Stalin (eBook)
886 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12154-4 (ISBN)
Simon Sebag Montefiore, geboren 1965, britischer Historiker und Journalist, studierte Geschichte an der Universität Cambridge und promovierte in Philosophie. Montefiore verfasste mehrerer preisgekrönte Weltbestseller, die mittlerweile in 48 Sprachen übersetzt sind: »Die Romanows«, »Jerusalem: die Biografie«, »Stalin. Am Hof des roten Zaren« und »Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit«.
Simon Sebag Montefiore, geboren 1965, britischer Historiker und Journalist, studierte Geschichte an der Universität Cambridge und promovierte in Philosophie. Montefiore verfasste mehrerer preisgekrönte Weltbestseller, die mittlerweile in 48 Sprachen übersetzt sind: »Die Romanows«, »Jerusalem: die Biografie«, »Stalin. Am Hof des roten Zaren« und »Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit«.
Vorwort
DER STALINSCHE HOF
UND DIE WURZELN DES STALINISMUS
Wozu ein Buch über Stalins Hof? Was ist über den Diktator noch zu sagen, was nicht schon tausendfach gesagt worden ist, in zahlreichen Aufsätzen, Essays und Büchern über die Gewaltherrschaft, die die Historiker Stalinismus nennen? Und warum sollen wir uns mit Stalin und seinem Hof überhaupt beschäftigen? Die Antwort ist einfach und eindeutig: Wir werden, wenn wir uns Stalin und seinen Helfern als Menschen zuwenden, die Rationalität der destruktiven Gewaltherrschaft besser als bisher verstehen. Zu zeigen, wie der individuelle Mensch als Schöpfer und Geschöpf seiner Umgebung gewesen ist, das aber ist die eigentliche Aufgabe des Historikers, denn wir wollen nicht wissen, wie die Welt ist, sondern wie sie von den historischen Menschen gesehen wurde. Allein auf diese Weise werden wir verstehen, wer Stalin und was der Stalinismus waren.
In der zurückliegenden Geschichtsschreibung über Stalin und den Stalinismus aber blieben die menschlichen Eigenschaften des Diktators und seiner Gefolgsleute eher im Verborgenen. Die Stalin-Biographien von Adam Ulam, Robert McNeal und Robert Tucker waren Erzählungen vom Leben Stalins, die wenig darüber sagten, woher dieser Mann kam und was dessen Herkunft und das Milieu, in dem er sich bewegte, über den Stalinismus zu verstehen geben.1* Wie hätte das auch geschehen können, wenn wir nicht einmal wissen, wer die Gefolgsleute waren, die sich am Hof des Diktators aufhielten: Molotow, Mikojan, Kaganowitsch, Beria, Malenkow, Schdanow und Woroschilow.
Die Historiker haben statt dessen von Strukturen gesprochen, von der Allmacht bürokratischer Apparate und Ideologien, wenn sie ihre Leser über den totalitären Charakter des bolschewistischen Regimes aufklären wollten. Im »Jahrhundert der Ideologien« (Karl-Dietrich Bracher) wurden Menschen von Apparaten regiert und als Individuen ausgelöscht. Aber wer regierte in diesen Apparaten und wie konnte es geschehen, dass der exzessive Terror mit dem Tod des Diktators zu einem Ende kam?2*
Über Stalin und seine Helfer hatten auch die so genannten Revisionisten unter den Historikern, die in den 1980er Jahren mit der Behauptung aufwarteten, der Stalinismus sei »von unten« gekommen, nichts von Belang mitzuteilen. Ihnen galten die Exzesse der Stalin-Ära als ein Resultat ungesteuerter und unkontrollierbarer Konflikte zwischen konkurrierenden Apparaten und sozialen Gruppen. In Wahrheit seien gesellschaftliche und soziale Krisen für den Ausbruch des Terrors verantwortlich gewesen. Stalin und seine Helfer hätten den Terror nicht nur nicht verursacht, sie hätten ihn nicht einmal kontrollieren können. So behauptete der amerikanische Historiker J. Arch Getty, die Parteiführung habe die Sicherheitsorgane noch 1937, im Jahr des Großen Terrors, darauf hinweisen müssen, daß Exzesse nicht erlaubt seien. Wo sie dennoch vorgekommen seien, müssten sie dem Eifer lokaler Parteisekretäre zugeschrieben werden.3* Aber man erfuhr auch von den Revisionisten nur wenig über die Personen, die sich in diesen Konflikten bewegten. Wo die einen von Ideologien und allmächtigen Apparaten sprachen, entdeckten die anderen soziale Klassen und konkurrierende Gruppen. Hier wie dort erlagen die Historiker aber vor allem den Selbstinszenierungen des Regimes, über das Leben, das sich hinter diesen monolithischen Fassaden verbarg, hatten sie uns nichts mitzuteilen. Und weil sich natürlich auch die politischen Führer in der Öffentlichkeit über die Welt stets nur im Stil der staatlichen Propaganda auszudrücken wussten, erfuhr man über sie auch nicht mehr, als dass sie im Meinungsdienst einer Ideologie standen.
Nun sind Ideologien und Lebensordnungen nicht einfach da. Es gibt weder einen »Marxismus« noch einen »Kommunismus«, der aus den Texten unvermittelt spricht. Das Bewusstsein ist kein Reflex der Ideologie, sondern ihr Produzent. Und darin, dass Menschen verschieden sind, dass sie aus verschiedenen Milieus und Kulturen stammen, nehmen die Ideen unterschiedliche Gestalt an. Karl Kautsky und Josef Stalin sprachen, wenn sie Bekenntnisse zum Marxismus abgaben, in verschiedenen Sprachen, und sie meinten Verschiedenes, wenngleich sie in den gleichen Begriffen sprachen. Aber die politischen Führer waren nicht nur Produzenten von Ideen: sie waren Männer und Liebhaber, sie pflegten Freundschaften, sie hatten eine Heimat und eine Vergangenheit, an die sie sich auf ihre Weise erinnerten, sie hassten und sie liebten, sie hatten Neurosen und sie waren Gewalttäter. Es kommt also darauf an, die Täter in ihren Lebenswelten zu beobachten und aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben. Es reicht nicht aus, ihre Reden und politischen Auftritte zu untersuchen oder ihre Texte zu analysieren. Wir werden die gewalttätigen Exzesse im Jahrhundert der Ideologien nicht verstehen, wenn wir nicht verstanden haben, wie Stalin und seine Gefolgsleute als Menschen gewesen sind.
Davon nun handelt das großartige Buch von Simon Sebag Montefiore, das allen Büchern, die von professionellen Historikern über den Stalinismus verfasst worden sind, allein darin überlegen ist, dass es zu erzählen weiß. Von welchem Historiker ließe sich denn sagen, seine Bücher seien schön geschrieben und würden deshalb auch gern gelesen? Aber das Buch teilt auch Neues mit. Es präsentiert Stalin und seine Paladine nicht nur als Urheber des Massenterrors und der Gewalt, sondern zeigt sie auch als lebendige Menschen, die sich über das, was sie anderen antaten, verständigen, die einander Briefe schrieben, miteinander aßen und tranken und gemeinsam den Urlaub verbrachten.
Eine solche Alltagsgeschichte des Stalinschen Hofes hätte vor zehn Jahren noch nicht erzählt werden können. Seit dem Ende der 1990er Jahre wurden die persönlichen Archive Stalins und seiner Gefolgsleute wie Kaganowitsch, Molotow, Woroschilow, Ordschonikidse, Kirow, Malenkow, Mikojan und Andrejew nach und nach für die wissenschaftliche Öffentlichkeit zugänglich. Und Sebag Montefiore hat fast alles gesehen, was man in diesen Archiven zu diesem Thema finden kann.
Von unschätzbarem Wert sind auch die Interviews, die Sebag Montefiore mit den Nachkommen der Gefolgsleute und den wenigen Überlebenden, die Stalin noch gekannt haben, führen konnte. Und natürlich die unveröffentlichten Tagebücher und Aufzeichnungen der georgischen Freunde Stalins, Tscharkwiani und Kawtaradse, die Tagebücher des Marschalls Budjonni und Maria Swanidses, die das Milieu und die Atmosphäre am Hof des Despoten in ein helles Licht tauchen.
Was nun kann man aus dem Buch über den Menschen Stalin und seinen Hof erfahren?
Sebag Montefiore porträtiert Stalin nicht nur als Politiker, sondern auch als Vater und Ehemann, als Liebhaber, als Gastgeber und Urlauber. Dabei zeigt sich, daß Stalin keineswegs paranoid war, er liebte seine Frau, seine Söhne Jakow und Wasili und seine Tochter Swetlana, er mochte die Kinder seiner Gefolgsleute, mit denen er spielte, er pflegte Freundschaften, und er konnte, wenn er gut aufgelegt war, ein liebenswürdiger und charmanter Unterhalter sein. Davon haben nicht zuletzt zahlreiche ausländische Besucher berichtet, die sich nicht erklären konnten, wie ein Mensch, der ihnen freundlich erschien, zugleich ein Mörder und Verbrecher sein konnte. Die Ehefrau Kawtaradses, eines Jugendfreundes von Stalin, erinnerte sich an einen Besuch des Diktators in ihrer Wohnung. Stalin habe sie gefragt, als er ihre weißen Haare gesehen habe, wer sie denn so schlimm gefoltert habe? Dann habe er Speisen aus einem georgischen Feinschmeckerrestaurant kommen lassen und habe georgische Lieder gesungen. Stalin habe sie und ihren Ehemann einsperren und foltern, ihren Schwager töten lassen. Und jetzt saß er in ihrer Wohnung und sang in einem »lieblichen Tenor« georgische Lieder. »Er sang so schön.«
Stalin sang nicht nur schön, er war auch ein Gewalttäter, er war misstrauisch, er litt an Verfolgungswahn, und er hatte keine Skrupel, selbst Menschen aus seiner Umgebung zu verstoßen und ermorden zu lassen. Nicht einmal die engsten Verwandten waren vor der Rachsucht und dem Misstrauen des Despoten sicher. Robert Tucker hat in seiner Stalin-Biographie davon gesprochen, der Diktator sei psychisch krank gewesen, habe unter den Schlägen des Vaters gelitten und habe Minderwertigkeitsgefühle kompensieren müssen. So aber spricht nur, wer die Welt nicht versteht, aus der Stalin kam und in der er sich bewegte.4*
Stalins Welt bestand aus Freunden und Feinden, die sich auf Gedeih und Verderb die Treue hielten. In einem politischen System, das durch persönliche Beziehungen strukturiert und durch Freundschaften stabilisiert wurde, kam es darauf an, dass die politischen Führer einander vertrauten und sich aufeinander verlassen konnten. Angesichts des Krieges, den das Regime seit dem Beginn der Kollektivierung gegen die Bevölkerung führte, gab es zur Freundschaft als Herrschaftsprinzip keine Alternative.5* Freundschaft fand ihren symbolischen Ausdruck in der Nähe zum Diktator. Am Hof Stalins erwarben die führenden Bolschewiki Prestige, wer dem Diktator nahe stand, verfügte über größere Autorität als jene, die keinen Zugang zum Hof erhielten. Sebag Montefiore beschreibt die Nähe zwischen Stalin und den Gefolgsleuten, die Tür an Tür auf dem Gelände des Kremls wohnten, miteinander aßen und feierten. Nach dem Krieg, als das Zentralkomitee und das Politbüro schon nicht mehr zu regulären Sitzungen zusammentraten, gehörte zum engsten Führungskreis, wer eingeladen wurde, mit Stalin Filme im Kremlkino anzusehen, an seiner Tafel zu speisen und mit ihm zu verreisen.
Die Nähe zum Diktator konnte aber...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2023 |
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Übersetzer | Hans Günter Holl |
Vorwort | Jörg Baberowski |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Bolschewismus • Chruschtschow • GULAG • Hitler-Stalin-Pakt • Imperialismus • Kommunismus • Kreml • Lenin • Marxismus • Molotow • Politbüro • Russische Revolution • Russland • Sowjetunion • Totalitarismus • Trotzki • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-608-12154-4 / 3608121544 |
ISBN-13 | 978-3-608-12154-4 / 9783608121544 |
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