Institut für gute Mütter (eBook)

Roman | Dystopisch, aber zeitgeisty: dieser New-York-Times-Bestseller begeistert nicht nur Barack Obama
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2939-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Institut für gute Mütter -  Jessamine Chan
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Bin ich eine schlechte Mutter? Frida ist überfordert: Ihr Baby Harriet schreit und schreit und alles, wonach sich die alleinerziehende Mutter sehnt, ist eine halbe Stunde Ruhe und etwas Zeit für sich. Als sie das kleine Mädchen für eine Stunde unbeaufsichtigt zu Hause lässt, ruft ein Nachbar die Polizei. Was dann folgt, ist der Albtraum einer jeden Mutter: Frida verliert das Sorgerecht und wird in eine Besserungsanstalt gesteckt. Im Institut für gute Mütter soll sie mithilfe einer KI-Puppe lernen, was es heißt, eine gute Mutter zu sein. Ein Jahr totaler Überwachung, Strafen und unmenschlicher Lektionen nimmt seinen Lauf. Steht auf Obamas Summer Reading List 2022! »Empörend aktuell« The New York Times Review »Ein bemerkenswerter, mitreißender Roman« Vogue

Jessamine Chan studierte an der Columbia University und arbeitete bei PublishersWeekly. Ihre Kurzgeschichten erschienen in Tin House und Epoch. 2017 erhielt sie das Literaturstipendium der Elizabeth George Foundation für die Fertigstellung ihres Debütromans, der in den USA für über eine Million Dollar verkauft wurde. 2022 erschien er bei Simon & Schuster. Chan lebt mit ihrer Familie in Chicago.

Jessamine Chan studierte an der Columbia University und arbeitete bei Publishers Weekly. Ihre Kurzgeschichten erschienen in Tin House und Epoch. 2017 erhielt sie das Literaturstipendium der Elizabeth George Foundation für die Fertigstellung ihres Debütromans, der in den USA für über eine Million Dollar verkauft wurde. 2022 erschien er bei Simon & Schuster. Chan lebt mit ihrer Familie in Chicago.

2. Kapitel


Frida ist versucht, an diesem Abend nicht nach Hause zu gehen, und überlegt, sich ein Zimmer im Gästehaus der Universität zu nehmen, ein Last-minute-Angebot auf Airbnb zu buchen oder spontan Freunde zu besuchen, die sie lange nicht gesehen hat. Vielleicht könnte sie auch an ihrem Arbeitsplatz im Großraumbüro schlafen, obwohl ihr Chef am Nachmittag bemerkt hatte, dass die Fotos von Harriet auf dem Schreibtisch verkehrt herum lagen, und Fragen stellte.

»Ich habe versucht, mich zu konzentrieren«, log sie.

Sobald ihr Chef außer Sichtweite war, stellte sie die Bilder wieder auf, strich mit den Fingern sanft darüber und entschuldigte sich: Harriet als fest in eine Decke gewickelte Neugeborene, Harriet mit einem Stück ihres ersten Geburtstagskuchens in der Hand, Harriet mit Herzchensonnenbrille und kariertem Strampler am Strand. Dieses Gesicht. Ihre Tochter. Das Einzige, was sie jemals richtig gemacht hat.

Sie bleibt bis elf, lange, nachdem sich das Gebäude geleert hat, bis die Angst, auf dem Campus überfallen zu werden, größer ist als die Angst vor dem, was sie zu Hause erwartet. Sie hatte den Tag über immer wieder mit Renee telefoniert. Die Sache mit den Kameras beunruhigt Renee, aber sie sagte mit einem tiefen Seufzen, die Regeln würden sich ständig ändern. Das Haus zu meiden sei keine Option für Frida. Genauso wenig wie sich mit Fakten zu wappnen. Nicht, dass Frida online viel gefunden hätte. Nur die üblichen Kommentare zu Social-Media-Sucht, zu Experimenten anhand von Big Data und der unheiligen Allianz zwischen der Regierung und Technologiekonzernen. Zu Liveübertragungen von Geburten und Gewaltverbrechen. Kontroversen über Kinder-Influencer auf YouTube. Darüber, ob versteckte Kameras zur Überwachung von Babysittern eine Bürgerrechtsverletzung darstellten. Über smarte Socken und Decken, die die Herzfrequenz, die Sauerstoffzufuhr und die Schlafqualität von Neugeborenen messen. Eine smarte Wiege, die das Schlaftraining übernimmt.

Sie alle werden seit Jahren über ihre Geräte beobachtet. Die rückläufige Kriminalitätsstatistik in London und Peking hat die Regierung davon überzeugt, in den meisten Städten der USA Überwachungskameras zu installieren. Und wer arbeitet denn heutzutage noch ohne Gesichtserkennungssoftware? Aber wenigstens weißt du, dass die Kameras da sind, hatte Renee gesagt. Frida sollte außerdem davon ausgehen, dass sie abgehört wird. Alles, was ein normaler Mensch tut, könnte als Akt des Widerstands ausgelegt werden. Du solltest nicht zu viele Spuren hinterlassen, hatte Renee gesagt. Hör mit dem ganzen Googeln auf. Gut möglich, dass auch dein Computer angezapft wird. Sie sollten den Fall nicht am Telefon besprechen.

Renee hatte Gerüchte gehört, dass die KSB ihren Bildungssektor ausbaut. Die Elternkurse werden auf den neuesten Stand gebracht. Anscheinend steuert das Silicon Valley Geld und Ressourcen bei. Die KSB stellt gerade wie verrückt ein, sie bieten jetzt auch weitaus höhere Gehälter. Unglücklicherweise wohnt Frida genau in dem Staat, in dem County, in dem das Testprogramm läuft.

»Ich wünschte, ich wüsste mehr darüber«, sagte Renee schließlich. »Wenn das vor einem Jahr oder sogar vor ein paar Monaten passiert wäre, hätte ich dir viel besser sagen können, was du tun sollst.« Sie hielt kurz inne. »Lass uns persönlich darüber sprechen. Bitte, Frida, versuch ruhig zu bleiben.«

Das Haus, das sich nie wie ihr eigenes angefühlt hat, kommt ihr heute Abend noch fremder vor. Nachdem sie ein Mikrowellenessen aufgewärmt, sämtliche Zimmer aufgeräumt und den Schmutz weggewischt hat, der von der KSB ins Haus getragen wurde, Schubladen geschlossen, Harriets Bettzeug zusammengelegt und ihre Spielsachen neu geordnet hat, zieht Frida sich in ihr vollgestopftes Badezimmer zurück und wünscht, sie könnte ihr gesamtes Leben in diesen Raum pferchen, hier essen und schlafen. Sie duscht und reinigt sich das Gesicht, trägt Toner, Feuchtigkeitscremes und ein Anti-Aging-Serum auf. Sie kämmt sich das nasse Haar, schneidet und feilt sich die Nägel und klebt ein Pflaster über die eingerissene Nagelhaut. Sie zupft sich die Augenbrauen. Dann setzt sie sich auf den Badewannenrand und kramt in dem Eimer mit den Badetieren: das aufziehbare Walross, das Quietscheentchen, der orangefarbene Oktopus, der keine Augen mehr hat. Sie berührt Harriets Bademantel, dann reibt sie sich die Hände mit Harriets Creme ein, damit sie den Kokosduft mit ins Bett nehmen kann.

Obwohl es ein milder Abend ist, zieht sie einen Kapuzenpullover über das Nachthemd. Die Erinnerung daran, wie die Männer ihre Kissen berührt haben, lässt sie erschaudern, und sie beschließt, die Bettwäsche zu wechseln.

Sie legt sich ins Bett, setzt die Kapuze auf und bindet sie unter dem Kinn zu, wünscht sich, sie hätte einen Schleier. Schon bald wird der Staat bemerken, dass sie kaum Besuch bekommt. Nach der Scheidung hat sie ihre alten New Yorker Freunde aus den Augen verloren und keine neuen gefunden, es gar nicht erst versucht, und so verbringt sie die meisten Abende, an denen Harriet nicht bei ihr ist, in der Gesellschaft ihres Telefons. Manchmal isst sie Cornflakes zum Abendbrot. Wenn sie Probleme hat, einzuschlafen, trainiert sie stundenlang Bauch und Beine. Wenn sie partout nicht schlafen kann, nimmt sie Unisom-Schlaftabletten und trinkt etwas. Wenn Harriet da ist, nur einen Bourbon. Wenn sie allein ist, drei oder vier hintereinander. Gott sei Dank haben die Männer keine leeren Flaschen gefunden. Jeden Morgen vor dem Frühstück misst sie ihren Taillenumfang. Sie kneift sich in den schlaffen Trizeps und die Innenseite der Oberschenkel. Sie lächelt ihrem Spiegelbild zu, um sich daran zu erinnern, dass sie früher einmal hübsch war. Die schlechten Angewohnheiten muss sie jetzt alle hinter sich lassen, darf nicht eitel, egoistisch oder labil wirken, als könnte sie sich nicht um sich selbst kümmern, als wäre sie vielleicht sogar – selbst in diesem Alter – nicht dazu in der Lage, sich um ein Kind zu kümmern.

Sie dreht sich auf die Seite, das Gesicht zum Fenster gewandt. Sie führt eine Hand zum Mund, hält dann inne. Sieht hoch zu dem rot blinkenden Licht. Bietet sie ihnen genug? Ist sie reumütig genug? Ängstlich genug? In ihren Zwanzigern ging sie zu einer Therapeutin, die sie eine Liste all ihrer Ängste anfertigen ließ, ein ermüdender Vorgang, der einzig und allein die Erkenntnis brachte, dass ihre Ängste willkürlich und grenzenlos waren. Wer auch immer ihr jetzt zusieht, sollte wissen, dass sie Angst vor Wäldern und großen Gewässern hat, vor Halmen und Seegras. Vor Langstreckenschwimmern, ganz allgemein vor Menschen, die unter Wasser atmen können. Sie hat Angst vor Menschen, die tanzen können. Sie hat Angst vor Nudisten und skandinavischen Wohnungseinrichtungen. Vor Fernsehsendungen, die mit einem toten Mädchen beginnen. Vor zu viel Sonne und vor zu wenig. Früher hatte sie Angst vor dem Baby, das in ihr heranwuchs, davor, dass es aufhören könnte zu wachsen und dass das tote Baby dann abgesaugt werden müsste, davor, dass Gust sie verlassen würde, wenn sie es nicht noch einmal probieren wollte. Sie hatte Angst davor, sie könnte den Zweifeln erliegen, ins Krankenhaus fahren und behaupten, die Blutungen hätten einfach so eingesetzt.

Heute Nacht hat sie Angst vor den Kameras, der Sozialarbeiterin, dem Gericht und dem Warten. Davor, was Gust und Susanna den Leuten erzählen. Vor der Tochter, deren Liebe vielleicht schon jetzt langsam erlischt. Davor, wie sehr es ihre Eltern treffen würde, wenn sie es wüssten.

Im Kopf geht sie die neuen Ängste immer wieder durch, versucht, die Bedeutung der Wörter abzunutzen. Ihr Herz rast, kalter Schweiß überzieht ihren Rücken. Vielleicht wäre es besser, eine schlechte Mutter einfach eine Klippe runterzustoßen, statt sie zu überwachen.

Frida hatte die Fotos letztes Jahr entdeckt. Es war Anfang Mai, mitten in der Nacht, die Schlaflosigkeit hatte wieder zugeschlagen. Sie wollte wissen, wie spät es ist, und nahm Gusts Telefon vom Nachttisch. Kurz nach drei war eine Nachricht eingegangen: Komm morgen zu mir.

Sie fand das Mädchen in einer Datei, die mit »Arbeit« beschriftet war. Susanna, die in einem sonnendurchfluteten Wohnzimmer einen Baiserkuchen in der Hand hält. Susanna, die den Kuchen in Gusts Schritt zerdrückt. Susanna, die ihm den Kuchen von der Haut leckt. Die Aufnahmen waren im Februar entstanden, als Frida im neunten Monat schwanger war. Sie fragte sich, wie Gust die Zeit gefunden hatte, sich mit diesem Mädchen zu treffen, was er von ihr wollte, aber es hatte Überstunden gegeben und Wochenenden mit Freunden, und ihr war Bettruhe verordnet worden, und sie hatte versucht, nicht die Art von Frau zu sein, die ihm andauernd am Hemdzipfel hing.

Stundenlang saß sie in der Küche, starrte auf Susannas obszönes Grinsen, ihr verschmiertes Gesicht mit dem kleinen, feuchten Mund, Gusts Penis in ihren Händen. Haut- und Haarfarbe des Mädchens hätten einem präraffaelitischen Gemälde entsprungen sein können, sie hatte einen blassen, von Sommersprossen überzogenen Körper mit schweren Brüsten und knabenhaften Hüften. Ihre schlanken Arme und Beine waren sehnig,...

Erscheint lt. Verlag 30.3.2023
Übersetzer Friederike Hofert
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Baby • Debüt • Dystopie • Feminismus • Feministisch • Frausein • Freiheit • Gesellschaft • Intelligenz • KI • Kinder • Kontrolle • Künstliche • Leseliste • Literatur • Margret Atwood • Mutter • Mutterschaft • Obama • Rassismus • Roboter • Selbstbestimmung • zeitgeisty • Zwang
ISBN-10 3-8437-2939-5 / 3843729395
ISBN-13 978-3-8437-2939-0 / 9783843729390
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