Der erste Zug nach Berlin (eBook)

Roman

(Autor)

Nicole Henneberg (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6229-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der erste Zug nach Berlin -  Gabriele Tergit
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In ihrer rasant erzählten Satire »Der erste Zug nach Berlin« - erstmals nach dem Original-Typoskript veröffentlicht - nimmt uns Gabriele Tergit mit ins Berlin der Nachkriegszeit. Die junge Amerikanerin Maud hat noch nicht viel von der Welt außerhalb der New Yorker High Society gesehen. Da bekommt sie die Gelegenheit, eine britisch-amerikanische Militärmission nach Berlin zu begleiten, die den Deutschen endlich demokratische Prinzipien näherbringen soll - eine fabelhafte Chance, vor ihrer Hochzeit noch rasch etwas zu erleben. Die chaotische Gruppe versammelt skurrile Charaktere, unter anderem einen falschen Lord, die sich politisch nicht immer einig sind und darüber so manchen Streit austragen. Und die so glamouröse wie naive Maud muss bald feststellen, dass die Deutschen weder ein Interesse an Demokratie haben, noch daran, von ihr und den anderen Alliierten gerettet zu werden.Wie schon Tergits Erfolgsroman »Effingers« wurde »Der erste Zug nach Berlin« neu herausgegeben von Nicole Henneberg, die die Handlung außerdem in einem Nachwort historisch, biografisch und literarisch einordnet.

Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spa?t in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie, vor allem aufgrund ihres Erfolgsromans Effingers, als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.

Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie mit ihrem Mann nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spät in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.Nicole Henneberg, geboren 1955 in Hof, Studium der Komparatistik und Philosophie in Berlin und Paris, schreibt als freie Autorin und Literaturkritikerin, u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Berliner Tagesspiegel. Außerdem verfasste sie mit Fred Oberhauser den Literarischen Führer Berlin.

1. Kapitel

Ich muss sagen, es war ein reiner Zufall, dass ich nach Deutschland kam. Mein Onkel Phipps sollte zu der amerikanischen Mission nach Deutschland gehen und ich war gerade da, als Tante Ketta sagte: »Ich denke garnicht daran, nach Berlin zu gehen. Ich habe mich mit der ganzen Bande für Miami verabredet und ich müsste mir lauter andre Sachen für ein kaltes Land anschaffen.«

»Onkel Phipps«, sagte ich, »nimm mich mit. Ich würde rasend gern mitkommen, ich könnte zum Beispiel Fonds für eine Kantine sammeln oder Kleider für Polen oder Bündel für ausgebombte Engländer.«

»Das ist garnicht nötig«, sagte Onkel Phipps, »komm nur mit. Du kannst chauffieren, eine Schreibmaschine zertrümmern und Photos machen. Dafür kann ich dich gerade brauchen.«

»Vergiss nicht, Onkel Karl, ich bin ein selbstständiger Mensch.«

Anfang Mai verabschiedete ich mich von der ganzen Bande und wir gingen noch mal ins Twenty-one. Ich ging in meinem großen Abendkleid von Chanel zum Aerodrom mit einem Pfauenfächer, das Neueste aus Paris. Ich war die Erste, die ihn hatte. Er wird an einer langen Stange von einem der jungen Leute hinter einem getragen. Meinen trug der Sohn vom Governor Perry. Er war der bestaussehende Junge von uns. Und alle beneideten mich. Er sagte, ich sei eine Närrin, nach dem wilden Europa zu gehen, wenn ich in dem schönen New York mit seinem sanften Klima und noch sanfteren Sitten bleiben könnte. Dass ein Mensch aus Vergnügen nach Europa ginge, habe er überhaupt noch nicht gehört. Er will mich heiraten und wir wollen dann sehr viel Geld ausgeben, denn das ist das, was die Regierung verlangt. Von einem bestimmten Verbrauch an werden die Steuern herabgesetzt. Wenn man fein ist, sagt man: »Unser Haus wird wahrscheinlich vier Jahre zu bauen dauern. Wir wohnen jetzt in einem Flügel.« Man lässt sich die Wände bemalen oder mit Figuren bedecken. Gianetto und Rosenbaum, die jetzt so en vogue sind, brauchen für einen geschnitzten Stuhl mindestens ein halbes Jahr, man kann sich vorstellen, wie lange sie für eine Einrichtung brauchen. Niemand, der irgendwas auf sich hält, kauft Sachen, die am laufenden Band angefertigt werden. Es ist garnicht zu sagen, wie teuer die Sachen dann werden. Gianetto und Rosenbaum stellen ihre Rechnungen so aus, dass sie einem aufschreiben: 2000 Dollar für Lohn, 1000 Dollar Entwurf, macht 3000 Dollar. Mit so einer Rechnung geht man zur Steuer und auf die 2000 Dollar Lohn braucht man keine Steuern zahlen. Seitdem werden kaum mehr große Brillanten gekauft, sondern Ketten mit 100 Splittern, die kunstvolle Formen haben. Frauen von Senatoren zum Beispiel tragen nur noch sogenannten ›Gehörn-Schmuck‹, das sind Schmucksachen, die über 500 Arbeitsstunden gekostet haben von der Firma Gehörn. Auch Bilder werden so gekauft. Die modernen Maler dürfen auf jedes Bild die Arbeitsstunden von zwei Studienjahren drauflegen. Infolgedessen ist Rembrandt sehr im Preis zurückgegangen und wir kaufen alle den Henry Porter, der sehr schöne Bilder malt, aber außerdem zwanzig Jahre studiert hat. Die Bilder kosten einen fast garnichts.

Was aber meine Heirat mit Clark Perry angeht, so sind wir schließlich beide erst 19 Jahre alt.

Als ich ins Flugzeug stieg, brüllten sie alle durchs Megaphon und sangen und trugen kleine Papierkappen und kurz und gut, es war himmlisch. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen Cocktail zu trinken. Neben mir saß ein junger Engländer mit einem merkwürdig unbeweglichen Gesicht, sehr groß, sehr schwarz mit einer Pfeife und in der Eiseskälte des späten März ohne Mantel an Deck. Nur einen Schal und Handschuhe. Es war der 53. Lord Dolgelly, der noch gestern ein Mr. Randall gewesen war, aber glücklicherweise war sein älterer Bruder, der Lord, bei einem der Expeditionsversuche mit Raketen zur Minerva, dem kürzlich entdeckten Planeten, zu gelangen, verunglückt. Er sprach nicht, rauchte und machte auch sonst einen leicht idiotischen Eindruck. Mit ihm war ein dicker Amerikaner, Mr. Merton, the rather vulgar brand of the middle west, log cabin and self made and all that. Nachdem er mich zu mehreren Cocktails eingeladen hatte, sagte er: »Miss Phipps, hier gebe ich Ihnen die Telefonnummer von unserm Fleetstreet office. Wenn Sie eine story haben, just ring up, 700–900 Worte höchstens.« So wurde ich eine Journalistin. Wir kamen gegen Abend in London an und übernachteten dort unglücklicherweise. Das Hotel war ungeheizt. Nach dem ersten März heizen sie nicht. Der Portier war höchst unfreundlich, als ich zu ihm sagte: »Ich bringe Ihnen hier Dollars und dafür möchte ich wenigstens ein geheiztes Badezimmer haben.«

Das Frühstückszimmer bestand an zwei Seiten aus rohen Ziegeln. Wenn ich daran denke, wie Tante Ketta geweint hat, weil Monsieur Lepêtre, den sie sich extra aus Paris hat kommen lassen, die Wände einen Ton zu blau gestrichen hat und dass Onkel Phipps dann einen Prozess wegen des Honorars mit ihm geführt hat und dass wir hier vor nackten Mauern sitzen müssen! Onkel Phipps war auch sehr disgusted. Merton sagte, das Hotel sei schwer gebombt worden, trotzdem es eines der elegantesten von London ist, überhaupt sollen in London auch sehr reiche Leute gebombt worden sein, nicht viel natürlich, aber immerhin, und nachdem man das Hotel wieder in Ordnung gebracht hatte, wurde entdeckt, dass im Holz Schwamm sei und so habe man die Mauer freigelegt, and here we are. Hübsch, wenn das typisch für Europa ist. Dabei gibt es noch immer Leute in Amerika, die von der europäischen Kultur schwärmen. Merton sagte, der Portier sei typisch für das, auf was wir vorbereitet sein müssen, er habe Haus und Familie gebombt bekommen und das ganze Hotel mit seinen ahnungslosen Fremden komme ihm blödsinnig vor.

Wir machten einen Spaziergang zum Piccadilly Circus. Er besteht im wesentlichen aus niedrigen Häusern und Reklamen. Die Hauptreklame war ein John Bull mit einem großen Glas Bier, aus dem sich der Schaum bewegte. Darüber stand in Lichtschrift: »British beer is the best.« Daneben war ein Champagnerglas, das durchgestrichen war, und darunter stand: »Drink Whisky instead.« Neben mir stand ein Verkäufer von Veilchen, der rief: »English violets, English violets«, ein andrer rief: »Guaranteed English teddy-bear. If you press him, he growls in English.« Two gigantic illuminated heads took up the whole of one wall of a house: »The Conservatives have the only true British policy.« Unter dem andern stand: »The only true British are the Socialists.«

Wir gingen dort in ein Restaurant, wo die Speisekarte nur bestand aus Cold Mutton, 2 Veg. and Steamed Pudding.

Merton sagte zu dem Waiter: »Nichts anderes?«

»No«, sagte der Waiter, »we are specialising in English food, we have cabbage und steamed pudding, the whole year round.«

»Thank you«, sagte Merton und wir verließen das Lokal wieder, was ganz schlechter Stil in England ist. »Es gibt Soho«, sagte Merton, der England gut kannte, war er doch einer der beschäftigsten und berühmtesten amerikanischen Journalisten, »dort ist das alte Viertel der Leute vom Mittelmeer und sie kochen vorzüglich.« Wir kamen an eine Straße, über die ein riesiges weißes Tuch gespannt war, und darauf stand: »We are British.« Wir gingen von Restaurant zu Restaurant und überall stand auf den Speisekarten, die draußen hingen: Mutton and 2 Veg. Es hatte nur verschiedene Preise zwischen 1/6 bis 7/6. Schließlich gingen wir in eines der teureren Restaurants und Merton fragte den Inhaber, was denn das bedeute, dass man überall nur Mutton and 2 Veg. zu essen bekomme. Er sagte, das sei Vorschrift: »Wir dürfen alle nur noch Mutton and 2 Veg. kochen. Der Verband der englischen Restaurateure hat bestimmt,

  1. Kein ausländischer Koch darf in England arbeiten. Zunächst 10 Jahre lang.
  2. Kein Engländer darf im Ausland oder bei einem Ausländer in England kochen lernen.
  3. Kein Engländer darf etwas anderes als englisches Essen kochen.
  4. Zuwiderhandelnde werden aus dem Restaurantgewerbe ausgeschlossen und zu Ausländern erklärt.

Es wird überhaupt, so sagte der Restaurantbesitzer in Soho, an Stelle von Gefängnis die Strafe der Entziehung der englischen Staatsangehörigkeit angewendet. Nicht nur wer ausländisch kocht, sondern auch wer ausländisch baut, singt, schreibt, zeichnet, malt, unterrichtet, tischlert, schlossert, Fenster einsetzt, chauffiert und tapeziert, kann aus seinem Verband ausgeschlossen und schließlich auch des englischen Bürgerrechts verlustig erklärt werden. Der Verband der Plumber, um ein Beispiel zu geben, hat die selben Bestimmungen wie die Restaurateure angenommen: »Wer Rohre nicht nach außen verlegt oder irgendwie sonst etwas in Tat oder Schrift gegen das Platzen von Rohren unternimmt, wird aus dem Verband der Plumber als ein Schädling ausgeschlossen. Bei gefährlichem Zuwiderhandeln wird er zum Ausländer erklärt. Zu Ausländern Erklärte können nur in Bergwerken oder als Dienstmädchen arbeiten.«

»Sehr interessant«, sagte Merton, »bei uns in Amerika ist es ja ähnlich. Zum Beispiel in den Hotels müssen die Ausländer erst mal für ein Jahr unter der Erde, im sogenannten basement arbeiten, bis man sie wieder ans Tageslicht lässt. Aber Ausländer ist man eben nur 5 Jahre.«

Nachdem wir unser abscheuliches Essen runtergewürgt hatten, ging Merton mit mir in ein Konzert, in eine Ausstellung von Bildern, die in Europa während der deutschen Besatzung gemalt...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1949 • Bahn • Berlin • Billy Wilder • Frühjahr • Nachkriegsdeutschland • Satirisch • Wiederentdeckung • Zug
ISBN-10 3-7317-6229-3 / 3731762293
ISBN-13 978-3-7317-6229-4 / 9783731762294
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