Die Verwandelten (eBook)
608 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27147-3 (ISBN)
Eine nationalsozialistische Vorzeigemutter, die anderen beibringt, wie Kinder zu erziehen sind, doch über das Wichtigste, was sie verloren hat, niemals spricht. Eine Köchin, die lieber Frauen geliebt hätte als den Dienstherrn, unterwegs durch das zerstörte Deutschland im Sommer 1945. Ein Mädchen in München Solln, geboren in einem Lebensbornheim der SS. Eine alleinerziehende Anwältin von heute, die nach dem Tod ihrer Mutter unverhofft eine Wohnung in Wroc?aw erbt - und einen polnischen Zweig der Familie entdeckt. Alle Figuren verbindet ein Jahrhundert von Krieg und Nachkrieg, Flucht und Vertreibung, von Gewalt. Was bedeutet es, in einem Staat zu leben, der Menschenzucht betreibt? Und wie darüber schreiben, was den Frauen im Krieg geschieht? Was ihnen die Sprache nimmt. Was sie für immer verwandelt. Und wie über die unsichtbare Kraft, die verhindert, dass sie daran zerbrechen?
Ulrike Draesner gibt den Verwandelten ihre Stimmen zurück. Sie erfinden sich neu, wechseln Sprache und Land, überraschen sich selbst mit ihrem Mut, ihrem Humor, ihrer Kraft. Die Bedeutung von Familie verändert sich, Freiräume entstehen. Ein erschütternder Roman, bewegend, aufwühlend, zärtlich, klug.
Schaut: die Liebe der Töchter zu ihren Müttern, der Mütter zu ihren Töchtern. Schaut, wie sie blitzt durch ein dunkles Tuch.
Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2024: »Ulrike Draesners Werke halten - mit hochentwickeltem Sprachbewusstsein - literarische Signale politischer Vorgänge in Zeitenwenden fest; sie bezeugen dadurch die verwandelnde Kraft der Literatur.« (aus der Begründung der Jury)
Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane, Essays und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021) für ihr Gesamtwerk, das multimediale Arbeiten und Übersetzungen einschließt. Die Jahre 2015 bis 2017 verbrachte Draesner in England. Nach verschiedenen internationalen Gastdozenturen und Poetikvorlesungen ist sie seit April 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt mit ihrer Tochter in Berlin.
L wie Lebensborn
(Kinga, Hamburg und Berlin)
Langsam ließen wir die Lichter der Stadt hinter uns. Die meisten im Waggon trugen Kopfhörer, die Frau mir gegenüber, Augen gesenkt, der Mund ein Strich, war in ihr Tablet vertieft. Der Junge auf der anderen Seite des Ganges, etwa in Flummys Alter, drehte mit beeindruckender Geschwindigkeit an seinem Zauberwürfel, während die Person neben ihm, Vater, Mutterfreund, Onkel, Couscous aus einer Plastikschale löffelte. Es dämmerte. Mein Gesicht stand in der Scheibe, golden wie ein Geist aus Unschärfe und Strom.
Mit 290 km/h summten wir Richtung Norden.
Das also war übrig: ich in einer schmalen, erleuchteten Kapsel, unterwegs durch die aufziehende Winternacht. Das war übrig: sitzen, fahren, erben. Ein bequemer Zustand.
Ich hatte mir einen Kaffee gekauft, obwohl ich bereits ohne Koffein nervös war. Zweite Klasse, jeder Platz besetzt. Gedrängel, Kampf um die Steckdose. Das wirkte vertraut. Von Anfang an waren wir überall zu viele gewesen, Kindergarten überfüllt, 45 Wuselkörper im Klassenzimmer, Anstehen noch fürs Klo, rempeln, rennen, Bandenführer sein. Ich lehnte mich in den Sessel zurück. Das Kissen passte nicht, also alles wie immer. Wir, die vielen, gezeugt, um die Lücken der Kriegstoten zu stopfen, wir, die Babyboomer, Generation Eigenschaftslos, schoben uns als Wählerbalken die Alterspyramide hinauf. Auch das zu dicke Kissen in meinem Nacken schob sich nach oben. Es war ein Überbleibsel, auf Postkarten des 19. Jahrhunderts konnte man bewundern, wie zart sich seine Vorfahren an die lederbezogenen Sessel im Panoramawaggon des Dampfzuges geschmiegt hatten. Vergangenheit blieb hängen. Wie Haarfett. Schon mein eigenes Haarfett gefiel mir nicht. Leider konnte man das Kissen nicht abschneiden, ohne aufzufallen. Sachbeschädigung war es zudem.
Kurz hinter Spandau hatten sie das erste Mal angerufen, Flummy und Au-pair Laura. Flummy hieß Faiza Alberta Magnolia Viktoria, war Flummy. Ich war eine Spätmutter, eine Wiederberufseinsteigerin auf Spätmutterbasis, eine Frau, die ihr Kind allein ließ und auf wunderbar glatten Schienen in einem wunderbar glatten Zug zu einem Vortrag fuhr. Ich rührte mit dem Holzstäbchen aus dem Bistro in meinem Milchschaum. Rechtsanwältin Kinga Schücking, Klagewand, Waffe, Therapeutin, Seelsorgerin. Zuhause bezahlte ich eine junge Frau für die Care-Arbeit an einem Kind, das ich auf verschlungenen Wegen adoptiert hatte, weil ich vor lauter Ausbilderei lange wartete mit dem Kinderbekommen etc. Nun hatte ich das Kind und kehrte in einen Beruf zurück, der sich unter der Hand in einen Erbenberuf verwandelt hatte.
Tatsächlich waren wir eine Zeit lang die Erbengeneration genannt worden. Wir, die Kinder der Kriegskinder, von denen so viele zu Nebelkindern gemacht worden waren, abgeschnitten von der Vergangenheit ihrer Familien, uneingeschränkt der Strahlkraft ihrer beschädigten Kind-Eltern ausgesetzt. Erben? Welch Irrtum. Auch im Alter erwiesen diese Eltern sich als so zäh, wie wir immer geahnt hatten. Sie schoben ihre Rollatoren durch Heimflure, atmeten, schimpften und änderten alle naslang ihr Testament. Alt geworden setzten sie das Weitergeben dessen fort, was sie von jeher weitergegeben hatten. Abwehren: ja. Bestimmen: unbedingt. Klagen: professionell.
In Hamburg wollte ich über Mutter reden. Zum ersten Mal überhaupt.
Sie war ein Kriegskind gewesen.
Damit war alles erklärt. Und nichts.
Verstohlen schaute ich mir auf die linke Hand, die den To-go-Becher hielt. Alle Finger da. Sie wirkten unschuldig. Letzten Montag war ich, Hand neben dem Gesicht, morgens aufgewacht und hatte es genau gesehen: Mittelfinger – Lücke – kleiner Finger. Kein Ringfinger mehr. Einfach abgefallen.
Er war noch da gewesen, seltsam abgeknickt. Seit Wochen hatte ich das Gefühl, einer meiner Finger könnte plötzlich fehlen. Kein Schmerz, kein Drama, einfach weg. Auch meine Daumengelenke schwollen seit Neuestem an, mal auf der einen, dann auf der anderen Seite.
Mir wurde heiß, obwohl ich bereits in einem kurzärmeligen T-Shirt dasaß. Businessdress verabscheute ich, vor allem Blusen. Die Pilze auf meinem Shirt waren ein Zeichen für vernetztes Denken.
»Vernetzt.« Das fehlte mir noch. Waren wir Spinnen? Dennoch klickte ich mich, statt meinen Vortrag durchzusehen, auf die Seite der Au-pair-Agentur. Ich war untervernetzt: Laura hatte zu nächster Woche gekündigt. Das neue Au-pair-Wesen sollte aus Europa stammen (billigerer Heimflug) und Pudding kochen können. Pudding, glatt und aus einem Guss, war das Gegenteil von Patchwork. Mein Mann, nun Ex-Mann, hatte eine Freundin. Sie war 17,5 Jahre jünger als ich, was die Welt dank ihres Eifers auf Facebook nun für immer wusste. Flummy lebte bei mir, ihren Vater sah sie bestenfalls einmal im Monat. Er war sehr engagiert. Beruflich, sagte er. Ich stürzte Vanillepudding aus der Form und goss Himbeersauce darüber, blutrot. Die Zeiten, in denen ich dabei an Mondo, jetzt Ex-Mondo, dachte, waren vorbei.
Nun gut, so gut wie.
Flache, weite Felder, hie und da ein Waldrand, Restgrün. Ein älterer Mann, Inhaber einer BahnComfort-Karte, fragte, ob wir alle zu Recht hier im Vorzugsbereich säßen, und jeder in meinem Vierer, Businessdress links, Arbeitspaar gegenüber, nickte. Ich liebte ICEs. Kaum fuhr so ein Zug, kehrte die Welt sich um: Der Mensch durfte sitzen, rennen musste der Baum. Alissa, meine Mutter, hatte Züge verabscheut und war niemals in einen gestiegen. Selbst S-Bahnen hatten sie beunruhigt.
Ich trank Kaffee, schaute in eine Dämmerung, die in dichten Schleiern aus dem Boden zu dringen schien, und versuchte, weder an meine Finger noch an Alissa zu denken. Konnte nicht bitte zur Abwechslung mal eines dieser Wildschweine neben dem Bahndamm stehen, die ständig in den Durchsagen vorkamen, wenn wieder ein Zug nach Norden ausfiel? »Wildschweine im Gleisbereich« wurde verkündet. Doch das deutsche Wildschwein schien ganz und gar zum deutschen Geister- oder Nachrichtenschwein geworden zu sein, und so dachte ich doch an Mutter, sie hätte »eine doitsches Sanglier von Geischt wuhrde isch gärn treffahn« gesagt, zusammen hätten wir darüber gelacht. Sie hatte Kunstkataloge und Essays aus dem Französischen übersetzt, Polnisch beherrschte sie ebenfalls, und mit großem Stimmentalent Akzente nachgeahmt.
Seit ihrem Tod standen Flummy und ich verwandtenlos da. Schon Alissa war ein Einzelkind gewesen oder wie man das in ihrem Fall nennen wollte. Au-Pair also. Meine Freunde fanden für eigene Krisen kaum Zeit, erst recht nicht für meinen Spagat als Alleinerziehende. Sagte ich »zur Erziehung eines Kindes braucht man ein Dorf«, dachten sie an alternative Gesellschaftsmodelle, etwa in Form eines zu renovierenden Gutshauses in Brandenburg. Letzten Mai waren wir bei einem Freund fast erfroren. Der Blick auf den Originalstorch hatte auch nicht geholfen. Wenigstens war seither klar, warum Störche auf einem Bein stehen.
Meine Hand zuckte zum Telefon, ich vermisste mein Kind, gerade noch unterdrückte ich den Impuls. Ich konnte nicht mit dem Körper vorwärts fahren zu einem Vortrag und mit der Seele oder der Bequemlichkeit oder der Angst vor dem Vortrag rückwärts zu Flummy. Ich konnte natürlich schon; ich verbot es mir.
Jetzt, wo Nika sich einmal nützlich gemacht hatte. Sie war eine der beiden Kolleginnen, mit denen ich mir das Kanzleizimmer bei Peffer & Edlich nach dem Prinzip rollierender Arbeitszeit teilte. Nika, die Veronika hieß, aber keinesfalls so genannt werden wollte, hatte ihr Netzwerk »bedient«, sie sagte »gesociallt«. Die Rechtsmediziner:innen und Jurist:innen der Hamburger Universität beschäftigten sich mit Zukunftsformen von Elternschaft und luden Expert:innen aus dem praktischen Leben zu Vorträgen ein. Honorar akademisch, also lausig. Doch man war Wiedereinsteigerin und fing von vorn an, man lächelte und schuldete nun Veronika einen Gefallen. Ich wusste aus eigener Erfahrung, in welche Irrgärten, ja Dornenheckenlabyrinthe unklare Elternschaften führen konnten, allemal solche, über die Mäntelchen des Schweigens, der Scham oder des Unrechts gebreitet wurden. Ich hatte Konkretes zu den Fähigkeiten zu sagen, die man in pluridimensionalen Familien brauchte, zu den Kurzzeitrisiken und Langzeitfolgen, denen man sich aussetzte. Juristische Expert:innen gab es wie Bakterien in Kunstschnee, doch live footage brachten die wenigsten mit. Man hatte mich ausdrücklich aufgefordert, persönlich zu werden.
Ich hatte es ernst genommen, mich ermannt, erfraut, was auch immer, nun enthielt mein Vortrag ein Dosenimperium, Mutter, Polen, den Lebensborn. Persönlich? Oh ja. Zum anderen: die diskussionsbedürftige deutsche Rechtslage, was den Embryonenschutz anging. Sprich: die Erbgeflechte, in denen wir lebten, ohne sie zu durchschauen. Jeden Tag sah ich, welche Konsequenzen sie hatten. Persönlich? Keine Frage. Deutschland, Polen und weiter nach Osten. Leihmutterschaft war in Deutschland verboten, in der Ukraine und Österreich erlaubt. Junge Frauen, ehrgeizig. Hilfsbereit und/oder interessiert an Geld? Ein Labyrinth. Die Technik entwickelt, der menschliche Körper stolperte hinterher. Das deutsche Gesetz stammte von 1991. Niemand wollte daran rühren. Man agierte unter dem langen Schatten einer Vergangenheit, der dadurch, dass man sicherheitshalber nicht genauer hinsah, nicht kürzer wurde.
Ich zog mir das T-Shirt über den Kopf. Darunter trug ich ein einfaches schwarzes Trägerhemd. Es war Dezember und niemand außer mir saß mit so wenig Kleidung am Leib im Waggon. Mein Dekolleté konnte sich trotz meiner 50plus sehen lassen. Ich durfte nur niemals einem der Partner aus der Kanzlei in diesem »Aufzug«...
Erscheint lt. Verlag | 8.2.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Bayerischer Buchpreis • Bloodlands • Breslau • eBooks • Familiensaga • Flucht und Vertreibung • Großer Preis des Deutschen Literaturfonds • Kinderlosigkeit • Krieg in der Ukraine • Kriegsenkel • Kriegstrauma • Mütter und Töchter • Nachkriegsenkel • Nachkriegsgeneration • Nachkriegskinder • Nachkriegszeit • Neuerscheinung • Nominierung Preis der Leipziger Buchmesse • Roman • Romane • Sabine Bode • Schlesien • Schweigen der Kriegsgeneration • Schweigen der Opfer • Schwitters • Sieben Sprünge vom Rand der Welt • transgenerationale Traumatisierung • Transgenerationale Weitergabe • Verdrängung • Vergewaltigung • Vergewaltigung als Kriegswaffe • Vergewaltigungsopfer |
ISBN-10 | 3-641-27147-9 / 3641271479 |
ISBN-13 | 978-3-641-27147-3 / 9783641271473 |
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