Brüderchen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
176 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60414-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Brüderchen -  Clara Dupont-Monod
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»Eine wunderbare Ode an das Leben.« Le Figaro Eines Tages kommt in einer Familie ein Kind zur Welt. Seine schwarzen Augen tanzen, verlieren sich im Ungefähren, ein verletzliches Wesen, das nie laufen lernen wird. Alle Liebe, alle Zeit gilt von nun an diesem ewigen Kind. Während der älteste Bruder sich in der Fürsorge für das Geschwisterchen verliert, revoltiert die mittlere Schwester. Sie kämpft mit ihrer Wut über dieses Wesen, das die Familienmitglieder in eine eigene, nur ihnen verständliche Welt hüllt. Und der Jüngste, der erst später geboren wird, spürt die Präsenz des Kindes bei jedem Schritt, den er an seiner Stelle tut. »Brüderchen« ist ein Roman voll existenzieller Kraft und karger Schönheit, so majestätisch wie die Berge der Cevennen, die diese Familie schützend umgeben. »Ein Roman von überbordender Emotionalität und Vitalität.« Elle »Feinfühlig und treffend schildert die Autorin, wie der Lebensweg jedes Einzelnen durch die Geburt des Bruders bestimmt wird.« Le Monde des Livres »Dieser Roman bewegt uns, weil er Familie als eine Daseinsform beschreibt, die immer fragil ist und doch belastbar.« Le Figaro Littéraire »Ein aufwühlendes, intensiv und lebendig geschriebenes Buch.« Le Parisien Week-end

Clara Dupont-Monod, geboren 1973 in Paris, ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie war u.a. für die Radiosender France Culture und Canal+ tätig, bevor sie 2011 zu France Inter wechselte. Dort hat sie seit vielen Jahren eine eigene Literatursendung. Mit »Brüderchen« veröffentlichte sie ihren bisher persönlichsten Roman, der über Monate auf den französischen Bestsellerlisten stand. Neben dem Prix Femina erhielt Dupont-Monod für »Brüderchen« den Prix Goncourt des Lycéens.

Clara Dupont-Monod, geboren 1973 in Paris, ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie war u.a. für die Radiosender France Culture und Canal+ tätig, bevor sie 2011 zu France Inter wechselte. Dort hat sie seit vielen Jahren eine eigene Literatursendung. Mit »Brüderchen« veröffentlichte sie ihren bisher persönlichsten Roman, der über Monate auf den französischen Bestsellerlisten stand. Neben dem Prix Femina erhielt Dupont-Monod für »Brüderchen« den Prix Goncourt des Lycéens, mit dem 15- bis 18-jährige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in Frankreich das beste Buch des Jahres küren.

1
Der große Bruder


Eines Tages wurde in einer Familie ein unangepasstes Kind geboren. Und obwohl das ein etwas seltsames Wort ist, beschreibt es die Realität eines kraftlosen Körpers und eines beweglichen, leeren Blicks sehr gut. »Unterentwickelt« wäre fehl am Platz, »beschädigt« auch, denn das klingt nach einem kaputten Gegenstand, den man nur noch wegwerfen kann. »Unangepasst« hingegen benennt die Tatsache, dass das Kind nicht nach gängigen Maßstäben funktionierte (eine Hand ist zum Greifen da, Beine zum Laufen), dass es in vielerlei Hinsicht außen vor war, aber trotzdem am Leben teilhatte, wie ein Schatten in der Ecke eines Gemäldes, der nicht so ganz dazuzugehören scheint, obwohl der Künstler ihn absichtlich dorthin gemalt hat.

 

Anfangs fiel der Familie nichts Ungewöhnliches auf. Das Baby war sogar bildhübsch. Die Mutter empfing Gäste aus dem Dorf und aus den umliegenden Orten. Autotüren knallten, Körper entfalteten sich, wagten ein paar schwankende Schritte. Das Haus war nur über eine schmale, gewundene Straße erreichbar. Mägen rebellierten. Einige Freunde und Bekannte wohnten in der Nähe, aber in den Bergen ist Nähe relativ. Um von einem Ort zum anderen zu gelangen, musste man hinunter- und wieder hinauffahren. Die Berge machten seekrank. Auf dem Hof fühlte es sich manchmal so an, als wäre man von gigantischen, in der Bewegung erstarrten Wellen umgeben, auf denen grüne Gischt schäumte. Wenn Wind aufkam und an den Bäumen rüttelte, hörte man ein Meeresrauschen. Dann erinnerte der Hof an eine sturmumtoste Insel.

Man betrat ihn durch ein massives, mit schwarzen Nägeln beschlagenes Holztor. Kennern zufolge stammte es aus dem Mittelalter, gezimmert von Vorfahren, die sich vor Jahrhunderten in den Cevennen niedergelassen hatten. Sie hatten die beiden Wohnhäuser erbaut, später dann das Vordach, den Backofen, den Holzschuppen und die Mühle. Wenn die schmale Bergstraße über eine kleine Brücke führte und das erste Haus mit seiner Terrasse am Bach auftauchte, drangen aus den Autos erleichterte Seufzer. Das zweite Haus, in dem das Kind zur Welt gekommen war, stand direkt hinter dem ersten. Dazu gehörte das mittelalterliche Tor, dessen Flügel die Mutter weit geöffnet hatte, um Freunde und Familie zu empfangen. Sie brachte Kastanienwein, den die Gäste verzückt im schattigen Hof tranken. Alle senkten die Stimme, um das Baby, das brav in seiner Wippe lag, nicht zu stören. Der Säugling roch nach Orangenblüten. Er wirkte aufmerksam und ruhig. Hatte runde, blasse Wangen, dunkelbraunes Haar und große schwarze Augen. So sahen in dieser Gegend viele aus, er war eindeutig ein Einheimischer. Die Berge erinnerten an Matronen, die über die Babywippe wachten, die Füße im Wasser, den Leib in Wind gehüllt. Das Kind war wie alle anderen, es gehörte dazu. Hier hatten die Neugeborenen schwarze Augen, und die Alten waren mager und sehnig. Alles war, wie es sein sollte.

 

Nach drei Monaten fiel auf, dass das Kind nicht brabbelte. Es gab keinen Laut von sich, außer wenn es weinte. Manchmal lächelte es, runzelte die Stirn, seufzte leise, wenn das Fläschchen leer war, zuckte zusammen, wenn eine Tür zuschlug. Das war alles. Weinen, Lächeln, Stirnrunzeln, Seufzen, Zusammenzucken. Sonst nichts. Es rührte sich nicht. Es lag völlig still da – leblos, dachten die Eltern, ohne es laut auszusprechen. Das Kind interessierte sich nicht für Gesichter, für Mobiles oder Rasseln. Vor allem aber fixierten seine dunklen Augen nie einen festen Punkt. Sie schwebten ziellos umher, glitten ab und an zur Seite weg. Die Pupillen kreisten, folgten dem Tanz eines unsichtbaren Insekts, starrten dann wieder ins Leere. Das Kind sah nichts, nicht die Brücke, nicht die beiden hohen Häuser, nicht die rötliche Steinmauer zwischen Hof und Straße, die schon seit Urzeiten hier stand, die tausende Male von einem Unwetter oder dem Verkehr zerstört worden war, tausende Male wiederaufgebaut. Es sah nicht die Berge mit ihrer rauen Haut, nicht die Bäume, die auf ihrem Rücken wuchsen, nicht den Bach, der den Hang in zwei Hälften teilte. Die Augen des Jungen strichen über alles hinweg, die Landschaft und die Menschen. Sie verweilten auf nichts und niemandem.

 

Eines Tages kniete sich die Mutter neben die Babywippe. Sie hielt eine Orange in der Hand. Langsam bewegte sie sie vor dem Gesicht des Kindes hin und her. Die großen schwarzen Augen richteten sich nicht auf die Frucht. Sie blickten woandershin. Wohin, konnte niemand sagen. Die Mutter gab nicht auf, versuchte es weiter. In ihrer Hand hielt sie den Beweis, dass das Kind schlecht oder gar nicht sehen konnte.

Man wird nie erfahren, welche Stiche in solch einem Moment in ein Elternherz fahren. Wir, die rötlichen Steine im Hof, die wir diese Geschichte erzählen, stehen auf der Seite der Kinder. Von ihnen möchten wir berichten. Von unserem Platz in der Mauer aus beobachten wir sie, sind seit Jahrtausenden Zeugen ihres Lebens. Kinder werden in einer Geschichte schnell vergessen. Man treibt sie ins Haus wie Lämmer, ignoriert sie, statt sie zu beschützen. Dabei sind die Kinder die Einzigen, die mit uns spielen. Sie geben uns Namen, malen uns bunt an, zeichnen und schreiben auf uns, kleben uns Augen, Mund und Haare aus Gras auf, schichten uns übereinander, um ein Haus zu bauen, lassen uns übers Wasser hüpfen, markieren Tore mit uns oder legen uns zu Eisenbahnschienen aus. Erwachsene benutzen uns, Kinder geben uns ein neues Leben. Darum stehen wir fest an ihrer Seite. Darum sind wir ihnen dankbar. Wir sind es ihnen schuldig, diese Geschichte zu erzählen – und die Erwachsenen sollten nie vergessen, dass sie dem Kind, das sie einst waren, für immer Dank schulden. Darum also richtete sich unser Blick auf die Kinder, als der Vater sie in den Hof rief.

 

Die Plastikstühle scharrten über den Boden. Sie waren zu zweit. Der große Bruder und die kleine Schwester. Mit dunklem Haar und schwarzen Augen, was sonst. Der Große war neun Jahre alt und saß kerzengerade da, mit durchgedrückter Brust. Er hatte knochige, magere Beine, wie so viele Kinder aus der Gegend, übersät von Schrammen und blauen Flecken, Beine, die es gewohnt waren, über Felsen zu klettern und einen Hang hinabzusteigen, Beine, die mit dem dornigen Ginster vertraut waren. Instinktiv legte er seiner Schwester eine Hand auf die Schulter. Er war ein hochmütiger Junge; sein Hochmut hatte jedoch nichts mit Arroganz zu tun, sondern entsprang einem romantischen Ideal von Zähigkeit und Ausdauer. Das unterschied ihn von den Angebern. Streng wachte er über seine kleine Schwester, sorgte dafür, dass Cousins und Cousinen sich an die gerechten Regeln hielten, die er aufstellte, erwartete von seinen Spielkameraden Mut und Loyalität. Wer vor einer Gefahr zurückschreckte oder einen neuen Rekord auf seiner persönlichen Feigheitsskala aufstellte, den strafte er mit Verachtung, und sein Urteil war gnadenlos. Woher er diese Selbstsicherheit nahm, wusste niemand, vielleicht hatten die Berge ihm eine gewisse Härte in die Wiege gelegt. Das beobachten wir immer wieder: Der Geburtsort prägt den Menschen und dient ihm manchmal sogar als Familie.

Als der große Bruder an jenem Abend kerzengerade und mit bebendem Kinn seinem Vater gegenübersaß, besann er sich auf seine ritterlichen Werte. Doch er brauchte die Fäuste nicht zu ballen. Mit ruhiger Stimme erklärte der Vater, dass ihr kleiner Bruder höchstwahrscheinlich blind sei. Man habe Arzttermine vereinbart, in zwei Monaten werde die Familie Gewissheit haben. Die Geschwister sollten die Sache als Chance sehen, denn sie würden in der Schule die Einzigen sein, die wüssten, wie man mit Karten in Brailleschrift spielt.

Im ersten Moment waren die Kinder unsicher, aber bei der Aussicht, es in der Schule zu Berühmtheit zu bringen, löste sich dieses Gefühl in Luft auf. Dann hatte das Ganze also auch sein Gutes. Ihr kleiner Bruder war blind, na und? Sie würden die Könige des Schulhofs sein! Für den großen Bruder war das nur folgerichtig. Schon jetzt war er ein Anführer, war hübsch und stark und geschickt, und sein wortkarges Auftreten verstärkte diesen Ruf noch. Beim Abendessen verhandelte er mit seiner Schwester und bestand darauf, das Braille-Kartenspiel als Erster in seiner Klasse herumzeigen zu dürfen. Der Vater gab den Schiedsrichter. Noch begriff niemand, dass der Boden unter ihren Füßen Risse bekommen hatte. Bald würden die Eltern von den letzten unbeschwerten Tagen sprechen, denn tragischerweise erkennt man Sorglosigkeit...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2023
Übersetzer Sonja Finck
Sprache deutsch
Original-Titel S´Adapter
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Behinderung • Belletristik Neuerscheinung 2023 • Bestseller aus Frankreich • Bruder und Schwester • Eltern-Kind-Beziehung • Elternliebe • Familienleben • französische Autorin • Französische Literatur • Geschwister • Geschwisterliebe • Inklusion • Kind mit Behinderung • Krankheit • Leben mit behinderten Kindern • Leben mit Behinderung • Menschen mit Behinderung • Prix Fémina • Prix Goncourt Finalist • Prix Goncourt Shortlist • Roman Behinderung • roman tod • Tod • Trauer • Verlust
ISBN-10 3-492-60414-5 / 3492604145
ISBN-13 978-3-492-60414-7 / 9783492604147
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