Der Fall (eBook)

Neu übersetzt von Grete Osterwald

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
128 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00455-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fall -  Albert Camus
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Einer der wichtigsten Textes des französischen Existenzialismus und der letzte vollendete Roman des Nobelpreisträgers Albert Camus in neuer Übersetzung: «Der vielleicht schönste und am wenigsten verstandene seiner Romane» Jean-Paul Sartre Im Amsterdamer Hafenviertel legt Jean-Baptiste Clamence, ehemals angesehener Anwalt, eine atemberaubende Beichte ab: Selbstgefälligkeit und Opportunismus seien die eigentlichen Triebfedern seines Rechtsbewusstseins gewesen. Denn als er eines Nachts eine Frau auf einer Brücke stehen sah, im Begriff, in den Fluss zu springen, hat er sie nicht daran gehindert. Seitdem befindet sich sein Leben im freien Fall, und er stellt sich selbst und den anderen Fragen: Warum tut man, was man tut? Warum lebt man, wie man lebt? Mit einem Nachwort von Iris Radisch.

Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall.Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.

Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor. Grete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde für ihre Arbeit mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman. Iris Radisch, geboren 1959 in Berlin. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und Tübingen. Tätig als Literaturkritikerin; seit 1990 Literaturredakteurin der ZEIT, seit 2013 dort Leiterin des Feuilletons. Daneben Tätigkeit als Fernsehmoderatorin. 2008 wurde sie mit dem Medienpreis für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache ausgezeichnet. 2009 ernannte die französische Kulturministerin Iris Radisch zum «Chevalier des Arts et Lettres».

I


Mit Verlaub, Monsieur, dürfte ich Ihnen meine Dienste anbieten, ohne Sie zu belästigen? Ich fürchte, Sie werden sich bei dem achtbaren Gorilla, der die Geschicke dieses Hauses lenkt, kein Gehör verschaffen können. Er spricht nämlich nur Holländisch. Er wird nicht erraten, dass Sie einen Genever wünschen, es sei denn, Sie gestatten mir, Ihre Sache zu vertreten. Na bitte, ich wage zu hoffen, dass er mich verstanden hat; dieses Kopfnicken muss wohl bedeuten, dass er meiner Argumentation folgt. Er schickt sich, in der Tat, er beeilt sich mit besonnener Langsamkeit. Sie haben Glück, er hat nicht geknurrt. Wenn er es ablehnt zu bedienen, genügt ihm ein Knurren: Niemand besteht weiter darauf. Seiner Launen König zu sein, ist das Privileg der Großtiere. Und ich ziehe mich zurück, Monsieur, erfreut, Ihnen behilflich gewesen zu sein. Ich danke Ihnen und nähme gern an, wenn ich sicher wäre, keiner dieser viel zitierten Lästigen zu sein. Sie sind zu gütig. So stelle ich mein Glas denn neben das Ihrige.

Sie haben recht, seine Stummheit ist ohrenbetäubend. Das ist das Schweigen der Urwälder, volles Rohr geladen. Bisweilen erstaunt mich die Sturheit, mit der unser schweigsamer Freund den zivilisierten Sprachen schmollt. Sein Beruf besteht darin, Matrosen aller Nationalitäten in dieser Amsterdamer Bar zu empfangen, die er übrigens, wer weiß warum, Mexico-City genannt hat. Bei derartigen Aufgaben möchte man doch befürchten, seine Ignoranz sei unangenehm, meinen Sie nicht? Stellen Sie sich den Cro-Magnon-Menschen als Bewohner des Turms von Babel vor! Er litte wohl mindestens unter Fremdheit. Aber nein, dieser hier spürt sein Exil nicht, er geht seiner Wege, nichts ficht ihn an. Einer der wenigen Sätze, die ich aus seinem Mund vernommen habe, besagte, es sei immer entweder oder. Was war entweder oder? Zweifellos unser Freund selbst. Ich muss gestehen, diese Geschöpfe so ganz aus einem Guss ziehen mich an. Wenn man viel über den Menschen nachgesonnen hat, ob von Berufs wegen oder aus Berufung, kommt es vor, dass man sich nach den Primaten zurücksehnt. Sie haben wenigstens keine Hintergedanken.

Wiewohl unser Wirt, ehrlich gesagt, schon einige hat, mag er sie auch im Dunkeln nähren. Durch das viele Nicht-Verstehen dessen, was in seiner Gegenwart gesagt wird, ist er misstrauisch geworden. Daher der leicht scheue Ernst seiner Miene, als hätte er zumindest den Verdacht, dass bei den Menschen irgendetwas nicht in Ordnung sei. Diese Gemütsverfassung erschwert jede Verhandlung über Dinge, die nicht seinen Beruf betreffen. Schauen Sie zum Beispiel das leere Rechteck dort an der Rückwand an, über seinem Kopf, das die Stelle eines abgehängten Bildes markiert. Dort hing tatsächlich ein Bild, und zwar ein besonders interessantes, ein wahres Meisterwerk. Nun ja, ich war zugegen, als der Hausherr es empfangen und als er es wieder abgegeben hat. Beide Male tat er es mit dem gleichen Misstrauen, nach wochenlanger Grübelei. In diesem Punkt hat die Gesellschaft, das muss man zugeben, seine freimütige, einfache Natur ein wenig verdorben.

Beachten Sie wohl, dass ich kein Urteil über ihn fälle. Ich halte sein Misstrauen für begründet und würde es durchaus teilen, wenn sich meine, wie Sie sehen, mitteilsame Natur dem nicht widersetzte. Ach, wie bin ich doch so redselig! und binde mich nur allzu leicht. Obwohl ich den gebührenden Abstand zu wahren weiß, ist mir jede Gelegenheit recht. Als ich noch in Frankreich lebte, konnte ich keinem Mann von Geist begegnen, ohne dass ich ihn sogleich in meine Gesellschaft gezogen hätte. Oh! ich sehe, Sie mucken auf bei meinen Konjunktiven. Ich gestehe meine Schwäche für diesen Modus und für die schöne Sprache überhaupt. Eine Schwäche, die ich mir vorwerfe, glauben Sie mir. Ich weiß sehr wohl, dass die Vorliebe für feine Wäsche nicht notwendigerweise dreckige Füße voraussetzt. Trotzdem. Wie Popeline verdeckt auch der Stil zu oft ein hässliches Ekzem. Ich tröste mich, indem ich mir sage, jene, die stammeln, sind schließlich auch nicht rein. Aber ja, nehmen wir noch einen Genever.

Haben Sie vor, lange in Amsterdam zu bleiben? Schöne Stadt, nicht wahr? Faszinierend? Sieh an, ein Adjektiv, das ich seit langer Zeit nicht mehr gehört habe. Genau genommen, seit ich Paris verlassen habe, und das ist Jahre her. Aber das Herz hat sein eigenes Gedächtnis, und ich habe nichts vergessen von unserer schönen Hauptstadt und ihren Quais. Paris ist eine wahre Augentäuschung, eine fantastische Kulisse, bewohnt von vier Millionen Silhouetten. Fast fünf Millionen nach der letzten Volkszählung? Na, hören Sie, die müssen Junge gemacht haben. Was mich allerdings nicht wundert. Mir wollte schon immer scheinen, zwei Leidenschaften entzündeten den Furor unserer Mitbürger: die Ideen und die Unzucht. Blindlings drauflos, gewissermaßen. Doch hüten wir uns, sie zu verdammen; sie sind nicht die Einzigen, in ganz Europa ist es so weit. Manchmal träume ich davon, was die künftigen Historiker über uns sagen werden. Für den modernen Menschen wird ein Satz genügen: Er trieb Unzucht und las Zeitung. Mit dieser starken Definition wird das Thema, wenn ich so sagen darf, erschöpft sein.

Die Holländer, o nein, die sind längst nicht so modern! Die haben Zeit, schauen Sie sich doch nur die Anwesenden an. Was tun sie? Nun ja, diese Herren leben von der Arbeit jener Damen. Es sind übrigens, männlich wie weiblich, höchst bürgerliche Geschöpfe, die gewöhnlich entweder aus Mythomanie oder aus Dummheit hergekommen sind. Aus überschäumender oder mangelnder Einbildungskraft letztendlich. Von Zeit zu Zeit zücken diese Herren das Messer oder den Revolver, aber glauben Sie nicht, ihnen wäre daran gelegen. Die Rolle verlangt es, das ist alles, und sie sterben vor Angst, wenn sie die letzten Patronen abfeuern. Davon abgesehen finde ich sie moralischer als die anderen, die im trauten Kreis der Familie töten, durch Zermürbung. Haben Sie nicht bemerkt, dass die Organisation unserer Gesellschaft auf diese Art der Liquidierung ausgerichtet ist? Sie haben doch sicher von den winzigen Fischen in den Flüssen Brasiliens gehört, die zu Tausenden über den leichtsinnigen Schwimmer herfallen, ihn im Nu mit schnellen kleinen Bissen säubern und nur ein blank geputztes Skelett übrig lassen? Nun, genau das ist ihre Organisation. «Wollen Sie ein sauberes Leben? Wie jedermann?» Sie sagen Ja, natürlich. Wie sollten Sie auch Nein sagen? «Einverstanden. Man wird Sie reinigen. So ist das hier, ein Beruf, eine Familie, organisierte Freizeit.» Und schon fallen die kleinen Zähne über das Fleisch her, putzen es weg bis auf die Knochen. Aber ich bin ungerecht. Es sollte nicht heißen ihre Organisation. Es ist schließlich die unsrige: Wer den anderen reinigt, hat gewonnen.

Endlich kommt unser Genever. Auf Ihr Wohlsein! Ja, der Gorilla hat den Mund aufgemacht, um mich Doktor zu nennen. Hierzulande ist jeder ein Doktor oder ein Professor. Sie zollen gern Respekt, aus Güte oder aus Bescheidenheit. Bei ihnen ist die Bosheit wenigstens keine nationale Institution. Im Übrigen bin ich kein Arzt. Wenn Sie es wissen wollen, vor meiner Zeit hier war ich Anwalt. Jetzt bin ich Bußrichter.

Aber gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Jean-Baptiste Clamence, stets zu Ihren Diensten. Erfreut, Sie kennenzulernen. Sie sind wahrscheinlich in Geschäften tätig? So ungefähr? Ausgezeichnete Antwort! Und stichhaltig dazu; wir sind in allem nur so ungefähr. Also sehen wir mal, erlauben Sie mir, Detektiv zu spielen. Sie haben ungefähr mein Alter, den kundigen Blick der über Vierzigjährigen, die ihre Runde an Erfahrungen so ungefähr gemacht haben, Sie sind so ungefähr gut gekleidet, das heißt, wie man es bei uns gewöhnlich ist, und Sie haben glatte Hände. Folglich ein Bourgeois, so ungefähr! Aber ein kultivierter Bourgeois! Bei gewissen Formen des Konjunktivs aufzumucken, beweist Ihre Bildung gleich doppelt, zum Ersten, weil Sie sie erkennen, und dann, weil Sie sich daran stoßen. Kurzum, ich amüsiere Sie, was, ganz ohne Eitelkeit, eine gewisse Offenheit Ihrerseits voraussetzt. Sie sind demnach so ungefähr … Aber was soll’s? Die Berufe interessieren mich weniger als die Sekten. Gestatten Sie mir, Ihnen zwei Fragen zu stellen, die Sie nur beantworten mögen, wenn sie Ihnen nicht indiskret erscheinen. Besitzen Sie Reichtümer? Einige? Gut. Haben Sie die mit den Armen geteilt? Nein. Demnach sind Sie, was ich einen Sadduzäer nenne. Wenn Sie nicht bibelkundig sind, gebe ich zu, bringt Sie das nicht weiter. Doch, es bringt Sie weiter? Dann kennen Sie also die Bibel? Wahrhaftig, Sie interessieren mich.

Ich für meinen Teil … Nun, urteilen Sie selbst. Gemessen an der Größe, den Schultern und diesem Gesicht, von dem man mir oft gesagt hat, es sehe grimmig aus, dürfte ich eher den Eindruck eines Rugbyspielers erwecken, nicht wahr? Aber nach der Konversation zu urteilen, muss man mir wohl ein wenig Schliff zugestehen. Das Kamel, aus dessen Haar mein Mantel besteht, litt wahrscheinlich an der Räude; dafür habe ich saubere Fingernägel. Auch ich bin kundig, und doch vertraue ich mich Ihnen ohne Vorbehalte an, gehe allein nach Ihrem Aussehen. Schließlich bin ich, trotz guter Manieren und schöner Sprache, ein Stammgast der Matrosenkneipen des Zeedijk. Ach, lassen wir das, suchen Sie nicht länger. Mein Beruf ist doppelter Natur, das ist alles, wie die gesamte Kreatur. Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich bin Bußrichter. Nur eins ist einfach in meinem Fall, ich besitze nichts. Ja, ich bin reich gewesen, nein, ich habe nichts mit den anderen geteilt. Was das beweist? Dass auch ich ein Sadduzäer war. Oh! hören Sie die Sirenen vom Hafen her? Es wird Nebel geben heute Nacht über der...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2023
Nachwort Iris Radisch
Übersetzer Grete Osterwald
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amsterdam • Bewusstsein • Der Fremde • Die Pest • Existenialismus • Fjodor Dostojewski • französische Bücher • Französische Literatur • Französischer Klassiker • Freiheit • Friedich Nietzsche • Hochstapler • Jean-Paul Sartre • Klassiker • la chute • Lebensbeichte • Literatur • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Monolog • Moral • Moralapostel • Neuübersetzung • Nobelpreis für Literatur • Nobelpreisträger Literatur • Philosophie • Richter • Roman • Simone de Beauvoir • Sinn des Lebens • Sinnfrage • sinnlosigkeit des lebens • Sündenfall • Weltliteratur
ISBN-10 3-644-00455-2 / 3644004552
ISBN-13 978-3-644-00455-9 / 9783644004559
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