinen zärtlichen Überschwang, ich weiß –, dann sagte ich: Er ist schön, der schönste Junge, den ich kenne. Er ist klug, viel klüger als ich. Er hat sein Abitur mit Auszeichnung gemacht. Er ist der Beste in seiner Seminargruppe. Die Mädchen laufen ihm nach. Er ist stark, ein gewandter Sportler. Er liest viel. Er geht oft ins Konzert. Wir lieben uns.

Sie lachten: Zeig uns mal dein Wunder von einem Bruder.

Uli studierte aber zu der Zeit in R., an der Ostseeküste, und ich besuchte die Kunsthochschule in D., und dazwischen lagen fünfhundert Kilometer Eisenbahnstrecke. Im letzten Jahr prahlte ich nicht mehr so laut mit ihm, ich sagte aber immer noch: Wir lieben uns.

Ich drückte die Zigarette aus. Auf einmal dachte ich, vielleicht liebe ich in Uli nur etwas Vergangenes, halb Vergessenes, Kindheit, die mir die Erinnerung als ein Idyll vorgaukelt, und obgleich ich das Gaukelspiel durchschaue und hundert nüchterne Einwände habe, blicke ich mit einer Art sentimentalen Vergnügens auf den zuckenden Filmstreifen der Erinnerungen, auf diese Folge kolorierter Genrebildchen:

Blühende Kirschbäume im Garten, der Sandkasten, die roten und gelben blechernen Förmchen; eine mit Efeu bewachsene Mauer, an ihrem Fuß zwischen breitblättrigen, violett blühenden Kletterpflanzen sammeln wir Schneckenhäuser im feuchten, schwarzen Mulm; die Laube im Garten eines Spielkameraden, dessen Namen ich vergessen habe, wir hocken im Heu, spröder Duft, wir rauchen getrocknetes Weinlaub in kurzen indianischen Tonpfeifen; der Balkon, Julihitze, ein blau-weiß gestreifter Sonnenschirm, die grünen Blumenkästen überwuchert von Petunien, es ist Mittag, wir warten auf unseren Vater, der mit dem Fahrrad aus seinem Verlag herüberkommt, wir kennen sein Klingelzeichen, wir winken und schreien; eine Zimmerstrecke in der Nachbarschaft, wo roh zusammengeschlagene Loren auf Schienen um den Holzplatz fahren, und es duftet nach frischem Holz, wir spielen Trapper und Indianer und werfen mit Tomahawks; ein Winterabend, meine Mutter, rundlich und schwarzhaarig, sitzt im Korbsessel vor ihrem Nähtischchen und liest Andersens Märchen vor, hinter dem Fenster fällt die Dämmerung, es schneit …

Und immer war Uli dabei. Später konnten wir Andersens Märchen selbst lesen, gemeinsam, auf einer Fußbank dicht aneinandergerückt, und wir sahen die kleine Seejungfrau mit ihrem im Wasser treibenden langen Haar und rosigen Muscheln um den Hals und die chinesische Nachtigall und den Kaiser mit unendlich langen Fingernägeln und einem dünnen gelben Schnurrbart, der ihm bis auf die Brust hängt. Und noch viel später lasen wir »Jimmy Higgins« und weinten, und wir lasen Gladkows »Zement« und das »Siebte Kreuz« und die »Räuber« und Stendhals »Rot und Schwarz« – immer gemeinsam, immer von den gleichen Gedanken, den gleichen Gefühlen bewegt. Und ganz zuletzt, es war im Jahre 1956, stritten wir erbittert über die »Sonnenfinsternis« des Renegaten Koestler, und danach schien es mir zuweilen, als sei Uli nicht wieder aus dem Schatten der Sonnenfinsternis herausgetreten, während ich längst zu Gleb Tschumalow zurückgekehrt war und zu Dascha und Tschibis.

Vom Krieg weiß ich nichts mehr außer dem dumpfen Brummen der Bomberpulks und weißen Scheinwerferbahnen vor dem Nachthimmel. Wir schliefen oft im Keller, Uli und ich auf einer Pritsche, und morgens sammelten wir die Silberpapierstreifen, die von den Amerikanern abgeworfen wurden. Manchmal war der Himmel rot. Zu den Kindergeburtstagen gab es nicht mehr Erdbeeren und Schlagsahne und nicht einmal die ulkigen schokoladebraunen Puddingfische.

Der Kunstverlag, in dem mein Vater arbeitete, wurde als kriegsunwichtiger Betrieb geschlossen. Irgendwann brachten wir Vater zum Bahnhof, meine Mutter weinte. Einmal kam eine Jüdin zu uns, um sich zu verabschieden. Sie trug einen gelben Stern auf dem Mantel und hatte krauses Haar, ganz grau, obgleich sie Mutters ehemalige Schulfreundin und noch jung war. Sie sagte, sie sollte nun auch verschickt werden, und sie stand unten an der Treppe und weinte.

Meine Mutter ist die Tochter eines Schuhfabrikanten, sie verkehrte in den Häusern der reichen jüdischen Familien in unserer Stadt, auch während der Nazizeit, auch als die Fabriken dieser Familien arisiert wurden und als es eine Schande war, in die Wohnung eines Juden zu gehen. Meine Mutter war ganz unpolitisch. Auch mein Vater war unpolitisch, er ging aber nicht mehr zu den jüdischen Bekannten; er verachtete die Nazis und nannte Hitler einen Emporkömmling, jedoch war er ein vorsichtiger Mann und hatte Familie … Das alles habe ich erst lange nach dem Krieg erfahren oder aus Bruchstücken von Gesprächen zusammengesetzt. Wir waren ja noch klein; nur der Älteste, Konrad, trug mittwochs und sonnabends das braune Hemd der Hitlerjugend; er ging dann zum Dienst.

An einem Abend – es muss Anfang 1945 gewesen sein – ist nebenan ein fremder Soldat. Uli äugt durchs Schlüsselloch, er sagt: Bloß Gefreiter. Wir kauern in unseren...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1961 • Ankunftsliteratur • autofiktional • Berlin • BRD • DDR • Deutsche Teilung • Dissidentin • Geschwister • Hoyerswerda • Kalter Krieg • Kapitalismus • Kommunismus • Kritisch • Mauerbau • neue Ausgabe • ostdeutsch • Roman • Schwarze Pumpe • Siegfried Pitschmann • Sozialismus • überarbeitet • Westdeutschland
ISBN-10 3-8412-3275-2 / 3841232752
ISBN-13 978-3-8412-3275-5 / 9783841232755
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