Die Stadt der Lebenden (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
512 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-28494-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Stadt der Lebenden - Nicola Lagioia
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»Eine Verbeugung vor Truman Capote auf dem schmalen Grat zwischen Reportage und Roman.« Il Messaggero
Im März 2016 quälen Manuel Foffo und Marco Prato, zwei junge Männer aus gutem Hause, in einer Wohnung am Stadtrand von Rom stundenlang den jungen Luca Varani zu Tode. Der Fall schockiert und ist für die Medien ein gefundenes Fressen. Sind die Mörder pervers? Kokainsüchtig? War es gar ein Werk des Teufels? Nicola Lagioia begleitet den Fall zunächst als Reporter: Er sammelt Dokumente und Zeugenaussagen, trifft die Eltern von Luca Varani und beginnt einen Briefwechsel mit einem der beiden Täter. Für seine Recherche begibt sich Lagioia in die Nacht Roms. Eine Stadt, die unbewohnbar und doch voller Leben ist, die von Ratten und wilden Tieren heimgesucht wird, die von Korruption und Drogen zerfressen ist und doch gleichzeitig in der Lage, ihren Bewohnern ein Gefühl der Freiheit zu vermitteln wie kein anderer Ort auf der Welt. Eine Stadt, die zu jenem Zeitpunkt zwar keinen Bürgermeister hat, aber zwei Päpste. Aus anfänglicher Faszination für das grundlos Böse wird eine differenzierte Aufarbeitung enttäuschter Erwartungen, sexueller Verwirrung, Suche nach Identität und Orientierungslosigkeit. Immer verknüpft mit Rom, der Stadt, die alles überdauern wird.

Nicola Lagioia, 1973 in Bari geboren, ist einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. 2015 wurde er mit dem renommierten Premio Strega ausgezeichnet. »Die Stadt der Lebenden« stand in Italien wochenlang auf der Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Lagioia ist Leiter der italienischen Buchmesse in Turin. Er lebt in Rom.

Der Fahrer fuhr, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Als sie sich der Tyrrhenischen Küste näherten, wurde die Luft kälter. Der Himmel war finster. Am Straßenrand tauchten die ersten Ginsterbüsche auf. Sobald man nach Rom kam, nahm der stete, gemächliche Szenenwechsel an Fahrt auf. Das riesige Gespinst der Stadt, das über den Autobahnring hinauswucherte, war ein schwarzes Loch, das alles in seinen Bann werfen konnte. Die Vegetation erstarb und schoss erneut umso wilder empor, je nachdem, ob der Blick auf urbanen Irrwitz oder verlassene Brachen stieß, zwei Disziplinen, in denen die Stadt Meister war. Die garstigen, hungrigen Möwen stürzten sich in kreiselnden Spiralen auf die Müllhalden. Nachts umsegelten sie die großen Monumente in makabren Kreisen, angezogen von den Strahlern, die die Bauwerke in glanzvolles Licht tauchen sollten. Rom sprach eine völlig andere Sprache. Unter dem Regen war es die eines Wahnsinnigen, die, wie so oft, Splitter von Wahrheit enthielt.

Andreano sah die Häuserblocks von Collatino. Die Bremslichter kündeten von einem gewaltigen Stau. Das Auto verlangsamte, die Hupen plärrten. Abgas waberte aus den Auspuffen empor. Der immer dichtere Regen zerschlierte Fahrzeuge und Häuser.

Der Regen über London oder Paris zeigt anschaulich, wie eine moderne Stadt sich bei Bedarf in ein Kreuzfahrtschiff verwandelt: Aus seinem Inneren kann man auf das stürmische Meer blicken und, zwischen blank poliertem Messing sitzend, in aller Ruhe Tee trinken. In Rom gemahnt der Regen alle daran, dass der Fortschritt im endlosen Lauf der Zeit nur ein Wimpernschlag ist. Wenn es in Rom regnet, explodieren die Gullys, der Verkehr kommt zum Erliegen, Äste brechen von den Bäumen. Auf der Cassia wird ein betagtes Pärchen von einem einstürzenden Vordach zerquetscht. Dann ergeht vom Kapitol ein erster Aufruf an die Bewohner: »Bleiben Sie zu Hause!« Doch die Römer sind allesamt unterwegs. Von Ponte Milvio bis Garbatella verwandeln sich die Straßen in schwarze Sturzbäche, die die geparkten Motorroller mit sich reißen. Die Busse bleiben stehen oder werden umgeleitet. Wie Glühbirnen in einer kaputten Lichterkette stellen die U-Bahn-Stationen eine nach der anderen ihren Dienst ein. Verrostete Saugpumpen werden aus den Depots geholt und bleiben gleich darauf zwischen den Autos stecken.

Es scheint, als würde die Stadt in sich zusammenbrechen und eine frühere Stadt aufscheinen lassen. Dann eine weitere, die noch älter ist als diese. Den alten Portikus der Argonauten hinter dem Vaterlandsaltar. Das seit Jahrhunderten verschwundene Amphitheater des Caligula anstelle des Palazzo Borghese. Sollte es weiterregnen, könnte man wetten, die alten Götter würden sich wieder des Ortes bemächtigen. Doch die eigentliche Botschaft ist eine andere. Früher oder später wird der Regen sämtliche Städte zerstören. London und Paris sollten sich nichts vormachen. Nennt es Regen. Nennt es Krieg oder Hungersnot. Nennt es einfach Zeit. Alle wissen, dass das Ende der Welt kommen wird. Doch menschliches Wissen ist ein zerbrechliches Gut. Die Bewohner Roms haben das Wissen um die Endlichkeit im Blut und sie so verinnerlicht, dass sie nicht mehr darüber nachdenken. Wer hier lebt, hat das Ende der Welt bereits hinter sich, der Regen hat nur den lästigen Effekt, einen Wein aus dem Glas zu spülen, den man in der Stadt dauernd trinkt.

Es war bereits dunkel, als Michele Andreano bei den Geschäftsräumen in der Via Verdinois ankam. Drinnen warteten Valter und seine beiden Söhne. Die Kfz-Serviceagentur war zu einer Zuflucht inmitten einer Naturkatastrophe geworden. Valter war unruhig, Roberto hatte das Gesicht eines Menschen, der vergeblich versucht, mit der Wirklichkeit klarzukommen, doch die Aufmerksamkeit des Anwalts richtete sich auf Manuel.

»Manuel wirkte dicht, vollkommen zugedröhnt, komplett abwesend.«

War es möglich, dass seine Familie gar nichts mitbekommen hatte? Es hatte einen Mord gebraucht, damit die vermeintlich doppelt verriegelte Wirklichkeit – die Kinder stellen sich mit ihren schamlosen Lügen bloß, die Eltern blenden die so schlecht verhohlenen Lügen aus – ans Licht kam.

Valter fasste die Situation für Andreano zusammen. Die Fahrt ins Molise. Manuels Geständnis. Die Existenz dieses Mittäters, über den niemand etwas wusste. Und dann das Wichtigste: die Leiche.

Von dort, wo sie sich gerade befanden, war Manuels Wohnung nicht weit entfernt, zehn Minuten hätten genügt, um festzustellen, ob seine Geschichte stimmte. Doch noch könnten sie das nicht tun, sagte der Anwalt, erst müssten sie die Carabinieri rufen.

Andreano erinnerte sich, ein paarmal mit dem Jungen zu Abend gegessen zu haben. Bei diesen Gelegenheiten war Manuel sehr still gewesen, er hatte an der Unterhaltung nur teilgenommen, wenn es unhöflich gewesen wäre, es nicht zu tun, ansonsten hatte er nichts von sich preisgegeben. Schwer zu sagen, was für ein Typ er war. Trotz seiner Leidenschaft für Informatik hatte er kein Profil in den sozialen Medien. Andreano hatte ihn zum Abendessen getroffen, um ihn in einer Angelegenheit zu beraten, bei der es genau darum ging: Manuel arbeitete an einer App namens My Player. Theoretisch sollte die Applikation Profifußballvereinen die Möglichkeit bieten, die vielversprechendsten jungen Talente rund um die Welt in Echtzeit zu finden. Wer würde diese Software nicht nutzen, wäre sie erst einmal entwickelt? Zurückhaltend, aber entschlossen, war Manuel von seiner großartigen Eingebung überzeugt und glaubte, kurz vor dem großen Sprung zu stehen. Wie bei solchen Eingebungen üblich, fürchtete er, jemand könnte ihm die Idee wegschnappen. Deshalb hatte er sich damals an Andreano gewandt.

Als Valter ausgeredet hatte, blickte Andreano Manuel an: »Hör mal«, sagte er, »wollen wir uns vielleicht unter vier Augen unterhalten?«

Der Junge machte eine Kopfbewegung, die man als Kapitulation deuten konnte. Zugleich wirkte er erleichtert.

»Schön«, sagte der Anwalt, »lasst mich mit ihm allein.«

Valter und Roberto verließen den Raum. Manuel bat um eine Zigarette. Der Anwalt hielt ihm eine hin. Manuel nahm einen tiefen Zug, als söge er nach einem langen Tauchgang Sauerstoff ein.

»Willst du mir erklären, was passiert ist?«, sagte Andreano.

Manuel breitete leer die Hände aus, die seit ein paar Stunden die Hände eines Mörders sein mochten, aber tatsächlich nur wie die Hände eines Jungen aussahen, der sein eigenes Bett nicht machen kann.

»Wir haben eine Riesensauerei gemacht.«

»Wer hat eine Riesensauerei gemacht?«

»Ich und dieser Freund von mir.«

»Ein Freund. Wie heißt er?«

»Marco Prato. Er ist nicht wirklich ein Freund.«

»Was ist er dann?«

»Einer, den ich Silvester kennengelernt habe.«

Ein paar Sekunden lang herrschte Stille.

»Diese Person, die ihr getötet habt. Wer ist das?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und warum habt ihr sie getötet?«

»Ich weiß es nicht. Der Grund könnte alles und nichts sein.«

Manuels Nase war verstopft, seine Stimme belegt. Er schien nicht ganz bei sich zu sein, vielleicht versuchte er, in der sogenannten wirklichen Dimension einen klaren Kopf zu bekommen, während ein Teil von ihm noch immer in der anderen Dimension feststeckte, die tags zuvor vielleicht die Wirklichkeit gewesen und nun zur Dimension eines Albtraums mutiert war, weshalb ihn der Verdacht beschlich, der Albtraum und die Wirklichkeit des Vortages könnten ein und dieselbe Dimension sein. Nun ruderte er auf der Grenzlinie herum wie ein Ertrinkender, der versucht, wieder an die Wasseroberfläche zu kommen, doch er sagte nichts Unwahres.

Manuel behauptete steif und fest, einen Menschen getötet zu haben, aber zugleich benahm er sich wie seiner selbst beraubt, wie von höheren Mächten gesteuert.

»Hör zu, Manuel«, sagte Andreano, »jetzt musst du mir einen Gefallen tun. Du musst mir sagen, ob du dich stellen willst oder nicht. Denn wenn du dich stellen willst, heißt das, ich muss jetzt aufstehen und gehen, weil ich mich sonst der Begünstigung strafbar mache.«

»Ich will mich stellen.«

Manuel klang, als hätte er nur darauf gewartet.

Am 05/03/2016 um 18:50 Uhr ging auf unserer Station ein Anruf der Einsatzzentrale Rom ein, der uns darüber in Kenntnis setzte, dass sich in der Via Verdinois Nr. 6 eine Person mit Namen Andreano, Michele, befinde, die sich als Anwalt auswies und unseren Einsatz anforderte, da ein von ihm betreuter Mandant namens Foffo, Manuel, sich eines mutmaßlichen Mordes bezichtigt habe.

Die Carabinieri Andrea Zaino und Alessio Gisolfi Carabinieri-Station Rom Prenestina

Andreano beendete das Telefonat mit den Carabinieri. Musterte Manuel. Jetzt hieß es warten. Draußen hörte man den Regen. Reglos saßen sie da und lauschten. Ein Geräusch mischte sich mit einem anderen – Andreanos Blick fiel auf Manuels Fuß, der wippend auf den Boden tippte. Der Junge war nervös. Eine Viertelstunde verging. Niemand kam. Wenn es in Rom regnet, machen die Leute nicht einmal Platz, wenn sie die Sirenen der Carabinieri hören. Weitere Minuten verstrichen.

Ein besonders tiefer Seufzer, dann sprang Manuel auf.

Andreano runzelte die Stirn. Der Junge blickte ihn mit einem Ausdruck an, den der Anwalt nicht zu deuten vermochte. »Gibst du mir noch eine Zigarette?« Er zündete sie an, kehrte dem Anwalt den Rücken zu, verließ ohne ein Wort den Raum, trat auf die Eingangstür zu, griff nach der Klinke, verließ das Büro und rauchte draußen, in Regen und Wind. Der Anwalt sah ihm beunruhigt nach, dann war Manuel aus seinem Blick verschwunden.

Und wenn er versuchte...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2023
Übersetzer Verena Koskull
Sprache deutsch
Original-Titel La Città dei Vivi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Bestseller aus Italien • eBooks • Ewige Stadt • krimibestenliste 2023 platz 5 • Luca Varani • Manuel Foffo • Marco Prato • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Premio Strega • Rom • Roman • Romane • Social-Media • spektakulärer Mord • Tatsachenroman • True Crime
ISBN-10 3-641-28494-5 / 3641284945
ISBN-13 978-3-641-28494-7 / 9783641284947
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