Die Zeit und die Räume (eBook)

Notizbuch. 24. April – 26. August 1978 | Vom Literaturnobelpreisträger – erstmals vollständig publiziert, inklusive aller Zeichnungen

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77393-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Zeit und die Räume - Peter Handke
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Tausende Notizbuch-Seiten wurden von Peter Handke seit Anfang der siebziger Jahre beschrieben. Diese Hefte, Bücher, Blöcke, die in Jacken- oder Hosentasche passen, sind seine ständigen Begleiter, zuhause wie unterwegs. Aufgezeichnet werden Selbstgespräche und poetische Reflexionen, Einfälle und Ideen für literarische Projekte, vor allem aber Gesehenes, Gelesenes und Gehörtes. »Ich übte mich nun darin, auf alles, was mir zustieß, sofort mit Sprache zu reagieren, und merkte, wie im Moment des Erlebnisses gerade diesen Zeitpunkt lang auch die Sprache sich belebte und mitteilbar wurde«, so Peter Handke zur Praxis seines Notierens.

Anlässlich des 80. Geburtstags des Nobelpreisträgers wird nun eines dieser Notizbücher erstmals vollständig in einer Transkription der Handschrift veröffentlicht. Es dokumentiert vor allem eine ausgedehnte Reise, die Peter Handke im Sommer 1978 zu Fuß, mit dem Bus und per Bahn unternahm und die ihn von seiner Herkunftsgegend Kärnten nach Slowenien, in den Karst und weiter nach Norditalien führte. Neben dem fortlaufend Niedergeschriebenen erweisen sich auch die vielen, teils ganzseitigen Zeichnungen als wichtige Vorarbeiten für die später erschienenen Erzählungen, insbesondere Langsame Heimkehr und Die Wiederholung.



<p>Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (K&auml;rnten) geboren. Die Familie m&uuml;tterlicherseits geh&ouml;rt zur slowenischen Minderheit in &Ouml;sterreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach K&auml;rnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (K&auml;rnten) und das dazugeh&ouml;rige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im M&auml;rz 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschlie&szlig;enden Pr&uuml;fung abgebrochen, erscheint sein erster Roman <em>Die Hornissen</em>. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legend&auml;ren Theaterst&uuml;cks <em>Publikumsbeschimpfung </em>in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.</p> <p>Seitdem hat er mehr als drei&szlig;ig Erz&auml;hlungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: <em>Die Angst des Tormanns beim Elfmeter </em>(1970), <em>Wunschloses Ungl&uuml;ck</em> (1972), <em>Der kurze Brief zum langen Abschied </em>(1972), <em>Die linksh&auml;ndige Frau </em>(1976), <em>Das Gewicht der Welt</em> (1977), <em>Langsame Heimkehr </em>(1979), <em>Die Lehre der Sainte-Victoire </em>(1980), <em>Der Chinese des Schmerzes </em>(1983),<em> Die Wiederholung </em>(1986), <em>Versuch &uuml;ber die M&uuml;digkeit</em> (1989), <em>Versuch &uuml;ber die Jukebox</em> (1990), <em>Versuch &uuml;ber den gegl&uuml;ckten Tag</em> (1991), <em>Mein Jahr in der Niemandsbucht </em>(1994), <em>Der Bildverlust </em>(2002), <em>Die Morawische Nacht</em> (2008), <em>Der Gro&szlig;e Fall</em> (2011), <em>Versuch &uuml;ber den Stillen Ort</em> (2012), <em>Versuch &uuml;ber den Pilznarren</em> (2013). </p> <p>Auf die <em>Publikumsbeschimpfung </em>1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgef&uuml;hrt, <em>Kaspar. V</em>on hier spannt sich der Bogen weiter &uuml;ber <em>Der Ritt &uuml;ber den Bodensee </em>1971), <em>Die Unvern&uuml;nftigen sterben aus </em>(1974), <em>&Uuml;ber die D&ouml;rfer</em> (1981), <em>Das</em> <em>Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land </em>(1990), <em>Die Stunde da wir nichts voneinander wu&szlig;ten</em> (1992), &uuml;ber den <em>Untertagblues </em>(2004) und <em>Bis da&szlig; der Tag euch scheidet </em>(2009) &uuml;ber das dramatische Epos <em>Immer noch Sturm</em> (2011) bis zum Sommerdialog <em>Die sch&ouml;nen Tage von</em> <em>Aranjuez </em>(2012) zu <em>Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstra&szlig;e</em> (...

Der Ball springt aus dem Gebüsch wie eine Katze

Langandauerndes schlechtes Wetter: die Leute wundern sich nicht mehr, schimpfen nicht mehr drüber, sind nur noch traurig

Ein torkelnder Vereinsamter (R. ‌M.); der zu einem Fotografen geht, sich fotografieren zu lassen

Kleine Linden in der Hauptstraße, die Blüten auf dem Gehsteig treibend

Humorvoll erschrecken (immerhin schon)

Das Himmelstor einmal täglich

»Heute habe ich einige Leute zum Taumeln gebracht« (taumeln gesehen)

Seine fragile Geistesgegenwart

Hinter sich hörte er die Schritte eines Kindes (Flughafen)

Sein sich wiederholender Traum vom zu niedrig fliegenden Flugzeug (unter Bäumen und Drähten hindurch)

Sie malt die Sterne

An der Innenseite der offenen Lippen einer unbekannten Frau war ein kalter, sehr heller Glanz

»Ich will auf jeden gefasst sein können« (mich auch ruhig stillschweigend prüfen lassen)

Seine Bewegungen wurden erst seine Bewegungen, als er sie langsam vollführte (die schöne Schwere seines Ich füllte sie dann aus)

Er vermied ihren Blick, um sie nicht zu belästigen (mit Liebe)

Provinz: Büsche am Flugfeld, und die nahen Häuser (Strasbourg)

Seine Augen drückten ein lustiges Selbstgespräch aus

Sein Blick, sich übend, langsam vom Vordergrund über den Mittel- zum Hintergrund des Bildes sich zu bewegen

Wolkenkalben; aus den herunterfallenden Fransen bildete sich, näherrasend, eine neue Wolke

Ein Tag mit lauter angefangenen Gedanken

Die Fliehkraft des Ich, das dann nur außen an der Stirn sitzt, gestaltlos, locker, schmerzhaft (täglich sanft das Ich tief in sich versenken)

Panisch offen (eine Frau); »du bist nicht so«

Als gäbe es keine andern beschreibbaren, objektivierbaren Erfahrungen als die mit dem Raum

Das »Inselreich« (das Himmelreich)

»Es gibt die Welt nicht mehr« (Rhodos)

Die stille Macht der Dinge auf sich übertragen (das weinfarbene Meer)

Seine Stimme ist so leise, daß er beim angestrengten Reden starren muß

»Heim«kehr von einer Reise: Gefühl der Nichtigkeit; d. ‌h. nicht einmal der Bescheidenheit; die kommt später

»Aha, jetzt soll ich gelobt werden!« (Zustandsbeschreibung)

Sie waren miteinander, so und so; dann machten sie ein Spiel; aber nach dem Spiel konnten sie nicht mehr miteinander sein; war es aus (F.-E.)

S., unfähig geworden zum Finden; seine letzte Unfähigkeit

S., endlich freundlich und unnahbar

Sie sagte, seine Lippen drückten »amüsierten Überdruß« aus (früher nur Überdruß?)

herzhaftes Zupacken (kann er nicht)

Zimperlichkeit und Vergeßlichkeit

musikalischer Wald (die sich aneinander reibenden Baumstämme); Dunkelheit im Laubwald vor dem Gewitter, Schemen auf dem Erdboden

Denken: es gelingt ihm, sich mitzudenken mit seinem Denken, dem sog. (er erreicht die Struktur seiner Schuld)

genaues Glück: Herstellung der Verbindung zwischen sich und sich, den Orten, der Zeit (und unter der Brücke erscheint das grüne Dach des Autobusses, der auch nach langem immer noch nah ist, sich nicht weit entfernt hat) [Auf der Höhe von Chatillon mit dem Denkmal für 1870; 1. August 1978]; Gebetsruhe, die Boulespielenden auf diesem höchsten Punkt um Paris (?)

Gehen aus Faulheit, existentieller (Was aber ist Faulheit?); auf der verwitterten Bank sitzend; das Nachbild der fliegenden Haare als ferne Wolkensträhnen

Esche: akazienähnlich, nur größere Blätter

Eibe: »einziger stockausschlagfähiger Nadelbaum«, giftig (wie eine gesträubte Tanne)

Graupappel: Bastard zwischen Weißpappel und Aspe

Luftschutzturm / Feldahorn (selten als Baum, meist als Strauch); kleine Blätter

Hainbuche (Holz für Hackenstiele); ovale Blätter, glatter, massiger Stamm

Sommerlinde: Bienenweide

Vogelkirsche (Furniere)

Baumwurzeln in der Dämmerung (: Pfahlwurzeln); Douglastanne (gestickt in den Himmel)

Abendgeräusch in den Buchen; schwankendes Teichwasser (keine Wellen); klatschender Abfluß hinter diesem stillen Raum; das Teichwasser, mit den Blättern drauf, zieht, im Kreis

die Wellen sind unter der stillen Wasseroberfläche; kurzes Keuchen der Trimmer, die einen halben Hang hinaufhetzen; ein Fisch aus dem Wasser purzelnd, um sich schlagend wie ein Vogel, so laut, und schwer; jetzt zieht der Teich in eine andre Richtung; Fische ziehen krokodilhafte Wellen unter der Pflanzenschicht

Fisch sich auftürmend unter der Esche, die über den Teich hängt, im finstern Raum, diesen springend aufhellend, hoffnungsloses Beten, am Holztisch, wilde Stürze der Fische

Wellen, so leicht und auch tief unter der Oberfläche, daß sie nur leichte Schatten in die Spiegelung (des Abendhimmels) bringen, wie von einer Brise; Schattendome die Bäume im Wasser

»Morgen werde ich endlich den Weg wissen«

Je länger er betrachtet, desto heller, klarer wird die Dämmerung; Wasserspritzer von kleinen Fischen; sich entfernende Rücklichter im Teichwasser; sich buckelndes Wasser, fast wie Gras im Wind, so dick ist die Oberflächenschicht, Herstellung des Raums durch Sprache; der springende Fisch schüttelt sich, Geräusch wie von einem sich schüttelnden Hund, als hätte der Fisch Ohren

»Die Hoffnungslosigkeit vertrage ich nicht, und die Zuversicht ist mir zuwider«

Hauswand wie Stück des ferneren Felsens, weggesprengt

Ein bloßer Reisetag (»Großreisetag«, in dem man nichts mehr ist)

Vgl. Bildteil, Abb. 2

Marktstände, von oben gesehen; das Aufspannen der Sonnenschirme; das Krachen der Eierpakete, das raschelnde Fallen von Früchten in die Papiersäcke, das Knacken und Tönen der sich senkenden und hebenden Waagen, das Rascheln der Zwiebeln (Waagengeräusche wie von fallenden Gartentüren), Rieseln der Plastiksäcke, breitbeiniges Stehen beim Einpacken, das alles in den Autogeräuschen, die eigentlich das einzig Hörbare sein müßten; Abtasten eines im Morgenlicht sehr bleichen Huhns, von Truthähnen, mit baumelnden Köpfen, in Plastiksäcke gesteckt und abgewogen, überall Bewegungen (Falten von Säcken usw.) mit einer Leichtigkeit, als gäbe es darin kein unnötiges Ich, keinen Schmerz, keinen Widerstand; ein rückwärts zwischen die Stände fahrendes Auto; Gewürze: Kümmel, lang und grün, und Majoran als sporadisches Büschel auf einem großen Lastwagenanhänger; nach der Geräuschwahrnehmung beginnt erst allmählich das Sehen; Margeritensträuße neben bleichen Gurken und Erdäpfeln; das Rotgelbblaugewimmel der Waldfrüchte; Scheiterhaufen aus grünen Bohnen, zwischen denen es noch dunkel ist, eben wie bei Holz in der Holzhütte; matte Rotkrautköpfe auf kleinen Traktorenanhängern; auch die kleinsten Beeren werden mit der Hand in den Sack gefüllt; ein kleiner Mann mit Schlapphut, helles breites Band, und Aktentasche!, und Stock; Nachtschattengewächse diese gelben Bohnen; in der Spiegelung wirkt das Obst wie Gebäck; und jetzt öffnen auch die Geschäfte rundum (Kehren, Putzen); Auslöschen und Neuschreiben von Preisen

Ein toter Leopard in einem Kofferraum, auf dem Ersatzreifen

Vgl. Bildteil, Abb. 3

2 Stunden danach: die Bohnen im Korb haben die Nacht verloren, sind zusammengefallen, eingesunken, keine Sonne und kein Schatten mehr, dafür sind jetzt alle Gerüche stärker (Gerüche aus den andern, nun schon länger offenen Geschäften), die Geldscheine zwischen den Fingern hängend wie Schmetterlinge; Abfälle häufen sich in den kleinen Anhängern; Kinder jetzt als Einkaufsbegleiter; der Sturzhelm des abwesenden Sohnes auf der Ladefläche, neben der geleerten Steige; Waldfrüchtesteigen schon leer; jetzt viel mehr Leute in Urlaubsaufmachung – Fotoapparate, ganz kleine Taschen; nur noch Einheitsgeräusche – Reden und Waagenklacken (auch weniger Reden); alte Frau, zwei Kartoffeln kaufend, die sie in der offenen Hand wegträgt; Neuarrangieren der Gemüse: Radieschen über den Korbrand, in dem die Bohnen sind, gelegt, ...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-518-77393-3 / 3518773933
ISBN-13 978-3-518-77393-2 / 9783518773932
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