Im Morgen wächst ein Birnbaum (eBook)

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2023 | 1. Auflage
176 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-28574-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Morgen wächst ein Birnbaum -  Fikri An?l Alt?nta?
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'Ich bin mehr als die Projektion der anderen.'
Fikri An?l Alt?nta? wächst als Sohn türkischer Eltern in einer hessischen Kleinstadt auf. Sein Vater arbeitet als Türkischlehrer, seine Mutter als Reinigungskraft. Es ist eine Kindheit inmitten von Sozialwohnblocks, geprägt von dem drängenden Wunsch, »deutsch« zu sein und der bitteren Enttäuschung über die Realität in Deutschland. Beständig wächst die Sehnsucht, gesehen zu werden und einen eigenen Weg als türkisch-muslimischer Mann zu finden. Dabei ist es vor allem die Beziehung zu seinem Vater, die ihn letztlich vor die Frage stellt: Was bedeutet Männlichkeit überhaupt und wie kann sie jenseits der Klischees verstanden und gelebt werden?

Inmitten von festgefahrenen Narrativen sucht Fikri An?l Alt?nta? nach den Zwischentönen. Radikal ehrlich blickt er auf sich und seine Familiengeschichte zurück, um die Gegenwart besser zu verstehen.

Fikri An?l Alt?nta?, geboren 1992 in Wetzlar, studierte Politikwissenschaften, Ethnologie und Osteuropastudien in Tübingen, Istanbul und Berlin und arbeitet als politischer Bildner und freier Autor. Er schreibt unter anderem für der Freitag, taz und pinkstinks. de. In seinen Texten, Vorträgen und Workshops, u.a. für den Gropius Bau und das ZDF, beschäftigt er sich mit Männlichkeit und Rollenbildern, Privilegien und der (De)-Konstruktion von nicht-weißen, muslimisch gelesenen Männlichkeiten in Deutschland. Auf Instagram schreibt er unter @_faanil über Rollenbilder und bricht mit Sehgewohnheiten und ist ehrenamtlich als #HeForShe Deutschland Botschafter von UN Women Deutschland aktiv.

1


»Ellerin armut mu topluyor?«

»Sammeln deine Hände Birnen?«

Ein Birnbaum war es, der mich zu dem Mann machte, der ich heute bin. Mein Vater schenkte ihn mir, er stand rechts neben unserem Sommerhaus in der Türkei, in unserem Garten. Ein kleiner Baum, den mein Vater am Rande der Landstraße gekauft hatte, er sollte mich ständig daran erinnern: Wer ich bin, wohin ich gehöre und wohin ich wachsen sollte. Wann immer der Wind gegen seine Blätter fuhr, weckte er in mir eine Sehnsucht, die mich fortan begleiten sollte.

Ich liebte das Haus. An jeder Seite stand ein anderer Obstbaum, und neben dem weiß lackierten Eingangstor ragte die kleine Palme über den langen Holzsteg, wie sie es schon seit meiner Geburt tat. Sie spendete Schatten für die Porzellanhunde und Plastikgänse, die mein Vater aus dem Industriegebiet in der Nähe von Akbük mitbrachte. Die in zwei Stufen angelegten Terrassen waren so groß, dass jeder von uns bequem sein Bett daraufstellen konnte. Von dort grüßte mich meine Mutter morgens beim Wäschemachen, wenn ich am Kiosk Zeitung und Brot holen ging. Sie zeigte auf die Weinreben, auf den Feigenbaum, auf den Pfirsichbaum direkt hinter der Palme und die Aloe Vera vor dem großen Tannenbaum. Ich liebte die Sorglosigkeit, mit der ich dort aufwachte und wieder einschlief. Die Bäume, das Meer, die Sonne. Dort fühlte ich mich angekommen. Melancholie überkam mich, wenn überhaupt, nur nachts, wenn mir unter der Decke zu kalt wurde.

Morgens lagen die Birnen meist schon auf einem Teller auf unserem Esstisch. Meine Mutter wusch sie gleich nach dem Aufstehen.

In Deutschland gab es auch viele Bäume, aber die sahen anders aus. Nicht wie mein Birnbaum, der noch heute an derselben Stelle rechts neben dem Aufgang zur Vordertür steht. Dessen runde Blätter spiegelten sich in der Sonne, so als ob sie eine subtile Aufforderung aussprächen, dass ich kurz mit meinen Händen darübergleiten sollte. So etwas passierte in Deutschland nicht. Durch Wälder mit Fichten und Birken zu spazieren brachte mir keine Ruhe. Hier gab es keine Birnen, die ich hätte essen wollen. Und unter den vielen Stimmen, zwischen denen ich hin und her lief, keine eigene Sprache.

Manchmal träumte ich davon, meinen Birnbaum mit nach Deutschland zu nehmen. Zumindest redete ich mir das ein. Wahr ist: Ich traute mich nicht, es zu tun. Mein Vater hätte es mir nicht erlaubt. Und ich wusste sehr wohl, wie ich mich als Sohn zu verhalten hatte.

Ich will von Veränderungen erzählen. Von den geteilten, den gemeinsamen, den notwendigen. Von meiner Familie und meiner Kindheit. Und davon, wie ich jetzt, mit dreißig, als muslimisch-türkischer Mann in Berlin ein anderes Leben jenseits von Klischees führe. Wie ich zu dem Mann wurde, der ich heute bin – mit und durch meinen Vater, wegen und trotz Deutschland. Mit und ohne meine Familie. Denn lange Zeit war mein Vater meine einzige Richtschnur, mein Vorbild. Lange Zeit hieß Mannsein für mich das, was er mir vorlebte: Ehrlichkeit, Direktheit, vor allem aber: keine Schwäche und keine Emotionen zeigen. Dabei hatte ich ihn manchmal dabei ertappt, wie er ein Gespräch plötzlich abbrach und in der Küche verschwand. Nicht, um etwas zu trinken oder zu essen, sondern um zu weinen. Er wollte nicht, dass ich das sah. Aber ich habe es trotzdem mitbekommen. Und es hat etwas in mir losgetreten. Ich erkannte: Es tut gut, Gefühle zu zeigen, verletzlich zu sein. Genau das macht Männlichkeit für mich erträglicher. Es geht darum, die Kraft zu finden, selbst gebaute Mauern einzureißen. Oder es zumindest zu versuchen.

Davon will ich erzählen. Weil viele ein Bild von mir zeichneten, bevor ich selbst einen Stift in der Hand halten konnte. Weil ich mehr bin als ihre Projektion. Aber der Weg dorthin brauchte Zeit.

Mein Vater kam in den achtziger Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Er stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Dinar, von wo aus man entweder nach Ankara oder Istanbul durchfahren konnte; er wurde als eines von vier Geschwistern in eine Bauernfamilie geboren. Nach Abschluss der Lehrerschule ging er ans Schwarze Meer. Dort wurde er von den politischen Umwälzungen der Zeit erfasst. Er wurde Aktivist und floh. Aus Angst und weil er keine andere Wahl hatte. Unsere Familie sollte es einmal besser haben. Nicht wie er in Armut und ständiger Angst aufwachsen. Nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei drohten ihm und seinen Freunden Folter und Verfolgung. Jeden Tag wurden Menschen erschossen, verschleppt, vertrieben, ins Gefängnis gesteckt. Wenn er diese eine Chance zur Flucht nicht genutzt hätte, hätte ihn das gleiche Schicksal getroffen. Er ließ seine erste Tochter zurück.

In Deutschland arbeitete er als Türkischlehrer, engagierte sich in der SPD und in der Gewerkschaft, sie halfen ihm dabei, hier Fuß zu fassen und einen gesicherten Status zu erhalten. Wenn in Hessen Landtagswahlen anstanden, gingen wir in meiner Jugend gemeinsam auf Wahlkampfveranstaltungen in Stadthallen und bei kleinen Ortsverbänden. Wir hörten uns Reden an, nahmen Flyer mit und freuten uns, wenn wir auf die wenigen bekannten Gesichter trafen, die auch Türkisch sprachen. Mein Vater suchte das politische Treiben, die Reden, das Gefühl, die Veränderungen in der Gesellschaft mitbestimmen zu können. Es erinnerte ihn an seine Zeit in der Türkei. Hier in Deutschland aber betrafen ihn die Forderungen nach einer neuen Gesellschaft nicht persönlich. Denn Menschen ohne deutschen Pass konnten schließlich nicht zur Wahl gehen und nicht mitbestimmen. Ich dagegen würde das später können. Ich sollte es besser haben.

Wenn wir von unseren gemeinsamen Ausflügen nach Hause kamen, griff mein Vater als Erstes nach seiner Saz. In unserem Wohnzimmer spielte er sie jeden Tag. Im Hintergrund liefen dabei türkische Nachrichten. Er sang die Lieder von Arif Sağ, Ahmet Kaya und Musa Eroğlu. Es ging um Liebe, um Sehnsucht und Freiheit, die verloren gegangen waren. Nicht selten weinte er dabei. Eines dieser Lieder sang von lockigen Haaren, von Bergen, die Bilder seiner Heimat wachriefen. »Kıvırcık saçlarına, kar düşmüş uçlarına. Auf deine lockigen Haare ist Schnee gefallen, auf die Spitzen.« Es war das erste türkische Volkslied, das auch ich vor meinen Eltern sang. Damit trat ich offiziell in die Fußstapfen meines Vaters. Es war wie mein erster Bartwuchs. Ein Meilenstein, ein Schritt in die Richtung, die mich zum jungen Mann machte. Einer, der sich nicht schämt, vor anderen zu singen, zu zeigen, was er kann. Aber mein Vater wurde in der Türkei zum Mann, und ich musste es mit ihm in Deutschland erst noch werden.

Als ich geboren wurde, weinte mein Vater. Er hatte sich einen Jungen so sehr gewünscht. Meine große Schwester Ebru, die fast zwanzig Jahre älter ist als ich, sah ihn damals an und sagte, dass sein Sohn ihm sehr ähnlich sehe. Wenn er schon so lange auf mich hatte warten müssen, sei daran auch nichts verkehrt.

Meine Mutter sagte immer, dass ich die Locken meines Vaters hätte. Meine Augen wären ihre Zukunft. Und diese Zukunft lag in Deutschland.

Dass ich keine Träume haben konnte, weil mir das Leben in den Sozialbauten keine Luft zum Atmen ließ, stimmt nicht. Ich hatte beides – Träume und Luft zum Atmen. Ich fand dort Freund:innen, die zu mir passten. Sie sprachen Spanisch, Italienisch, Rumänisch. Auf dem Spielplatz blieben wir so lange, bis unser Pfirsich-Eistee leer war oder unser Ball in einem fremden Garten landete. Die Wetzlarer Straße, in der wir in Aßlar wohnten, war einen Kilometer lang. Es gab eine kleine Grünfläche für alle, die wie ich in den Sozialwohnungen lebten, am Anfang der langen Straße, zwischen den Häuserblöcken. Die ersten hundert Meter waren ein Meer aus kleinen Fenstern, noch kleineren Balkonen und großen Hausnummern. Von dort bis zur Kirche am Ende der Straße liefen wir dann an Einfamilienhäusern vorbei. Mit großen Gärten, Garagen und Bäumen, die von Weitem aussahen wie jene Olivenbäume, die in unserem Garten in der Türkei standen. Aber hier wuchsen keine Olivenbäume, also konnten die Häuser auch nicht uns gehören.

Bevor wir 1996 in die Wetzlarer Straße zogen, hatten wir in Hermannstein, dem Nachbarort von Aßlar, gewohnt. Meine Eltern hatten dort schon vor meiner Geburt im Untergeschoss eines Hauses gelebt und offensichtlich sehr konkrete Vorstellungen von ihrem neuen Zuhause gehabt – wo die vielen Teppiche ausgelegt werden und die selbst gemalten Bilder meines Vaters hängen sollten. Mein Vater versuchte es zunächst über Zeitungsanzeigen und Anrufe bei Wohnungsgesellschaften. Manchmal bekam er noch nicht einmal eine Antwort. Er verließ sich meist auf seine türkischen Freunde. Aber die suchten selbst. Erst nach mehreren Monaten wurde mein Vater endlich zu einer Hausbesichtigung eingeladen. Eine Erdgeschosswohnung mit Ausblick. Das Haus hatte einen Garten, den man mitbenutzen konnte. Aufgeregt zogen wir unsere besten Klamotten an. Mein Vater kämmte mir trotz meiner Locken sorgfältig das Haar, damit es ordentlich aussah, wie er sagte.

Als wir klingelten, machte eine alte Dame die Tür auf und fragte verwundert, wer wir seien.

»Wir sind Familie Altıntaş. Wir haben heute Vormittag telefoniert«, sagte mein Vater laut.

»Nein, das kann nicht sein. Ich erwarte eine Lehrerfamilie.«

»Wir sind die Lehrerfamilie.«

Die alte Dame schaute uns verdutzt an, und während sie bereits wieder die Tür schloss, sagte sie: »Die Wohnung ist schon vergeben.«

*

Von der Seitenlinie aus zuzuschauen war nie mein Ding. Ich wollte im Mittelpunkt stehen. Alles andere wäre gelogen. Auch mein Vater stand gerne im Rampenlicht. Bei Hochzeiten, Familienfeiern oder...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Autobiografisch • Berlin • Deutsch-Türkisch • eBooks • Hessen • Lin Hierse • Männlichkeit • Mely Kiyak • Migrantenkind • Muslime in Deutschland • Neuerscheinung • Selbstfindung • Vater • Vater-Sohn-Beziehung
ISBN-10 3-641-28574-7 / 3641285747
ISBN-13 978-3-641-28574-6 / 9783641285746
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