Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen (eBook)
256 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-064-0 (ISBN)
Riku Onda, geboren 1964 in der Präfektur Miyagi, veröffentlichte 1992 ihr Debüt Das sechste Kind. Sie wurde mit dem Yoshikawa Eji Prize und dem Yamamoto Shugoro Prize ausgezeichnet, 2017 erhielt sie den Naoki Prize für Honigbiene und ferner Donner sowie den japanischen Buchhandelspreis. Ihr Werk wurde für Film und Fernsehen adaptiert.
Riku Onda, geboren 1964 in der Präfektur Miyagi, veröffentlichte 1992 ihr Debüt Das sechste Kind. Sie wurde mit dem Yoshikawa Eji Prize und dem Yamamoto Shugoro Prize ausgezeichnet, 2017 erhielt sie den Naoki Prize für Honigbiene und ferner Donner sowie den japanischen Buchhandelspreis. Ihr Werk wurde für Film und Fernsehen adaptiert.
1
Das hier ist, könnte man sagen, die Geschichte eines Fotos.
Natürlich ist es auch die Geschichte um den geheimnisvollen Tod eines Mannes, eine Geschichte über Berge, und nicht zuletzt beschäftigt sie sich auch mit der Trennung eines Paares.
Apropos Foto: Neulich hatte ich ein seltsames Erlebnis.
Ich war in einer Buchhandlung, um die Zeit vor einem Treffen zu überbrücken, und das Bild auf einem Cover zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
Es war ein berühmtes Foto.
Drei junge Männer, förmlich gekleidet, gehen auf einem Trampelpfad durchs Feld. Alle drei schauen über ihre Schultern zurück zum Betrachter.
Der Gesichtsausdruck, mit dem die drei mich anblickten, war schwer zu definieren.
Natürlich sahen sie eigentlich den Fotografen an, aber es schien, als hätte man sie, während sie dort gingen, von hinten gerufen und als blickten sie mich, den Betrachter, direkt an.
Fotos dieser Art wurden Anfang des 20. Jahrhunderts aufgenommen, um Menschen aus allen Klassen und Berufen abzubilden, aber die Blicke dieser drei jungen Bauern, schon längst verstorben, überdauerten die Zeit und durchbohrten mich jetzt noch über ein Jahrhundert später. Das berührte mich ein bisschen, aber das Seltsame an dem Bild war etwas anderes. Als ich es ansah, hatte ich ein heftiges Déjà-vu.
Es war nicht das erste Mal, dass sich mehrere Leute umdrehten, um mich auf genau diese Weise, in genau dieser Haltung anzusehen. Ich war mir dessen sicher, und das beunruhigte mich. Die Gewissheit brachte mich zum Erschaudern.
Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Jetzt muss ich mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt, und auf das Gespräch, das ich gleich führen werde. Denn wie ich schon sagte, es ist auch die Geschichte eines Mannes und einer Frau, die sich trennen.
Das kann ich so genau sagen, weil ich dieser Mann bin und das, was »vor mir liegt«, die besagte Frau.
Heute Abend ist unser letzter gemeinsamer Abend in dieser Wohnung, ehe wir getrennte Wege gehen.
Es ist Frühsommer. Das Fenster steht offen, und ab und zu kommt eine angenehme Brise hereingeweht. Wenn das Fenster nachts offen ist und sich Außen- und Innenluft verwirbeln, entsteht ein seltsam banges Gefühl von Freiheit.
Die Umzugsleute haben bereits die meisten unserer Sachen mitgenommen, und die Wohnung sieht leer und geräumig aus. Wir sitzen uns gegenüber, zwischen uns ihr Koffer, den wir als Tisch benutzen. Wir haben keine Sitzkissen mehr, aber die Tatami-Matten fühlen sich angenehm kühl an.
Natürlich ist das Bettzeug ebenfalls fort, also schlafen wir heute Nacht wohl wie die Sardinen.
Gleich morgen früh kommen Handwerker, um Gas, Wasser und Strom abzustellen. Dann übergeben wir dem Immobilienmakler die Schlüssel, verlassen das Haus, und jeder geht seiner Wege. Das ist jedenfalls der Plan.
In den letzten Tagen waren wir so mit Packen und Organisieren beschäftigt, dass wir keine Zeit für ein richtiges Gespräch hatten. Man denkt immer erst in letzter Minute an alles, was bei einem Umzug zu erledigen ist.
Und man weiß auch nie, wie viel man besitzt, bis man anfängt zu packen. Es ist erstaunlich, wie viel wir in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung wie dieser untergebracht haben. Wir waren in der letzten Woche Tag und Nacht damit beschäftigt, unsere Sachen zu sortieren, sodass wir uns kaum gesehen haben.
Aber ich glaube, wir wussten beide von Anfang an, dass wir uns aussprechen müssen, denn andernfalls könnte niemand mit seinem Leben weitermachen.
Durchs Fliegengitter weht eine angenehme Brise herein. Ein weicher Wind, der der Haut schmeichelt.
Unsere Wohnung liegt an der Ecke eines Gebäudes, das zwischen einem kleinen Fluss und einem Spielplatz steht. Von unseren Zimmern im zweiten Stock blickt man direkt auf den schönen grünen Park. Im Herbst war der Geruch der Süßen Duftblüte so stark, dass man kaum noch schmeckte, was man aß. Aus meinem Zimmer konnte ich auch die Uhr im Park sehen, und wann immer ich wissen musste, wie spät es ist, benutzte ich diese Uhr.
»Ganz schön leer hier«, murmelt sie vor sich hin.
Natürlich sieht es geräumig aus, nun, da nichts mehr im Zimmer steht. Aber eigentlich steht da noch etwas. Obwohl wir beide uns Mühe geben, es zu ignorieren, sticht es wie ein Fremdkörper ins Auge.
An den Wänden und auf den Tatami haben unsere Möbel geisterhafte Spuren hinterlassen, nicht mehr als Schatten, und alle Lampen sind schon fort, sodass von der Decke nur eine einsame Glühbirne hängt. Aber sie erfüllt ihren Zweck.
Beide beginnen wir, das Festmahl vorzubereiten. Sie hat Essen gekauft und ich Getränke.
Nachdem die Lastwagen mit unseren Habseligkeiten um die Ecke verschwunden waren, sind wir für den letzten Abend einkaufen gegangen. Ohne uns deswegen abzusprechen, jeder für sich statt zusammen.
Wir kennen die Vorlieben des anderen. Ich habe eine Flasche ihres vollmundigen Lieblingsrotweins besorgt, und sie hat im Supermarkt den Fadennudelsalat gekauft, den ich so mag.
Und auch die Vorahnung, dass es heute länger dauern wird, teilen wir.
Sie hat Käse und Oliven mitgebracht, in Erwartung einer langen Nacht, und ich stelle eine Flasche starken Shōchū und Mineralwasser hin.
Der Geruch des Essens erfüllt den Raum und überschreibt den Duft der süßen Nachtbrise.
Etwas in meinem Körper erwacht; der kühle, gefasste Teil von mir reckt den Kopf. Sie spürt das, das merke ich an der Spannung, die in der Luft liegt, während wir alles vorbereiten. Der falsche Frieden, den wir aufrechterhalten haben, beginnt zu bröckeln.
Dennoch stoßen wir mit Dosenbier an.
Und das Lächeln, das wir austauschen, ist trotz aller Anspannung vertraut.
»Was für eine schöne Nacht«, sagt sie und blickt aus dem Fenster.
Oder besser, blickt auf etwas, das hinter dem Fenster liegt.
»Ja. Die beste Zeit des Jahres. Bald sind die Nächte wieder unerträglich heiß.«
»Oh ja. Ich weiß noch, wie schlimm es letztes Jahr war.«
Wir führen ein belangloses Gespräch. Beide taxieren wir den anderen und warten auf den richtigen Moment, um anzufangen. Natürlich hatten wir auch eine selige Zeit der Flitterwochen in unserer Beziehung, aber dann verfielen wir in Machtkämpfe. Die haben sich in letzter Zeit gehäuft, und wir haben beide die Nase voll von den endlosen Streitereien. Ein weiterer guter Grund, diesen Ort zu verlassen.
Sie reicht mir Einweg-Essstäbchen aus Holz.
Einträchtig schnippen wir sie auseinander und fangen an, von den Köstlichkeiten zu naschen, die auf dem Koffertisch ausgebreitet sind.
»Gehst du über den Sommer irgendwohin?«, fragt sie beiläufig.
»Weiß noch nicht. Ich bin mit Konferenzen und so beschäftigt. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich im Sommer überhaupt Urlaub nehmen kann«, antworte ich ebenso lässig. »Fliegst du nicht übermorgen nach Vietnam? Dann ist dein ganzer Sommerurlaub aufgebraucht, oder?«
»Nicht ganz. Ich will den aufteilen und im September noch mal irgendwohin.«
Morgen wird sie bei einer Freundin übernachten, und übermorgen fahren sie zusammen nach Vietnam. Unser Tischkoffer ist bestimmt mit allem gepackt, was sie für ihren schönen Urlaub braucht.
Ich sehe sie schon am Strand stehen. Sie trägt seltsamerweise eine Áo-dài-Tunika, und ihr Gesichtsausdruck ist im Schatten eines weißen, geflochtenen Hutes verborgen.
Während ich den Nudelsalat auf Papptellern verteile, mache ich mir ein Bild von der jetzigen Situation.
Es ist wie beim Spiel »Stuhltanz«. Wir laufen im Kreis, um herauszufinden, wer auf dem letzten verbleibenden Stuhl sitzen darf.
In unserem Fall ist es aber keine Ehre, sich setzen zu können. Wenn überhaupt, wollen wir beide der Letzte sein, der noch steht, wenngleich auch das unangenehm ist.
»Dein Haar ist lang geworden«, sage ich.
Sie sieht mich überrascht an und lächelt dann leicht.
»Fällt dir das erst jetzt auf?«
»Ich habe dich in letzter Zeit ja nicht oft gesehen. In meiner Erinnerung war es noch kurz.«
»Ich glaube, ich habe es schon eine Weile nicht mehr offen getragen. Wenn es eine Zwischenlänge hat, stört es mich, deshalb binde ich es immer zurück.«
Sie kippt den letzten Schluck ihres Bieres hinunter und streicht sich dabei über ihr Haar.
Es ist fein und in einem leichten Braunton gefärbt.
Sie hatte immer einen Kurzhaarschnitt, aber jetzt ist es so lang, dass es ihr bis zu den Schultern reicht. Es ist wirklich schön – mir gefällt, wie die federleichte Linie über ihrer Stirn ihr blasses, zartes Gesicht umrahmt.
Ich bin entsetzt, dass ich ihr so lange nicht mehr direkt ins Gesicht geblickt habe.
»Wie geht es deiner Freundin?«, fragt sie und sieht mir in die Augen. »Wie heißt sie noch mal?«
Ich komme ins Stocken.
»Äh, gut, glaube ich.«
»Ist schon in Ordnung. Ist doch kein Geheimnis«, sagt sie mit einem teilnahmslosen Blick. »Grüß sie von mir.« Sie hat wohl das Interesse an dem Thema verloren.
Wir öffnen beide ein weiteres Bier.
Ja. Die Frau, mit der ich zusammenleben werde, ist nichts, was wir heute besprechen müssten. Es geht um etwas anderes, eine Sache zwischen mir und der Frau, die vor mir sitzt.
Wo sollen wir anfangen? Wie soll man diese Geschichte beginnen?
Wahrscheinlich am besten mit dem Foto.
»Ich habe neulich einen Film gesehen«, sagt sie, das Bier in der Hand.
Sie hat eine Weile den Blickkontakt gemieden. Nur ab und zu sieht sie mich an, als würde sie sich plötzlich an etwas erinnern. Aber ich schaue sie die ganze Zeit an.
Sie, die mich nicht ansieht.
»Im Kino?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf.
»Nein, im...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2023 |
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Übersetzer | Nora Bartels |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Aosawa-Morde • Bergwanderung • Beziehung • Geschwister • Japanthriller • Kammerspiel • Kois • Komorebi • Letzte Nacht • Literarische Spannung |
ISBN-10 | 3-03792-064-5 / 3037920645 |
ISBN-13 | 978-3-03792-064-0 / 9783037920640 |
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