Die rebellische Pianistin. Das Leben von Johanna Kinkel (eBook)
350 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-98958-9 (ISBN)
Verena Maatman, geboren und aufgewachsen im Rheinland, ist Diplom-Übersetzerin für Italienisch, Französisch und Englisch. Nach ihrem Studium an der Universität Mainz arbeitete sie zunächst als Übersetzerin und Lektorin in Bonn und im norditalienischen Modena, heute ist sie im Sprachendienst eines Schweizer Unternehmens tätig. In ihrer Freizeit widmet sie sich dem Schreiben und der Musik und ist als Geigerin in mehreren Kammermusikensembles und Orchestern aktiv. Sie lebt mit ihrem Mann in der Bodensee-Region.
Verena Maatman, geboren und aufgewachsen im Rheinland, ist Diplom-Übersetzerin für Italienisch, Französisch und Englisch. Nach ihrem Studium an der Universität Mainz arbeitete sie zunächst als Übersetzerin und Lektorin in Bonn und im norditalienischen Modena, heute ist sie im Sprachendienst eines Schweizer Unternehmens tätig. In ihrer Freizeit widmet sie sich dem Schreiben und der Musik und ist als Geigerin in mehreren Kammermusikensembles und Orchestern aktiv. Sie lebt mit ihrem Mann in der Bodensee-Region.
Kapitel 1
Bonn, Mai 1821
Immer wenn sie mit ihrer Mutter auf den Markt ging, kam es Johanna so vor, als betrete sie die Oper.
»Erdbeeren! Frische Erdbeeren!«, rief ein stämmiges Marktweib im typischen Singsang des Vorgebirgsdialekts.
»Möhren, heute nur zum halben Preis!«, übertönte sie die hagere Händlerin vom Nachbarstand.
»Unsere Erdbeeren sind die besten!«, krakeelte die Vorgebirgsfrau daraufhin eine halbe Oktave höher.
Johanna genoss das akustische Schauspiel mit allen Sinnen. Es war wie ein Duett auf der Bühne, in dem zwei Opernsängerinnen um die Wette eiferten und immer höher, immer lauter, immer intensiver sangen.
Plötzlich mischte sich eine krächzende Stimme dazu:
»Napoleon ist tot!« Erstaunt drehte sich Johanna um.
Ein etwa dreizehnjähriger Junge schwenkte eine Zeitung wie eine Fahne hin und her. »Napoleon ist tot! Gestorben auf Sankt Helena. Lesen Sie die näheren Umstände in dieser Zeitung!«
Die Marktweiber verstummten und überließen dem Zeitungsburschen die Bühne. Offensichtlich verfügte er über Neuigkeiten, die noch sensationeller waren als der niedrige Möhrenpreis.
Einige Passanten liefen auf den Jungen zu und rissen ihm die Zeitungen fast aus der Hand.
»Schnell! Kauf eine Zeitung für Papa!« Johannas Mutter drückte ihr einen Groschen in die Hand. »Das wird ihn interessieren.«
Geschickt schlüpfte Johanna durch die Menschenmenge hindurch. Sie war knapp elf Jahre alt und ziemlich klein und wendig.
Als sie mit einer Zeitung wieder bei ihrer Mutter angelangt war, hatte das übliche Marktgeschehen erneut Fahrt aufgenommen, und die beiden Marktweiber priesen aus voller Kehle ihre Möhren und Erdbeeren an.
Die Sonne stieg höher, und es war auf einmal unangenehm feuchtwarm unter all den Menschen. Johannas dunkelbraune Locken klebten ihr am Kopf. Sie hätte dennoch gern weiter den Rhythmen und Melodien des rheinischen Dialekts gelauscht und überlegt, wie sie die unterschiedlichen Stimmen in Noten festhalten würde. Aber ihre Mutter hatte es eilig, zurück nach Hause zu kommen.
»Kannst du dich noch an die Franzosen erinnern?«, fragte sie Johanna auf dem Heimweg.
»Bien sûr!« Johanna hatte immer ein französisches Wort auf den Lippen, sobald es um Frankreich und die Franzosen ging. In der Schule bei Fräulein Probst sprachen sie dauernd Französisch, und Johanna mochte die völlig anders klingende Sprache sehr. Sie hatte den Eindruck, als ob alles, was man sagte, gleich viel eleganter wirkte als in der heimischen Mundart. »Die Franzosen waren hier, als ich klein war. Bevor die Preußen kamen, die so steif sind wie Zinnsoldaten. Damals haben wir auch auf der Straße französisch gesprochen.«
»Du hast wirklich ein gutes Gedächtnis«, sagte ihre Mutter. »Aber sprich nicht von ›Zinnsoldaten‹, wenn du über die Preußen redest.«
»Alle sagen das.«
»Nein, nicht alle. Höchstens einige. Und ich möchte nicht, dass du das sagst.«
»Warum nicht?«
Ihre Mutter seufzte. »Frag mir keine Löcher in den Bauch. Tu einfach, was ich dir sage.«
Johanna schürzte die Lippen. Die Antwort war mal wieder typisch. Immer wenn es interessant wurde, sollte sie Ruhe geben. Ich werde Papa nachher fragen, nahm sie sich vor. Er ließ sich immer bereitwillig auf all ihre Warum-Fragen ein.
»Napoleon ist tot!«, rief Johanna, sowie ihre Mutter die Haustür aufgeschlossen hatte. Sie rannte ins Arbeitszimmer ihres Vaters und schlang die Arme um seinen Hals.
»Was sagst du da?« Durch Johannas ungestüme Umarmung rutsche ihm die Lesebrille halb von der Nase. Aber er lächelte.
»Hier!« Stolz reichte ihm Johanna die Zeitung und stand erwartungsvoll neben ihm.
Er legte das Blatt vor sich auf den Schreibtisch und vertiefte sich in die Lektüre, dabei bildeten sich zwei tiefe, strenge Furchen auf seiner Stirn – ein deutliches Zeichen für Johanna, dass sie ihn jetzt nicht mit Fragen stören sollte. Sie musste ihren Wissensdrang noch ein wenig zügeln. Daher ging sie leise zum Bücherregal und zog einen Gedichtband heraus. Sie liebte Texte in Reimform. Es war Musik in Worten. Zu gern probierte sie, auf die Reime zu singen oder sich dazu eine Melodie auszudenken.
Schließlich faltete ihr Vater die Zeitung zusammen und nahm die Lesebrille ab.
»Hattest du ihn gern?«, fragte sie.
»Wen? Napoleon?«
Sie nickte.
Er wiegte den Kopf hin und her. »Die Franzosen haben das Rheinland besetzt, als ich noch sehr jung war. Sie brachten ihre Gesetze, ihre Lebensweise, ihre Sprache mit an den Rhein, und ich habe mich schnell an sie gewöhnt. Ihr Kriegsherr und späterer Kaiser Napoleon hat allerdings ganz Europa umgekrempelt.« Gedankenverloren blickte er auf die Aufsätze seiner Schüler, die er korrigiert hatte, bevor Johanna zu ihm ins Arbeitszimmer gerannt war.
»Wie? Umgekrempelt?«, bohrte sie nach.
»Die Fürsten wurden abgesetzt und flohen, was teilweise nicht so schlecht war; aber Napoleons Truppen richteten auch große Verwüstungen an und sorgten für viel menschliches Leid. Daher kann ich nicht sagen, dass ich Napoleon mochte.« Er ging zum Bücherregal und nahm einen Atlas heraus. »Sieh mal, hier ist er überall gewesen.«
Johanna beugte sich über die Karte, die ihr Vater aufgeschlagen hatte. Er zeigte ihr Korsika, wo Napoleon geboren worden war, dann deutete er auf Paris und auf die vielen Gebiete in Europa, wohin Napoleon mit seinen Truppen gezogen war.
»So weit«, sagte sie ehrfürchtig. Sie war bislang nur bei ihren Verwandten in Köln gewesen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie viele Tage sie bis Italien oder Russland unterwegs sein würde.
Ihr Vater lehnte sich zurück, stützte die Ellbogen auf den Armlehnen seines Stuhls ab und presste die Fingerkuppen aneinander, wie immer, wenn er nachdachte. Johanna wusste, dass er gleich weiterreden würde, ohne dass sie ihn dazu auffordern musste.
»Vor sechs Jahren hatte alles ein Ende. Napoleon wurde besiegt und nach Sankt Helena, eine einsame Insel am Ende der Welt, verbannt.«
Er schlug eine andere Seite im Atlas auf und zeigte ihr Napoleons Ort der Verbannung. »Die Könige und Fürsten kamen zurück und haben die alte Ordnung mehr oder weniger wiederhergestellt. Aber unser Rheinland, das wurde den Preußen zugesprochen. Und die mag hierzulande niemand besonders gern.«
»Wieso nicht?«
Ihr Vater schmunzelte, sodass sich ein Grübchen auf seiner rechten Wange bildete. »Weil sie protestantisch und völlig humorlos sind.«
»Deswegen sagen viele, dass sie steif sind wie Zinnsoldaten, oder?«
»Genau.«
Sie musste unbedingt herausbekommen, warum sie das nicht sagen sollte, wenn es doch wahr war. »Warum will Mama nicht, dass ich das sage?«
»Hm.« Er kratzte sich am Kinn. »Weil es despektierlich und nicht nett ist. Das sollten die Preußen nicht hören.«
»Aha.« Johanna beschloss, sich mit der Antwort zufriedenzugeben. Jedoch brannte ihr noch eine andere Frage unter den Nägeln. »Wenn die Preußen so unbeliebt sind, warum sind sie dann bei uns? Können wir sie nicht einfach bitten zu gehen? Oder sie wegjagen?«
Ihr Vater lachte auf. »Nein, das können wir ganz und gar nicht! Die Preußen haben das effektivste Militär der Welt. Gegen sie hätte ein Haufen unorganisierter Rheinländer keine Chance. Außerdem: Wer kommt dann?«
»Dann regieren sich die Rheinländer selbst.«
Er seufzte. »Ich glaube, das bekommen wir in hundert Jahren nicht hin. Weißt du, es ist besser, die jetzige Situation zu akzeptieren, wie sie ist. Wir haben es doch gut. Ich habe eine angesehene Arbeit als Lehrer, wir haben ein schönes Häuschen und genug zu essen, du kannst zu Fräulein Probst in die Schule gehen und zeichnen, nähen, Klavierspielen und Fremdsprachen lernen. Das wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen; damals durften lediglich adlige Mädchen solch schönen Dinge lernen. Wenn wir uns auflehnen, nur weil die Preußen anders sind als wir und wir sie nicht mögen, dann könnten wir all das in Gefahr bringen. Das lohnt sich nicht.«
»Hm. Stimmt.« Johanna war zwar nicht gänzlich überzeugt, ließ es aber dabei...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufbau Künstlerbiografien • Bedeutende Frauen • Bedeutende Frauen, die die Welt verändern • Biedermeier • Biografie • Biografischer Roman • Bonn • Dichterin • die die Welt verändern • Frauenrechte • Frauenschicksal • Große Liebe • historisch • Historischer Roman • Komponistin • Lehrerin einer neuen Zeit • Liebesroman • Maikäferbund • Musikerin • Revolution 1848 • Rhein • Vormärz |
ISBN-10 | 3-492-98958-6 / 3492989586 |
ISBN-13 | 978-3-492-98958-9 / 9783492989589 |
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