Lichte Tage (eBook)
234 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12034-9 (ISBN)
Sarah Winman, geboren 1964 in Essex, studierte an der Webber Douglas Academy of Dramatic Art und arbeitete anschließend als Schauspielerin bei Theater, Film und Fernsehen. Für ihren Roman »Lichte Tage« erhielt sie international viel Anerkennung. Sarah Winman lebt in London.
Sarah Winman, geboren 1964 in Essex, studierte an der Webber Douglas Academy of Dramatic Art und arbeitete anschließend als Schauspielerin bei Theater, Film und Fernsehen. Für ihren Roman »Lichte Tage« erhielt sie international viel Anerkennung. Sarah Winman lebt in London. Elina Baumbach, geboren 1981 in Berlin, war viele Jahre als Englisch-als-Fremdsprachenlehrerin in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt tätig, bevor sie nach Deutschland zurückkehrte, um nochmals ein Studium aufzunehmen. Nach einem Bachelor-Abschluss in Amerikanistik/Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Augsburg absolvierte sie erfolgreich den Masterstudiengang "Literarisches Übersetzen" an der LMU München. Seit 2019 ist sie als freischaffende Literaturübersetzerin tätig und arbeitet außerdem als Lehrbeauftragte für Übersetzung an der Universität Passau. 2020 erhielt sie für die Arbeit an "Lichte Tage" von Sarah Winman das Stipendium "Junge Kunst & Neue Wege" des Freistaats Bayern.
November 1989
Ich weiß nicht, was für ein Tag es ist, die Tage haben keine Bedeutung mehr. Gs Sehkraft hat nachgelassen, und er verlässt sich jetzt auf meine Augen. Wenn er nachts seinen Schmerz herausschreit, halte ich ihn. Das Virus ist in sein Gehirn eingedrungen. Gestern hat er gelacht, während er die Schlafzimmertür angepisst hat.
Ein Arzt hat mir geraten zu schreiben, um meine Welt besser zu verstehen. »Es gibt nichts zu verstehen«, sagte ich abweisend.
»Die Qualen der anderen beobachten zu müssen«, fuhr er fort, »die Fassungslosigkeit der anderen. Was, glauben Sie, hat das mit Ihnen gemacht?«
Ich ließ mir Zeit mit dieser absurden Frage.
»Ich bin nicht mehr so lustig«, sagte ich schließlich.
Er war kein richtiger Arzt, sondern ein Psychiater, der mit Sterbenden arbeitet. Ich liege nicht im Sterben, muss man dazu sagen. Also noch nicht. Ich habe eine Kassette für Visualisierungsübungen, und die fröhliche amerikanische Stimme erzählt mir, dass mein Körper voller Licht und Liebe sei, und ich glaube es. Ich bin so voller Licht und Liebe, dass meine Hose fast nicht mehr zugeht. Ein Speckring, der vor ein paar Wochen noch nicht da war, liegt jetzt auf meinen Hüften. Und meine Bauchmuskeln waren auch mal härter, prominenter. Wenn ich mich selbst beschreiben müsste, würde ich sagen, dass dieser Körper schon bessere Zeiten gesehen hat.
Ich bin neununddreißig, fast vierzig. Stört mich das? Ich sage das immer etwas schneller, wenn Leute mich fragen, also tut es das wohl. Ich rauche nicht mehr oder nehme Drogen (abgesehen von dem gelegentlichen Co-Codamol, das ich angefangen habe zu horten, als G in Phase 4 überging). Ich war einmal attraktiv – das ist nicht die Eitelkeit, die aus mir spricht, mir wurde das tatsächlich oft gesagt –, aber ich weiß nicht so recht, ob ich das noch bin. Die Leute schauen mir immer noch hinterher, und mir werden hin und wieder (teils sehr seltsame) Angebote gemacht, also habe ich vielleicht doch noch irgendetwas. Männern gefiel es, mich zu ficken, und es gefiel ihnen, wenn ich sie fickte. Ich hatte Standards. Gelegentlich habe ich sie gesenkt, aber normalerweise war ich konsequent. Ich hatte gerne Teilzeit-Liebhaber, oder meine eigene Gesellschaft. Ich hatte auch sehr gute Liebhaber – erfinderisch, aufregend –, aber ich selbst war nie einer. Ich war höchstens eine 7. Ich war die Fantasievorstellung, die gerne enttäuschte. Der leise Schimmer von Melancholie, wenn sie den Reißverschluss wieder hochzogen. Ich denke, ich war ein bisschen selbstsüchtig. Oder faul. Eine 7, höchstens. Das war ich.
Mein Penis sieht etwas schwermütig aus, aber das macht vielleicht das Licht. Ich bin mir auch sicher, dass er einmal größer war. Aber ich war dünn, und dünne Männer sehen immer so aus, als ob sie einen großen Penis hätten. Es geht dabei nur um Proportionen, ich habe genug gesehen, um das zu wissen. Wie auch immer, er war größer, darum schwanke ich am Abgrund der Impotenz entlang, und dieser Schmerz, dieses Pochen – wie man es auch nennen mag –, es ist verschwunden. Aber das ist in Ordnung. Ich bevorzuge jetzt Reflexzonenmassagen, denn die helfen mir beim Einschlafen.
Genug für heute. Der Medikamentenalarm hat geläutet, und ich muss nach ihm sehen. Ich nenne ihn G, weil er seinen Namen nie gemocht hat. Wir sind nicht mehr zusammen. Er ist sechsundzwanzig und allein.
Es ist spät. Ich habe Gemüsebrühe gemacht. G schläft, und seine Temperatur beträgt 38,1. Er hat leichtes Fieber, aber keine Schweißausbrüche. Ich gerate noch nicht in Panik, wir haben das schon oft durchgemacht. Er ist nur noch Haut und Knochen, die Zahl seiner T-Zellen liegt bei null. Gott allein weiß, was ihn noch am Leben hält, die Erinnerung an das Leben, vermute ich. Jeden Sieg über das Virus haben wir gefeiert, nur um eine oder zwei Wochen später in Verzweiflung gestürzt zu werden, wenn das Quecksilber wieder stieg. Ich weiß, dass er nicht wieder entlassen wird, wenn er jetzt ins Krankenhaus muss, doch wir haben uns schon vor langer Zeit verabschiedet. Das Morphium tropft, und ich flüstere ihm süße, bedeutungsschwangere Worte zu. Ich sehe zu, wie die Digitaluhr weiterläuft. Um 21:47 ist alles still.
Der Herbst klopft ans Fenster. Ich mache die Schiebetüren auf und lasse ihn herein. Die Lichter des Fleischmarkts leuchten, und Autoscheinwerfer zerschneiden die Finsternis. Über uns nur das Pulsieren von Flugzeugen und keine Sterne. Die Wohnung ist still. So sieht Einsamkeit aus.
Früher habe ich mit Schreiben meinen Lebensunterhalt verdient, vielleicht habe ich deswegen jetzt eine Aversion dagegen. Ich war Journalist. Zuerst beim Lokalblatt, später dann als Freelancer. Schließlich bin ich zum Verlagswesen gekommen und Lektor geworden, Belletristik hauptsächlich. Ich hatte Talent dafür, eine Geschichte zu verändern. Das wurde mir wenigstens einmal gesagt. Damals war ich mir nicht so sicher, ob es ein Kompliment war.
Ich arbeite nicht mehr für Geld. Ich habe Geld; ich bin nicht reich, aber ich habe genug, um damit auszukommen. Ich bekomme Pflegegeld und kaufe damit Dinge, die Freude schenken – Blumen, ein gutes Steak, solche Sachen. Ich sorge dafür, dass wir anständig essen, oder habe dafür gesorgt, sollte ich wohl sagen, denn G bekommt wieder das flüssige Zeug. Nahrhaft, so heißt es – dämlicher Name. Ich mische es mit Eis, früher mit dem teuren. Bio mit echter Vanille. Aber jetzt nicht mehr, denn er behält es nicht drin.
Ich kann keine Deadlines einhalten, wenn alle um mich herum sterben. Ich habe das auch tatsächlich so in meiner Kündigung geschrieben. Wie großartig ich mir vorkam. Ich dachte, es würde die derzeitige Stimmung transportieren, eine Mischung aus politisch, verzweifelt und persönlich. Ich habe den Wein schließlich Wein sein lassen und das Schreiben überarbeitet. Es wurde irgendetwas Banales daraus, wie, »Zeit mich zu verändern und vielleicht selbst zu schreiben«, und der Verlag verstand, ohne groß Fragen zu stellen. Ich regelte meine Kündigung und schlich mich mit einer Kiste Bücher von dannen, die es dank meiner Hilfe in die Regale geschafft hatten. Allerdings war nicht eines davon von mir.
G war Künstler, als wir uns kennenlernten. Fünf Jahre ist das her, es war nicht lange nach Mabels Tod. Ich hatte an einem verregneten Nachmittag in der Nationalgalerie Zuflucht gesucht, als er mir in der Menge auffiel, seine Ähnlichkeit zu Ellis war umwerfend – freundliche Augen, diese Haare, der Bart, der sich ankündigte –, und ich folgte ihm zwei Stunden lang auf seiner eklektischen Reise von Tizian, zu Vermeer und Cézanne, bis wir vor einem Gemälde stehenblieben, das zu einem wichtigen Teil meiner Jugend geworden war. Ich stand hinter ihm und verkündete mit klangvoller Stimme: »Er hat es in Arles gemalt, 1888. Als Zeichen der Dankbarkeit, Freundschaft und Hoffnung.«
Er lachte. »Du bist unheimlich«, sagte er bloß und ging weiter. Er hatte recht. Ich schaffe es nicht, ungezwungen umherzuschlendern. Das hat man mir schon oft gesagt.
Ich folgte ihm nach unten in den Buchladen und nahm Bücher aus dem Regal, die ich nicht vorhatte zu lesen, und begutachtete Postkarten, die ich nicht kaufen würde. »Komm«, sagte er, als er mir an der Tür begegnete, und wir gingen in ein Café gleich bei der St Martin’s Lane, und nach zwei doppelten Espressi und einem Stück Schokoladentorte war der peinliche Altersunterschied zwischen uns nicht mehr so wichtig. Ich redete mir ein, dass er eigentlich fast respektabel sei. Er fragte mich, wo ich wohnte, ich antwortete in Soho, nicht weit, und er sagte, »Gehen wir.« »Im Ernst?«, erwiderte ich. »Ich werd nicht mit dir schlafen«, sagte er. »Da bist du nicht der Erste, der das sagt.« »Ich hab Jetlag.« »Dann trinken wir Tee.«
Wir hatten keinen Sex, aber wir tranken Tee. Er schlief ein, und ich beobachtete ihn. Und dann schlief ich ein und wachte allein auf. Eine Postkarte von van Goghs Sonnenblumen auf meinem Kissen, mit einer Telefonnummer auf die Rückseite gekritzelt. Ich rief ihn an dem Abend an und hinterließ eine Nachricht von Vincent auf seinem Anrufbeantworter, irgendetwas über ein fehlendes Ohr. Vier Tage später saß ich im Zug.
Er wohnte in einer Scheune in Suffolk – hatte sie von zwei Homos gemietet, die ihre Zeit meistens in Frankreich verbrachten. Freitagabend kam er immer mit einem zweiten Fahrrad im Schlepptau zur Haltestelle Woodbridge geradelt, und wir fuhren die kurze Strecke zu seiner Einzimmer-Scheune. Ich packte meinen Rucksack aus und legte die Zutaten für unser Wochenende auf den rauen Eichenboden: Wein, Essen, vielleicht ein Video, und das jeweilige Manuskript, an dem ich gerade saß.
Sein Körper...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2023 |
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Übersetzer | Elina Baumbach |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | AIDS • Aidskrise • Aids Krise • Arles • Benjamin Myers • Bestseller • Bisexualität • Bücher • Bücher Geschenke Belletristik • buch frauen • Coming-of-age • Die Unschärfe der Welt • England • Ewald Arenz • Freundschaft • gay • Geburtstagsgeschenk • Geschenk • Geschenk für Mama • Homosexualität • Iris Wolff • Kunst • LGBTQ • Liebe • Liebesbeziehungen • Liebesgeschichte • Liebesroman • Lieblingsbuch • Mariana Leky • Martin Kordic • Offene See • Oxford • poetisch • Queere Literatur • Romane • Sehnsucht • Sonnenblumen • Starke Frau • Südfrankreich • Verlust • Vincent van Gogh • Was man von hier aus sehen kann • Weihnachtsgeschenk • weihnachtsgeschenke für mama • Weihnachtsgeschenk Roman |
ISBN-10 | 3-608-12034-3 / 3608120343 |
ISBN-13 | 978-3-608-12034-9 / 9783608120349 |
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