»Ich machte einen Spaziergang durch den Garten. Eine Kohlmeise trällerte über einem Beet mit Huflattich. Ich hatte das Gefühl, dass tausend Entdeckungen auf mich warteten...«
»Notizen aus dem Sommerhaus« von Nina Burton ist ein wunderschön geschriebenes Memoir über die Zeit, die die schwedische Schriftstellerin und Essayistin Nina Burton mit der Renovierung eines alten Sommerhauses dem Land verbrachte, und über die Tiere, denen sie während ihres Aufenthalts begegnete.
Überall im Haus und im umliegenden Garten trifft sie eine Vielzahl von Tieren: Ameisen, Bienen, Füchse, Eichhörnchen, Amseln, Dachse, Tauben, Rehe und viele mehr. Sie alle haben das Sommerhaus und den Garten zu ihrem Zuhause gemacht und regen Nina zum Nachdenken über ihre Rolle in unserer Welt an.
Wussten Sie, dass es insgesamt mehr Ameisen gibt als die Anzahl von Sekunden, die seit dem Urknall verstrichen sind? Und dass ihre Ameisenstädte übertragen auf menschliche Verhältnisse größer sein können als London oder New York? Oder dass der Wanderinstinkt von Zugvögeln so stark ist, dass ein verletzter Storch, der seiner Gefangenschaft entkam, sechs Wochen später gefunden wurde, nachdem er 150 Kilometer weit gelaufen war und zu Fuß dem Wanderweg seines Schwarmes gefolgt war?
Was mit der Renovierung eines alten Sommerhauses beginnt, entwickelt sich zu einer wunderbaren Erkundung der Natur, des Lebens und der Philosophie, in der Nina Burton das Innenleben und die bisher unbekannten Gewohnheiten der Tiere enthüllt, mit denen sie zusammenlebt.
Nina Burton, Jahrgang 1946, ist Dichterin und Essayistin und bekannt für ihren einzigartigen Stil, in dem sie lyrische Sprache mit Naturwissenschaften vereint. Nina Burtons Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten August-Preis in der Kategorie Sachbuch, dem Essaypreis der schwedischen Nobel-Akademie, dem wichtigsten schwedischen Sachbuchpreis Stora Fackboks priset und dem Övralidspriset. Nina Burton ist Mitglied der schwedischen Akademie der Wissenschaften.
Man könnte sagen, dass ich das Haus von oben nach unten kennenlernte. Das Dach war das Erste, was den Handwerkern ins Auge fiel, denn die Dachpappe musste ausgetauscht und die Isolierung verstärkt werden. Als sie im Hausinneren eine Wärmekamera nach oben richteten, wurde das Bild lavendelblau wie eine Februarnacht, was auf massiv eindringende Kälte hindeutete. An manchen Stellen sah man zudem kleine gelbe Wolkenformationen im Blau, und weil Gelb für Wärme stand, gab es dort wahrscheinlich Reste von Isolierung. Die Bilder stimmten mich nachdenklich. Rund um das Haus lagen wie aus kleinen Wolken gefallen hier und da Isolierungsbüschel. Wie waren sie dort gelandet? Sie konnten ja wohl kaum hinausgeweht worden sein?
Die Handwerker würden Ende März wiederkommen, und um mich da draußen mit ihnen treffen zu können, übernachtete ich schließlich, als es so weit war, im Haus. Es sollte das erste Mal sein, und als ich ankam, war es noch winterlich kühl. Während sich die Heizkörper erwärmten, machte ich deshalb einen Abstecher in die nähere Umgebung. Das Licht verlieh jedem noch so kleinen Kieskörnchen Kontur und Schatten im kahlen Erdboden, in dem alles bereitlag, um mit Leben bekleidet zu werden. Eine Kohlmeise flötete über einigen Huflattichen, und vieles andere war mit Sicherheit dabei, sich in Knospen und samengefüllte Zapfen zu formen. Es schien mir, als würden mich tausend Entdeckungen erwarten.
Zurück im Haus heizte ich es zusätzlich, indem ich den Herd anstellte. Während das Nudelwasser kochte, wühlte ich in ein paar Umzugskartons aus Mutters Wohnung. Es blieb noch einiges zu räumen, aber ich hatte vor, mir einen ruhigen Abend zu gönnen und zu lesen. Die Stille war erholsam und passte zu dem Buch, das ich mitgenommen hatte. Es ging darin um den Weltraum.
Da draußen waren die Bestandteile des Lebens ja einst aus einem Kosmos geboren worden, der nicht größer war als eine geballte Faust. Für eine unerhörte Sekunde schloss sie sich fest um zukünftige Galaxien und eine grenzenlose Zukunft. Dann brach das unendliche Crescendo los. Aus einem greifbaren Anfang entstand eine vollgekritzelte Weite aus Sternen, die im Laufe einiger Milliarden Jahre Kohle und Sauerstoff, Silber und Gold und alle anderen Bestandteile produzierten, die das Leben benötigte. Auch die Protonen und Elektronen meines eigenen Körpers waren einst Materie oder Strahlung im Weltraum gewesen. Im Grunde konnte man mich also ein Abfallprodukt toter Sterne nennen, oder vielleicht eher eine Ansammlung von Sternenrohstoffen. Davon gab es reichlich, denn noch immer kommen Millionen Tonnen kosmischer Materie zur Erde.
Ich schloss die Augen und dachte nach. Aus der Perspektive des Buchs war die Erde Teil eines unermesslichen Kreislaufs aus Elementarpartikeln, die zu Bergen, Wasser, Pflanzen oder Tieren kombiniert werden konnten. Und während unsere flüchtigen Formen vorüberflimmerten, drehte unser Sonnensystem einmal mehr eine Runde um das Zentrum der Milchstraße. Diese Umrundung dauerte zweihundert Millionen Jahre und wurde ein kosmisches Jahr genannt.
Draußen bewegten sich Sterne und Planeten wie die Teile eines gewaltigen Uhrwerks. Wie alle Zeitmesser wurde es gelegentlich reguliert, so dass der Mond sich sachte von uns entfernte. Momentan änderte sich dadurch nicht viel, da es nur um vier Zentimeter pro Jahr ging.
Als nach und nach die Proportionen justiert wurden, weitete das Weltall die Wände des Hauses. Für den Astronomen des Buchs trug noch das Kleinste zur großen Perspektive bei. Hielt man beispielsweise eine Einkronenmünze einen Meter vor die Augen, fanden dahinter hunderttausende Galaxien Platz, und jede Galaxie bestand wiederum aus Milliarden Sternen. In unserer Milchstraße lagen sie über einen derart gewaltigen Raum verteilt, dass das Licht einige Millionen Jahre unterwegs war. In dieser Zeit waren die Sterne selbst bereits gestorben, aber ihr Licht lebte weiter, ähnlich wie alte Plattenaufnahmen die Musik toter Musiker enthielten.
Wohin war das Licht unterwegs? Im Weltraum gab es kein Zentrum. In jeder Richtung schien es ähnlich auszusehen. Wehmütig dachte ich an die Weltraumsonde, die man mit einem Bild von zwei Menschen losgeschickt hatte. War es nicht etwas vermessen, das als die wichtigste Information über die Erde zu betrachten? Und wenn es überhaupt Sprachen im Weltall gab, hatten sie mit Sicherheit einen völlig anderen Charakter als unsere. Es war eine Welt, der man sich eher mit Mathematik als mit Worten näherte.
Eine bessere Visitenkarte hätte die Aufnahme der NASA von der elektromagnetischen Vibration der Erde sein können. Sie ist zudem in Klänge umgewandelt worden, und als ich diese brausende Harmonie ohne Anfang oder Ende hörte, berührte sie mich auf eigentümliche Weise. Hatte man sich so die Musik der Sphären vorgestellt? Kepler glaubte in seinen Spekulationen, dass Saturn und Jupiter Bässe waren, während Erde und Venus Altstimmen hatten, Mars ein Tenor war und Merkur die Diskantstimme hielt. Wie sie in der Wirklichkeit klangen, wusste ich nicht, aber in der Version der NASA vermittelte der Gesang der Erde mir ein Gefühl von den schönen und zugleich fragilen Lebensvariationen des Planeten.
* * *
Waren draußen Sterne zu sehen? Ich legte das Buch zur Seite und stellte mich mit der Jacke auf den Schultern vor die Haustür. Dem Buch zufolge, in dem ich las, können neunzig Prozent der westeuropäischen Bevölkerung keinen richtigen Sternenhimmel mehr sehen, da der Himmel von unserem künstlichen Licht verdunkelt wird. Sicher, das Weltall wird von Dunkelheit dominiert, aber wenn wir schon aus Sternenstaub bestanden, würde es schon Spaß machen, die Sterne auch zu sehen. Nur der Polarstern war durch die Atmosphäre schwach blinkend zu erkennen.
Dagegen tauchte flüchtig etwas Näheres in den Augenwinkeln auf. Strich da nicht hastig ein Schatten vorbei? Gab es Fledermäuse auf dem Grundstück? Ich hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu ihnen. Sie sind die einzigen Säugetiere, die es geschafft haben, die Lüfte zu beherrschen. Im Gegensatz zu Vögeln haben sie keine Federn, sondern Flügel aus nackter Haut, aufgespannt zwischen dem Daumen und den vier Fingern ihrer Hände. Sie zieht sich darüber hinaus bis zum Fußknochen hinunter, um eine große Spannweite zu bieten. Und die ist nicht nur riesig. Ihre geflügelten Hände manövrieren außerdem schneller in der Luft, als sich meine Finger auf einer Computertastatur bewegen können.
Sie kommunizieren mit blitzschnellen Ultraschalllauten, die das Dunkel ausloten, in dem sich die Nachtfalter verbergen. Der eher private Kontakt ist dagegen sowohl körpernah als auch schnatternd. So hat man beispielsweise ein Fledermausweibchen dabei beobachtet, wie sie einer gebärenden Verwandten handgreiflich assistierte, indem sie ihr zunächst zeigte, wie der Körper gedreht werden musste, damit das Junge leichter herauskommen konnte, und indem sie es anschließend selbst in Empfang nahm. Es glich einer menschlichen Entbindung. Und warum empfindet man diese zotteligen, warmen Fledermäuse dann als fremd? Weil wir sie mit der Nacht verknüpfen, in der wir uns zurückziehen und unsere Sinne schlafen?
Nach einer Weile ging ich hinein und legte mich in eines der Etagenbetten. Obwohl es eng war, fühlte ich mich geborgen; fast so, als läge ein anderer im oberen Bett. Warme Körper schützen einen vor der verlassenen Weite und Stille des Weltraums.
Plötzlich hörte ich jedoch ganz in der Nähe ein Geräusch. Bewegte sich jemand über mir in der Decke? Ich glaubte eher nicht, dass es eine Fledermaus war, aber was war es dann? Weil es zu dunkel war, um draußen etwas sehen zu können, versuchte ich einzuschlafen, sehnte mich aber nach dem Morgenlicht.
Und als es hereinschien, erwachte nicht nur ich. Jetzt waren die Geräusche von der Decke erneut als leichte Schritte zu hören. Konnte das ein Vogel sein? Als ich mich hinausschlich und nachsah, war das Dach leer. Dafür entdeckte ich etwas auf der Rückseite des Hauses. In dem Netz zwischen Dach und Wand war ein großes Loch. Es glich einem Eingang.
Danach beschäftigte dieser Eingang meine Fantasie, während ich versuchte, die Umzugskartons mit Küchenutensilien auszuräumen. Gegen Mittag drehte ich eine Runde um das Haus und bekam das unbekannte Deckenwesen endlich zu Gesicht. Ausgestreckt auf dem Netzstreifen zwischen Wand und Decke lag es da und döste in einem Zustand, der an eine Siesta erinnerte. Die Zähne zeigten, dass es ein Nager war, und auf den ersten Blick hätte man es wohl auch für eine Ratte halten können, aber der buschige Schwanz sagte etwas anderes.
Auf einmal passte alles zusammen. Dieses Eichhörnchen hatte die Dachisolierung hinausbefördert, um mehr Raum für sich selbst zu bekommen, was ihm wahrlich gelungen war. Wenn man das Bild der Wärmebildkamera bedachte, musste es da oben eine großzügig bemessene Eichhörnchenwohnung geben.
Meine Gefühle gerieten völlig durcheinander. Da lag ein Eindringling, der mit meinem Haus sehr eigenmächtig umgegangen war. Andererseits habe ich Eichhörnchen immer gemocht und hatte einiges über sie gelesen, und nun konnte ich sowohl die Tasthaare der Handgelenke als auch die rudimentären Daumen sehen, die ihre Vorderpfoten so sehr wie Hände aussehen lassen. Ich betrachtete den buschigen Schwanz, der bei den Sprüngen zwischen den Bäumen zu einem Steuer und nachts zu einer Decke werden kann. Er hatte eine Weichheit, die einen auch ohne Berührung berührte.
Dem Geschlecht unter dem Schwanz nach zu urteilen, handelte es sich um ein Weibchen, und das Leben einzelgängerischer Eichhörnchenweibchen kann hart sein. Nach der frühjährlichen Paarungsjagd in den Bäumen vertreiben sie...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2023 |
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Übersetzer | Paul Berf |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Livets tunna väggar. En essäberättelse om ett lyhört hus och en natur full af sprak. |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2023 • Beziehung Mensch-Tier • Biologie • eBooks • Leben mit Tieren • Marc Hamer • Memoir • Nature writing • Naturverbundenheit • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Renovierung • Schweden • Sommerhaus • verblüffende fakten • Vom Blühen und Vergehen |
ISBN-10 | 3-641-27941-0 / 3641279410 |
ISBN-13 | 978-3-641-27941-7 / 9783641279417 |
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