Sprich mit mir (eBook)

Der Bestseller aus Italien

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01309-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sprich mit mir -  Lidia Ravera
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Das mitreißende Porträt einer Frau, die aus ihrer Einsamkeit gerissen und mit ihrem früheren Leben als politische Aktivistin konfrontiert wird. Ein Buch, das heute spielt, eine fremde und doch so nahe Vergangenheit heraufbeschwört und zeigt, dass Flucht nicht immer der Ausweg ist. Eine Frau über sechzig. Sie lebt zurückgezogen in einem Haus am Tiber, am Stadtrand von Rom. Eines Tages bekommt sie neue Nachbarn. Eine Familie mit zwei Kindern zieht in die Wohnung gegenüber: Die Eltern gehören zur Generation Prekariat, der Vater ist Musiker, die Mutter jobbt. Sie haben eine dreijährige Tochter und einen jugendlichen Sohn, Anhänger von Fridays for Future. Sie brauchen eine Nanny und wenden sich an die Nachbarin. Und auch wenn die ältere Dame anfangs reserviert wirkt und wenig von sich preisgibt, wird das Verhältnis nach und nach enger. Bis sie den Großvater der Kinder kennenlernt, Pietro, einen attraktiven Mann. Er erinnert sich an sie. An die blutigen Jahre des Aufruhrs, damals in den  Siebzigerjahren, als ihr Foto in allen Zeitungen war. In ihrer Jugend war die italienische Feministin Lidia Ravera die Stimme der Frauen ihrer Generation, sie schrieb in den 70er Jahren das fiktive Tagebuch «Schweine mit Flügeln», das sich weltweit über 3 Millionen mal verkaufte. Heute ist sie es wieder. 

Lidia Ravera, geboren 1951 in Turin, ist in Italien eine bekannte Schriftstellerin und geschätzte Journalistin, die für große Zeitschriften politische und kulturelle Beiträge schreibt. In Deutschland sind von ihr u. a. erschienen: «Der Lack ist ab», «Schwestern» und «Schweine mit Flügeln» (Pseud.).

Lidia Ravera, geboren 1951 in Turin, ist in Italien eine bekannte Schriftstellerin und geschätzte Journalistin, die für große Zeitschriften politische und kulturelle Beiträge schreibt. In Deutschland sind von ihr u. a. erschienen: «Der Lack ist ab», «Schwestern» und «Schweine mit Flügeln» (Pseud.). Annette Kopetzki, 1954 in Hamburg geboren, lehrte an den Universitäten Rom und Pescara. Sie übersetzt seit vielen Jahren Belletristik und Lyrik aus dem Italienischen, darunter Werke von Pier Paolo Pasolini, Erri de Luca, Andrea Camilleri, Roberto Saviano, Edmondo De Amicis und Alessandro Baricco. 2019 wurde sie vom Deutschen Literaturfonds mit dem Paul-Celan-Preis für herausragende Literaturübersetzungen ausgezeichnet.  

1.


BERICHT VOM VERGANGENEN JAHR

2019, Ende August

Ich schreibe nicht gern. Ich mag es nicht, nach Worten zu suchen, Worte auszuwählen. Das kommt mir willkürlich vor, abgeschmackt. Oder anmaßend. Darum habe ich nie geschrieben, abgesehen von den zwischen 1983 und 1996 verfassten achtundneunzig Briefen, die allerdings nicht mehr in meinem Besitz sind. Ich hoffe, Furio hat sie vernichtet. Wahrscheinlich hat er das getan, er hinterlässt nicht gern Spuren, und vielleicht hat er recht. Seine Antwortbriefe habe ich allerdings behalten, es sind nicht achtundneunzig, sondern sechsunddreißig, denn oft hatte er keine Lust.

Diese wenigen Zeilen habe ich am Sonntagabend geschrieben: Ich schweife ab, ich kann die Pinne nicht gerade halten und den Gedankengang nicht dorthin lenken, wohin er gehen soll.

Ich müsste aufgeben, tatsächlich habe ich schon daran gedacht.

Gestern habe ich den ganzen Tag daran gedacht, das war Montag.

(Eben: Ist es nicht egal, ob gestern Montag war? Die Tage, aus denen sich mein Leben zusammensetzt, sind völlig austauschbar. Früher, als ich noch zur Arbeit ging, gab es die Sonntage. Der Sonntag war der einzige Tag ohne Struktur.)

 

Ich habe mich gefragt: Warum musst du diesen Bericht schreiben, diese Erzählung, um die dich niemand gebeten hat, dieses rückläufige Tagebuch?

Um es zu teilen? Mit wem?

Warum nistest du dich nicht weiterhin in dein Schweigen ein, wie du es immer getan hast, seit du aus deiner geräuschvollen Jugend geschlüpft bist?

Meine Stille.

Genau darum geht es.

Ich kann sie nicht wiederfinden. Seit «sie» in meinen Zufluchtsort eingedrungen sind wie eine stürmische Böe durch ein vergessenes offen gelassenes Fenster.

Meine Stille ist dahin.

Diese bestimmte Stille.

Und diese Stille ist nicht so leicht zu erreichen. Sie ist ein weißes Gemälde, sie erfordert Ordnung und jene Haltung der Mäßigkeit, die einen darin schult, mit den eigenen Kräften hauszuhalten.

Die Stille ist nicht nur Schweigen wie bei der Ordensregel der Klausur. Die Stille, meine Stille, ist ein Gespräch, das keine Erwiderungen, Reaktionen, Antworten will. Keine Kommentare.

Meine Stille setzt die Abwesenheit von Gesprächspartnern voraus.

Ich kann Guten Tag sagen, wenn ich jemandem im Treppenhaus oder im Hausflur begegne. Und als Rückprall ein Guten Tag erhalten.

Den Einkauf mache ich im Supermarkt.

Ich wähle aus, fülle den Einkaufswagen, lege die Ware auf das Laufband vor der Kassiererin, überreiche ihr die Geldkarte, tippe den PIN-Code ein.

Danke und Auf Wiedersehen, sage ich, aber nicht immer.

Schon wieder bin ich vom Weg abgekommen, ich muss die wichtigen Dinge aufschreiben, die Ereignisse, die Vorfälle oder, wenn möglich, die Hintergründe.

Wer ich bin, wie ich bin, wie mein Vater und meine Mutter waren, alles muss ich auf diesem Tisch, auf dieser Seite aufreihen, damit ich es wegwischen kann.

Beim Erzählen gibt es eine Hierarchie, und darum, genau darum erzähle ich nicht gern.

Aber ich muss es tun.

Und ich muss es gut machen, denn ich muss den Riss nähen. Um dahin zurückkehren zu können, wo ich war, wo ich zwanzig Jahre lang war.

Allein und ausgefüllt. Zufriedengestellt durch Ablehnung, wie ein misstrauischer Hund. Zusammengekauert in der Abwesenheit, in meinem Nest aus Erde und Stroh. Im Haus am Fluss.

Ich bin sechsundsechzig Jahre alt, seit ich vierzig wurde, schneide ich meine Haare nicht, sie sind weiß und sehr dicht. Ich binde sie zusammen mit dem, was mir unterkommt. Schnürsenkel, Gummibänder. Vor zwanzig Jahren hatte ich auch schon lange, weiße Haare. Aber ich trug sie geflochten. Zur Arbeit ging ich mit geflochtenem Haar. Ich musste ordentlich aussehen, um die Situation nicht zu verschlechtern. Schon mein schweigsames Wesen war ein Problem, es wurde erschwert durch die erzwungene Beziehung zu den anderen, acht Frauen, alle im selben Raum, wo sie die gleichen Gesten ausführten, Schachteln zusammenbauten, mit flinken Fingern, mehr Handwerkerinnen als Arbeiterinnen.

Da war diese Geschichte, dass ich nicht plaudern wollte.

Wenn du nicht plauderst, während du mit den Händen arbeitest, und um dich herum immer dieselben Personen arbeiten, jeden Tag, außer samstags und sonntags, bist du wie eine Abstinenzlerin bei einem Hochzeitsbankett.

Es gibt ein unausgesprochenes Nein danke, das verletzt, das das Verhalten der anderen in seinen Grundfesten erschüttert.

Einander Signale senden, sich wiedererkennen.

Sich eine Existenz verleihen.

Gegenseitig.

Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Da war also diese Geschichte, dass ich nicht plauderte. Und wenn ich es tat, merkte man, dass es nicht freiwillig geschah. Doch vor allem war da die unpassende Adresse in diesem malerischen, angesehenen Teil der Stadt, da war diese Wohnung weit weg von den Vierteln, wo die anderen wohnten. Prenestino, Tiburtino.

Weit weg, anders.

Ein großbürgerliches Haus, in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts gebaut, mit Ausblick auf die Bäume, die den Tiber abschirmen.

Ich habe nie jemanden eingeladen, nie eine Einladung angenommen.

«Wo wohnst du?»

«Draußen.»

Die Älteren hörten auf, mich einzuladen, die Jüngeren haben es nie getan, darum brauchte ich nicht mehr zu lächeln und mich zu entschuldigen. Herzlichen Dank. Nett von dir. Aber nein. Nein danke.

Als die Direktion mir mitteilte, dass sie mich nicht mehr brauchte, konnte ich meine Abwesenheit vervollkommnen. Ich hatte nichts mehr zu verbergen. Ich verletzte niemanden mehr.

Ich konnte für immer schweigen.

Man muss schweigen lernen, um nicht lügen zu müssen.

(Noch so ein Satz, und ich entziehe mir die Erlaubnis zum Schreiben, diese provisorische Freiheit, die notwendig wurde, weil ich das dringende Bedürfnis hatte, in der Zeit zurückzugehen. Nicht um Jahrzehnte, wie die Frauen meines Alters, die wieder jung sein möchten. Ich möchte nur um ein Jahr zurückgehen, dieses eine, das gerade zurückliegende Jahr.)

 

Gut, fangen wir noch einmal an: Jeden Morgen ging ich spazieren.

Ich habe keinen Hund, aber ich mag die Hunde der anderen.

Ich ging am Flussufer entlang, ohne zu laufen, ich ging zwischen den Leuten, die laufen. Oder den Hund zum Laufen ausführen.

Während ihr Hund läuft oder an den Exkrementen anderer Hunde schnüffelt, reden die Leute am Telefon.

Manchmal reden sie auch mit ihrem Hund. Oder mit den anderen Hundehaltern.

Na, bitte: Ich habe eben erst angefangen und bin schon wieder gescheitert. Ich kann nicht erzählen. Ich gebe abschweifenden Gedanken Raum und verliere sofort den Faden.

Mein Kopf ist in Unordnung. Das sagte meine Mutter, bevor sie mir ankündigte, sie würde zum Friseur gehen. Einen unordentlichen Kopf zu haben, hinderte einen an einem anständigen gesellschaftlichen Leben.

Der Kopf meiner Mutter ließ sich leicht wieder in Ordnung bringen. Von der Friseurin. Meiner nicht. Mein Kopf ist voller unfertiger Gedanken. Legen und Frisieren ist nicht machbar.

Die Gedanken überschlagen sich, zappeln, stoßen gegeneinander. Schließlich zersplittern sie. Ein klebriger Staub, der in jede Öffnung dringt.

Und dadurch fühle ich mich schmutzig. Zermürbt. Verwirrt.

Unausgeglichen, dieses Wort beschreibt, wie ich mich fühle.

Die Unausgeglichenheit hindert mich daran, zur Stille zurückzukehren.

Und Schreiben hilft mir nicht.

Es gefällt mir nicht. Ich kann das nicht mehr.

Früher konnte ich es.

Und es gefiel mir, was man kann, gefällt einem immer.

Jetzt bin ich es nicht mehr gewohnt, zu lange schon habe ich keine Lust mehr zum Schreiben.

Ich stoße Worte aus, sie fallen in Schwärmen über mich her, ich muss sie auf dem Papier befreien, und nie sind es die, die ich brauche.

Nie sind es die richtigen.

Immer wieder sage ich mir, dass ich benennen muss, erzählen, erklären, wo man erklären kann, und dann ad acta legen, aber ich finde das Vorher und Nachher nicht, die Ursache und die Wirkung, die Herausforderung und das Scheitern.

Ich habe tausenddreihundertzwölf Romane gelesen, ich lese Romane, weil sie mein Atem sind, weil es perfekt zu meinem Wesen passt, mich mit den Leben anderer zu zerstreuen.

Ich lese Romane, denn Romane sind wie Musik, es gibt eine Vollkommenheit der Proportionen, einen verborgenen Entwurf, eine Genauigkeit, die mir Frieden verschafft.

Trotzdem habe ich von den Romanen, die ich gelesen habe, nichts gelernt.

In einem Roman hätte ich schon jetzt von Michele und Maria gesprochen. Stattdessen habe ich «sie» geschrieben. Ich habe geschrieben: Seit «sie» in meinen Zufluchtsort eingedrungen sind wie eine stürmische Böe durch ein vergessenes, offen gelassenes Fenster.

Ich habe sie in Anführungszeichen gesetzt.

Es gibt nichts Dümmeres, als einen Mann und eine Frau in einen Käfig aus Anführungszeichen zu sperren.

Also: Alles hat vor einem Jahr angefangen, am 25. August. Es war um acht Uhr morgens, und schon drückte eine tropische Hitze gegen die Fenster. Der Himmel war weiß und hing tief, er trug schwer an einem heißen Dampf, der nicht zu Regen werden konnte.

Ich war eine Stunde spazieren gegangen, wie immer, und wollte nun die von den Ferien geleerte Stadt genießen, weshalb ich die Straße am Tiberufer überquerte, als wäre sie ein Fußweg auf dem Land, ohne auf die grüne Ampel zu warten, ohne nach rechts und nach links zu blicken.

Der kleine Lastwagen tauchte ganz plötzlich auf, während ich in...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2023
Übersetzer Annette Kopetzki
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autofiktion • autofiktiver Roman • Bleierne Jahre • Brigate Rosse • bücher literatur • Familienroman • Feminismus • Feministische Literatur • Fridays For Future • Gabriele von Arnim • Generationenroman • Haus am Tiber • Inselleben • Italienische Gegenwartsliteratur • Italienische Geschichte • Italienische Literatur • Italienischer Bestseller • Kommunismus • Lebensgefühl der 1970er • Lotta Continua • politischer Aktivismus • politischer Roman • Rom • Romane Neuerscheinung 2023 • Rote Brigade • weibliche Erzählstimme • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-01309-8 / 3644013098
ISBN-13 978-3-644-01309-4 / 9783644013094
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