Sehnsucht nach Glück (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60401-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sehnsucht nach Glück -  Rebecca Maly
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Der Krieg hat die Schwestern Annie und Charlotte entzweit, nun müssen sie ihr Zuhause wiederaufbauen und Vergebung lernen Mülheim an der Ruhr, 1945: Amerikanische Panzer rollen durch die zerstörte Stadt. Die junge Rotkreuzhelferin Annie ist überglücklich, ihre Schwester nach Monaten der Unsicherheit in einem Gefangenenlager wiederzutreffen. Doch schnell wird klar, wie unversöhnlich ihre Positionen sind. Annie hat im Lazarett deutschen und feindlichen Soldaten gleichermaßen geholfen und sich obendrein in einen Amerikaner verliebt, für Charlotte sind die Amerikaner Feinde. Als die Schwestern endlich zurück zu den Eltern dürfen, liegt ihr Zuhause in der kleinen Bergbausiedlung in Trümmern. Kann die Familie sich wieder versöhnen und ein neues Leben aufbauen? Hintergründe zur Entstehung der beiden Romane über die »Töchter des Ruhrpotts« Mülheim an der Ruhr ist die Heimat der Autorin Rebecca Maly. Als die studierte Archäologin 2021 in der Nähe von Mülheim eine Ausgrabung in einem Gefangenenlager aus dem Zweiten Weltkrieg durchführte, war sie von den Spuren der Inhaftierten, die unter widrigsten Bedingungen Schutzgruben in den Erdboden gegraben hatten, nachhaltig berührt. So wuchs ihr Wunsch, mehr über ihre Heimatstadt während jener Jahre zu recherchieren. Die Schicksale, auf die sie stieß, waren so spannend, dass sie diese Romane entwickelte.

Rebecca Maly, geboren 1978, arbeitete als Archäologin, sowie in Köln und Los Angeles beim Film, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Gespräche mit indianischen Freunden und ausgedehnte Reisen im Westen der USA inspirierten sie zu diesem Roman. Unter ihrem realen Namen Rebekka Pax veröffentlichte sie bereits erfolgreich mehrere Romane und wurde 2017 für »Die Schwestern vom Eisfluss« mit dem Delia-Preis ausgezeichnet.

Kapitel 1


Proklamation Nr. 1

An das deutsche Volk!

Die alliierten Streitkräfte in Europa, die unter meinem
Kommando stehen, haben nun deutschen Boden betreten.
Wir kommen als Eroberer, aber nicht als Unterdrücker. (…)
Wir werden die Naziherrschaft beenden,
die Nazipartei auflösen und die grausamen, tyrannischen
und diskriminierenden Gesetze und Einrichtungen,
die die Partei zu verantworten hat, abschaffen.

General Eisenhower, Donnison, Appendix III, S. 477 f.

Büderich, Anfang März 1945


Die Frühlingssonne stahl sich in trügerischer Sicherheit über den Horizont, beinahe als gäbe es keinen Krieg. Die bereiften Wiesen lagen im Westen unter einer dünnen Nebelschicht, von der Annie nicht sagen konnte, ob es tatsächlich nur Feuchtigkeit war, abgekühlter und noch immer beißender Rauch eines nächtlichen Feuers oder das Produkt der Nebelkanonen, mit denen die Wehrmacht ihren Rückzug deckte.

Einen Rückzug, über den man nicht sprechen durfte, wollte man nicht riskieren, am nächsten Baum aufgeknüpft zu werden.

Annie sehnte den Tag herbei, an dem das Regime endlich seine Waffen strecken würde. An diesem frühen Märzmorgen schien das Ende wieder ein Stückchen nähergerückt zu sein. Doch dazwischen lagen noch Kämpfe ohne Zahl. Hitler hatte keine Liebe zum eigenen Volk, das war von Anfang an nichts als Lüge gewesen. In seiner Machtgier und Verzweiflung warf er seinen Feinden alles entgegen, was das halb ausgeblutete Reich zu geben vermochte. Alte Männer, nur halb genesene Verwundete und Jungen, die gerade dem Kindesalter entwachsen waren. Jeder musste für den irren Traum des Führers sterben.

Annie rieb sich fröstelnd die Arme und dachte an daheim.

Ob sie jetzt auch ihren Bruder Ernst geholt hatten? Er war mit seinen sechzehn Jahren begeistert bei der Sache und schien sich für unverwundbar zu halten. Schon zweimal hatte er mit seinen Kameraden von der Hitlerjugend für die Infanterie geschanzt.

Annie gab acht, mit ihren einfachen Holzklotschen nicht zu lang durch das taufeuchte Gras zu laufen. Sie waren zwar geölt, aber den ganzen Tag mit feuchten Socken zu arbeiten war keine erfreuliche Aussicht.

Auf einem überwachsenen Weg aus Feldsteinen folgte sie einem Zaun, der wiederum einen Wassergraben flankierte, in dem schlammiges Wasser träge gluckerte. Sie hatte das ländliche Örtchen Büderich erst kennengelernt, als man sie mit einigen Hilfsschwestern auf einem Lastwagen hierherkarrte. Direkt am Rhein gelegen, gab es viele Wiesen und Felder, die von Hecken, Entwässerungsgräben und Zäunen unterteilt wurden. Vereinzelte alte Eichen und kleine Waldstücke brachen die Sichtlinien. Auf dem fruchtbaren Boden grasten sonst sicherlich viele Rinder, Pferde und Schafe, doch das Vieh war bereits im Herbst abgetrieben worden, um es vor den herannahenden Alliierten in Sicherheit zu bringen. Geblieben waren nur die Trittspuren der Tiere im weichen Boden, das Wasser darin glänzte zwischen winterlich verblichenen Grashalmen wie achtlos fortgeworfene Spiegelscherben.

Die Nacht war lang gewesen. Annie spürte die Müdigkeit in jedem Knochen. Sie hatten das Lazarett in der katholischen Schule an der Rheinstraße eingerichtet. Dort war kaum an Schlaf zu denken. Zu jeder Tages- und Nachtzeit trafen neue Verwundete ein. Annie betrat den Garten eines verlassenen Nachbarhauses und setzte sich auf eine kleine Bank, die aus einem Brett bestand, das über zwei Findlinge gelegt worden war.

Mit einem Seufzen lehnte sie sich an den Schuppen in ihrem Rücken und schloss die Augen. Die Märzsonne besaß schon ein wenig Kraft. Annie rieb sich die klammen Hände, die von dem vielen Waschen mit Kernseife und Desinfektionsmittel ganz spröde waren. Die Wärme kehrte nur schleichend zurück, doch sie tat so wohl.

Auch ihre Wangen wurden langsam warm. Annie liebte den Frühling. Sie blinzelte. Rote Pünktchen mischten sich in ihren Blick, nachdem sie direkt in die Sonne geschaut hatte. Neben ihr ließ ein sachter Windstoß die verdorrten Blätter einer Hainbuche rascheln. In der Hecke nebenan lärmten Sperlinge, piepste hin und wieder ein winziger Zaunkönig.

Für einen Augenblick rückte der Krieg ein wenig von Annie ab, und sie konnte wieder freier atmen. Sie zog ihren Zopf nach vorn und begann, ihn zu lösen. Mit den Fingern kämmte sie durch die Strähnen, die mit gutem Willen weizenblond, eigentlich aber eher straßenköterblond waren. Dick wie das Haar ihrer Mutter. Sie ertastete, ob der Scheitel gerade verlief, dann flocht sie den Zopf erneut.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen nahm sie ihre lederne Umhängetasche auf den Schoß und zog ein Schreibheft heraus. Vorne stand ihr Name gestempelt, darüber Lyzeum der Stadt Mülheim. Die Schule war vor zwei Jahren nach einem Volltreffer ausgebrannt, seitdem war zuerst in Ausweichgebäuden, dann in Arbeitskreisen unterrichtet worden. Als Tochter eines Bergmanns auf eine höhere Schule gehen zu dürfen, war ein Privileg, dessen Annie sich jeden Tag aufs Neue bewusst war. Auch wenn sie schon lange keinen richtigen Unterricht mehr gehabt hatte.

Ohne Frau Nierhaus hätte sie das niemals geschafft. Die pensionierte Lehrerin gab einigen Mädchen Privatunterricht und hielt nicht viel von den Lehrplänen der Nazis. Die Eltern kannten sie noch von früher, sie war Muttis ehemalige Klassenlehrerin und eine außerordentlich patente Frau, die vor nichts und niemandem Angst hatte. So kam es Annie zumindest vor. Für den Preis von ein paar Eiern und etwas Deputatkohle teilte sie ihren Wissensschatz und ihren unverbrüchlichen Glauben an eine bessere Welt mit Annie. Und Annie verehrte sie dafür, auch wenn es bedeutete, dass sie Grammatik pauken und Aufsätze schreiben musste.

Die Nierhaus erwartete nicht, dass Annie weitermachte, während sie als Rotkreuzhelferin an der Front war. Aber sie musste. Musste einfach! Das Lernen war ihr Rettungsanker, ihr winziges Stückchen Zukunft, in das sie sich wie in einen Schutzpanzer einhüllen konnte.

Sie blätterte durch ein Reclam-Heftchen. Auf dem dünnen Einband stand Emilia Galotti, doch im Inneren verbarg sich Nathan der Weise. Annie las konzentriert und machte sich Notizen, während sie über die Bedeutung der Parabel grübelte. Für wenige Minuten waren Krieg und Elend weit, weit fort. Schließlich riss sie ein fernes Donnern aus der Konzentration.

Einen Moment wollte Annie sich noch erlauben, dann würde sie wieder stark genug sein, um der Gewalt des Krieges ins Antlitz zu schauen und nicht davor zurückzuweichen.

Viele von Annies ehemaligen Mitschülerinnen aus dem Lyzeum halfen nun an der Front oder arbeiteten in Rüstungsfabriken. Sie alle hatten in den Bund Deutscher Mädel gemusst und waren dort »an Körper und Geist geschult« worden, wie man ihnen eingetrichtert hatte, um dem Reich in der Stunde der Not, in der Stunde des letzten Aufbegehrens beizustehen. Mit dem Herzen war Annie nie dabei gewesen.

Von den drei Kindern der Neumanns war sie mit ihren neunzehn Jahren als Älteste die Einzige, die wusste, dass die Eltern früher im linken Widerstand gewesen waren. Sie erinnerte sich an die Zeit vor der Machtergreifung und wünschte sich mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie eines Tages wieder dahin zurückkehren würden.

Ihren Kindern zuliebe hatten Vati und Mutti sich zurückgenommen, sich geduckt und den Mund gehalten. Annie wusste das, und sie bewunderte beide dafür, auch wenn es sie manchmal schrecklich wütend machte. Sie wollte nicht stumm sein, wollte etwas tun!

Und was tat sie? Nichts. Sie hatte keine Wahl. Um überhaupt noch in den Spiegel sehen zu können, hatte sie den einzigen Pfad eingeschlagen, der ihr moralisch offenstand: den Dienst als Lazaretthelferin. Sie pflegte Menschen. Verblendete Soldaten ebenso wie einfache Zivilisten, die zwischen die Fronten geraten waren oder einfach nur ihre Heimat verteidigen wollten. Aber selbst das führte bisweilen in dunkler Stunde zu Zweifeln an ihren eigenen Grundsätzen. Schadete sie ihrem Wunsch nach einem Richtungswechsel nicht, wenn sie einen jungen Soldaten gesund pflege, der...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2023
Reihe/Serie Töchter des Ruhrpotts
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bergbau • deutsche Familiengeschichte • Deutsche Geschichte • Dramatischer Roman • Familiengeschichte • Familienkonflikt • Familiensaga • Gefühle • Historischer Roman • Krankenschwester von St. Pauli • Liebesgeschichte • Nachkriegsdeutschland • Roman 50er Jahre • Roman für Frauen • Roman Krankenschwester • Roman Nachkriegszeit • roman schwestern • Ruhrgebiet • Ruhrpott • Ruhrpott-Roman • Ruhrpott-Saga • Schicksal • Schuld • unterschiedliche Schwestern • Versöhnung • Weltkrieg • Wiederaufbau • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-492-60401-3 / 3492604013
ISBN-13 978-3-492-60401-7 / 9783492604017
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