Ambra (eBook)

Eine deutsch-polnische Familiengeschichte. | «Danzig hat wieder eine deutsche literarische Stimme.» FAZ
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01694-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ambra -  Sabrina Janesch
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
«Danzig hat wieder eine deutsche literarische Stimme.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Ein Roman über die seelischen Verletzungen einer Familie, die mit der schmerzvollen Geschichte einer Stadt korrespondieren. Der Herbstwind rast durch die Backsteinfluchten, als Kinga Mischa in der fernen Stadt am Meer ankommt. Hier in Danzig trifft sie nach dem Tod ihres Vaters auf ihre polnische Verwandtschaft. Im Gepäck ein Bernstein, in dem eine Spinne gefangen ist. Sie ahnt bereits, dass der Träger dieses Steins nicht bloß das Schmuckstück, sondern auch eine seherische Gabe geerbt hat: eine faszinierende wie dunkle Fähigkeit, die für Kinga zunehmend zur Qual wird. Denn als plötzlich zwei Menschen verschwinden, die ihr sehr nahestanden, gerät sie in Verdacht, ihre Kräfte auf grausame Art angewandt zu haben ...

Sabrina Janesch, geboren 1985 im niedersächsischen Gifhorn, studierte Kulturjournalismus in Hildesheim und Polonistik in Krakau. 2010 erschien ihr Romandebüt «Katzenberge», das u.a. mit dem Mara-Cassens-Preis und dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde. Über ihren Roman «Die goldene Stadt» (2017), der zum Bestseller wurde, schrieb Sten Nadolny: «Makellos geschrieben, fesselnde Figuren, Reichtum, wohin man sieht - plastisch, farbig und unvergesslich.» Sabrina Janesch, die Stipendiatin des Ledig House, New York, war und Stadtschreiberin von Danzig, lebt mit ihrer Familie in Münster.

Sabrina Janesch, geboren 1985 im niedersächsischen Gifhorn, studierte Kulturjournalismus in Hildesheim und Polonistik in Krakau. 2010 erschien ihr Romandebüt «Katzenberge», das u.a. mit dem Mara-Cassens-Preis und dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde. Über ihren Roman «Die goldene Stadt» (2017), der zum Bestseller wurde, schrieb Sten Nadolny: «Makellos geschrieben, fesselnde Figuren, Reichtum, wohin man sieht – plastisch, farbig und unvergesslich.» Sabrina Janesch, die Stipendiatin des Ledig House, New York, war und Stadtschreiberin von Danzig, lebt mit ihrer Familie in Münster.

2.


Ich muss für einen Moment eingeschlafen sein. Als ich die Augen wieder öffne, lehnt in der Ecke ein Gewehr. Dass es ein Maschinengewehr ist, kann ich nur vermuten, mit Waffen kenne ich mich nicht aus und fürchte mich vor ihnen. Aber ein Jagdgewehr wird es wohl kaum sein, in dieser Familie gibt es keine Jäger. Also doch ein Maschinengewehr, und obwohl mich sein Anblick beunruhigt, bin ich ein wenig enttäuscht. Vom Fenster fallen Lichtreflexe auf den Lauf und auf die Schulterstütze, alles in allem wirkt es kaum wie ein Gerät, mit dem man Dutzende von Menschen binnen Sekunden umbringen kann.

Weil ich es nicht nachprüfen kann, muss ich davon ausgehen, dass es nicht geladen ist, die Vermutung, dass es geladen sein könnte, macht mich noch nervöser, als ich ohnehin schon bin. Bronka wird das Ding in einem günstigen Augenblick hereingeschmuggelt haben, ich frage mich, was sie sich davon verspricht. So oder so wird es aus Bartosz’ Besitz stammen, weiß der Teufel, wo er es versteckt hatte, am Ende handelt es sich sogar um dieses eine Gewehr.

Vorhin, als Bronka ins Zimmer kam und wortlos einen Teller geschmierte Brötchen hinstellte, war es jedenfalls noch nicht da, und in all den Monaten zuvor sowieso nicht, darauf hatte Bronka geachtet: keine Waffen im Haus, sogar alle Messer in der Küche mussten stumpf sein, nicht auszudenken, was wäre, wenn sich der Junge etwas antun würde. So etwas geschah doch vor allem hei denen, die sich nicht helfen lassen wollten. Unfassbar. Überlebten den Wahnsinn in der Wüste, nur um sich daheim in Mutters Küche ins Gemüsemesser zu stürzen.

Wenn sie glaubt, dass ich die Waffe anrühren werde, hat sie sich geirrt. Ich stopfe die Brötchen stückchenweise in meinen Mund und lasse das Gewehr dabei nicht aus den Augen. Als könne es ein Eigenleben entwickeln und plötzlich auf mich zeigen, ja, vielleicht spekuliert Bronka darauf: dass ich den Kopf verliere und schwallartig alles von mir geben werde, vor allem natürlich die entscheidenden Hinweise darauf, was mit Bartosz und Renia geschehen ist, wo sie sich nun aufhielten. Als hätte ich ihr nicht mittlerweile tausendmal gesagt, dass ich es nicht wisse, dass ich mir auch nicht erklären könne, was passiert sei, dass es kein heimliches Versteck gebe, in dem ich die beiden festhalten würde, wozu denn auch. Es scheint, dass sie noch immer nichts aus Albina herausbekommen hat.

Es ist früh am Morgen, vor dem Fenster wird es erst grau, dann milchig, dazwischen höre ich Bronka in der Wohnung herumgehen, vorhin, glaube ich, hat sie mit jemandem telefoniert, vielleicht hat sie dabei geweint, ich habe es nicht genau gehört. Vom Sitzen und Liegen schmerzt mir der Rücken, aber ich wage nicht, ihr zu sagen, dass sie mich gar nicht festhalten bräuchte, um zu erfahren, was ich wüsste; was ich weiß, könnte ich genauso gut in einem Café in der Innenstadt festhalten, könnte zwischendurch am Fluss joggen gehen und einen geräucherten Fisch essen, das alles würde mich überhaupt nicht ablenken, ganz im Gegenteil.

An einem der Schlösser wird gedreht, ich stehe auf und schlucke rasch das letzte Stück Brötchen herunter. Bronka steht in der Tür, ihre Augenringe sind vom durchdringenden Dunkelblau einer Sommernacht. Sie hat noch weniger geschlafen als ich.

Ich weiß nicht, was ich seinem Vater sagen soll, sagt sie leise, und ich antworte ebenso leise, dass sie doch einfach die Wahrheit sagen könne, überhaupt, was sei denn daran so schlimm, dass ein junger Mann mit seiner Freundin verschwindet, das sei sicherlich nicht zum ersten Mal passiert. Da weiten sich Bronkas Augen, und sie schmeißt mir das Heft entgegen, das ich ihr gestern Abend durch die Tür geschoben hatte.

Eine Mutter habe im Gefühl, wenn mit ihrem Kind etwas nicht stimme, das habe sie sogar gespürt, als Bartosz im Krieg war, und jetzt stimme ebenfalls etwas ganz und gar nicht.

Ich drehe mich um, zum Fenster, und sage, dass ich alles aufschreiben werde, was ich weiß, über das letzte Jahr, über Bartosz. Vorher aber müsse es über hundert Jahre zurückgehen.

 

 

Es war einmal eine Spinne, die schlüpfte aus ihrem Ei und wuchs und spann, fing und fraß. In einem unachtsamen Moment wurde sie von einem Tropfen Harz überrascht, der den Baumstamm, auf dem sie lebte, hinabglitt und sie einschloss. Wo einst Land war, breitete sich ein Meer aus, dessen Stürme die Spinne in ihrem Gehäuse an sein Ufer spülten, wo sie unter dem Schutze einiger Felsen schließlich liegen blieb. Nach Jahrmillionen entstand ganz in ihrer Nähe eine Siedlung, später ein Dorf und schließlich eine Stadt, in der es viel zu hören und zu sehen gab, aber davon will sie nicht erzählen.

Eines Tages flog eine Elster über die Felsen, und weil die Sonne besonders hoch und besonders günstig stand, reichte der Schimmer des Bernsteins bis hinauf in den Himmel und ins Auge der Elster. Einmal aus seinem Versteck hervorgescharrt und sicher im Schnabel verwahrt, flog er mit der Elster weit hinfort, tiefer hinein in das Landesinnere. Und wäre er der Elster nicht über einem kleinen Flusslauf aus dem Schnabel geglitten, hätte er seinen Weg in ihr Nest gefunden. So aber waren es nicht die Nachkommen der Elster, die sich an dem Stein erfreuten, sondern die eines jungen Tischlers, der ihn aus dem Fluss holte.

Der junge Tischler, der den Bernstein barg, hieß Kazimierz Mysza und war der Sohn des ärmsten Mannes im Dorf. Sein einziges Glück war, dass seine Vorväter seit Jahrhunderten an derselben Stelle gelebt hatten, und egal, wie viele Schulden er beim Müller oder im Dorfladen hatte, die Menschen duldeten ihn und nahmen sein Unglück hin, so wie sie das Altern der Dorfeiche hinnahmen.

Kazimierz, sein Vater Józef und seine Mutter Katharina lebten in einer Gegend, die sich schlecht entscheiden konnte, ob sie dem einen Volk angehörte oder eher dem anderen. Sogar die Tiere in dem tiefen Wald, der das Dorf umgab, hatten sich mit den Jahren an die verschiedenen Sprachen gewöhnt, die die Menschen benutzten: die scharfen, abgehackten Konsonanten, die manchmal durch den Wald peitschten, und die weichen, zischelnden Schlangenlaute, die sich an den Bäumen vorbei und über das Moos hinwegwanden. Das kleine Dorf lag abgeschieden und war auf dem Landweg kaum zu erreichen: Einzig ein Fluss, der am Dorf vorbeifloss, war schiffbar und trug manchmal Boote mit Menschen und Dingen vorbei, und dann wunderten sich die Dörfler sehr und fürchteten sich auch ein bisschen.

Der Fluss, sagten sie, bringt seltsame Gestalten hervor, und der Wassermann, der zuzeiten an Land geht und versucht, mit den Dörflern Handel zu treiben, ist nur einer von ihnen.

Noch mehr als dem Fluss misstrauten die Dörfler nur den Bewohnern des Dorfes zwei Kilometer weiter auf der anderen Seite des Flusses, dessen Bewohner für sie die von da drüben waren. Diese hatten einen Dorflehrer, der aus der Stadt am Meer kam. Man erzählte sich, dass er die Kinder verzaubern und ihnen die Sprachen der Tiere beibringen würde – einmal soll er sogar auf dem Eber des Bauern Trabetzki durch das ganze Dorf geritten sein, vorbei an der Kirche und der Eiche und bis hinab zum Fluss, wo der Eber angehalten habe, aber das hatte niemand genau verfolgen können, denn eigentlich sah man vom Dorf gerade einmal bis zur Kurve mit dem Findling. Dieses Vorkommnis jedenfalls festigte die Meinung der Dorfbewohner über die Fremden, die außerhalb des Waldes wohnten, und wann immer sie einem Bewohner des anderen Dorfes begegneten, spuckten sie aus und riefen: Der Wassermann soll dich holen!

Einmal, so erzählte der alte Tischler seinem Sohn Kazimierz, war jemand von weit her gekommen, um die Sprache und die Gepflogenheiten des Dorfes zu studieren, aber die Leute im Dorf erschraken vor der Aussprache des Mannes und seinen Kleidern, in denen er so steif steckte wie ein Baum in seiner Rinde – so hatte man damals gesagt. Der Mann fuhr ab, ohne viel gelernt zu haben über die Traditionen und Feste, die man im Dorf feierte. Einzig ein paar Zeichnungen hatte er anfertigen können von den Kleidern der Frauen, ihrem Kopfschmuck und den bestickten Tüchern, die sie an die Fenster hängten.

Von allen Dörflern war der alte Tischler der gutmütigste: Es passte einfach nicht in seinen Kopf hinein, dass es jemanden geben konnte, der Unlauteres im Schilde führte; so kam es, dass in der Tischlerei am Rande des Dorfes große Armut herrschte. Die Holzschindeln des Daches waren über und über mit Moos und Flechten bezogen. Wenn es regnete, fielen manchmal blau schimmernde Tropfen in die Küche, so dass die Frau des Tischlers sie mit allen Töpfen, die sie besaß, auffangen musste, und die Hauswand war von so vielen Löchern durchsetzt, dass eine ganze Familie von Fledermäusen darin Unterschlupf fand. Jeden Tag klagte die Frau des Tischlers über die säumigen Kunden, während Józef bei jedem Auftrag fest davon überzeugt war, diesmal bezahlt zu werden.

 

Mehr Sorgen als das undichte Dach und die Klagen seiner Frau bereitete Józef allerdings sein Sohn. Obwohl dieser bei ihm in die Lehre gegangen war und ihm tagtäglich in der Tischlerei aushalf, verbrachte er seine freie Zeit am liebsten damit, stumm im Garten zu sitzen und eine lahme Wildkatze zu zähmen, die er im Wald gefangen hatte. Manchmal leistete ihm Magda, ein junges Mädchen aus dem Dorf, dabei Gesellschaft.

Wenn es mir gelingt, die Katze zu zähmen, sagte Kazimierz, dann heirate ich dich.

Das Mädchen kicherte und beobachtete, wie er selbstgemachte Filzmäuse vor dem Eingang der Hütte umherflitzen ließ.

Gerade als sich eine Pfote der Wildkatze ein paar Zentimeter aus der Hütte hervorgeschoben...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2023
Zusatzinfo mit Abbildungen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bernstein • Chronik • Danzig • Deutsche Literatur • Deutschland • deutsch-polnische Familie • Erbe • Familie • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Familienroman • Geheimnis • Neuausgabe • Polen • Roman • Sibir • Stadtgeschichte • Tod • Verwandtschaft
ISBN-10 3-644-01694-1 / 3644016941
ISBN-13 978-3-644-01694-1 / 9783644016941
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99