Irgendwo. Aber am Meer (eBook)
224 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491733-7 (ISBN)
Arnold Stadler wurde 1954 in Meßkirch geboren. Er studierte katholische Theologie in München, Rom und Freiburg, anschließend Literaturwissenschaft in Freiburg, Bonn und Köln. Er lebt und schreibt in Berlin, in Sallahn unweit der Elbe und in Rast über Meßkirch. Arnold Stadler erhielt zahlreiche bedeutende Literaturpreise, darunter der Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen die Romane »Rauschzeit« und »Am siebten Tag flog ich zurück« sowie der Künstleressay »Mein Leben mit Mark«. Literaturpreise: • 1989 Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung für »Ich war einmal« • 1994 Hermann-Hesse-Preis - Förderpreis für »Feuerland« • 1995 Nicolas-Born-Preis für Lyrik der Hubert-Burda-Stiftung • 1996 Thaddäus-Troll-Preis • 1996 Kulturpreis 'Der Feldweg' von der Museumsgesellschaft Wald • 1997 Märkisches Stipendium für Literatur • 1998 Marie-Luise-Kaschnitz-Preis • 1998/1999 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim • 1999 Alemannischer Literaturpreis • 1999 Georg-Büchner-Preis, für seine autobiographisch gefärbten Romane • 2002 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg • 2004 Stefan-Andres-Preis • 2004/2005 Stipendiat des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg • 2006 Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin (FB Geschichts- und Kulturwissenschaften, Seminar für Katholische Theologie • 2009 Kleist-Preis • 2010 Johann-Peter-Hebel-Preis, der besonders Stadlers autobiographisch geprägte Trilogie »Feuerland«, »Ich war einmal« und »Mein Hund meine Sau mein Leben« würdigt • 2014 Bodensee-Literaturpreis
Arnold Stadler wurde 1954 in Meßkirch geboren. Er studierte katholische Theologie in München, Rom und Freiburg, anschließend Literaturwissenschaft in Freiburg, Bonn und Köln. Er lebt und schreibt in Berlin, in Sallahn unweit der Elbe und in Rast über Meßkirch. Arnold Stadler erhielt zahlreiche bedeutende Literaturpreise, darunter der Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen die Romane »Rauschzeit« und »Am siebten Tag flog ich zurück« sowie der Künstleressay »Mein Leben mit Mark«. Literaturpreise: • 1989 Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung für »Ich war einmal« • 1994 Hermann-Hesse-Preis - Förderpreis für »Feuerland« • 1995 Nicolas-Born-Preis für Lyrik der Hubert-Burda-Stiftung • 1996 Thaddäus-Troll-Preis • 1996 Kulturpreis "Der Feldweg" von der Museumsgesellschaft Wald • 1997 Märkisches Stipendium für Literatur • 1998 Marie-Luise-Kaschnitz-Preis • 1998/1999 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim • 1999 Alemannischer Literaturpreis • 1999 Georg-Büchner-Preis, für seine autobiographisch gefärbten Romane • 2002 Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg • 2004 Stefan-Andres-Preis • 2004/2005 Stipendiat des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg • 2006 Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin (FB Geschichts- und Kulturwissenschaften, Seminar für Katholische Theologie • 2009 Kleist-Preis • 2010 Johann-Peter-Hebel-Preis, der besonders Stadlers autobiographisch geprägte Trilogie »Feuerland«, »Ich war einmal« und »Mein Hund meine Sau mein Leben« würdigt • 2014 Bodensee-Literaturpreis
Er beobachtet, wie sich Sprache entwickelt, erfindet aber auch neue Wörter.
Stadlers Prosa hat [...] weder an Aktualität noch an Kraft verloren, sie gehört [...] zum Schönsten und Schlausten, was zeitgenössische Literatur in deutscher Sprache zu bieten hat.
Stadler erfreut aufs Neue mit seinem ausgefuchsten Räsonieren. [...] Es ist ein wortmächtiges Erzählen. Mit Pointen.
[...] dieser Ton Stadlers, der das Ganze auch zu einem heiteren Spiel macht.
zeitlos schön [...].
[..] ein ganz großartiger Text [...]
[...] eine ironische Weltanklage [...]
Schönste Sehnsuchtsliteratur
[...] ein hohes literarisches Vergnügen.
[...] musikalische Sprache [...].
[...] immer wieder eine sprachliche Wohltat.
I Sayn
Vor dem Frankfurter Hauptbahnhof stieß ich auf einen jungen Obdachlosen, der »meine Mama« sagte. Er kam aus Gelnhausen. Und aus mir war auf Schloss Sayn ein alter weißer Mann geworden, der immer noch »ich« sagte. »In welche Himmelsrichtung wirst du dich verirren?«, fragte ich mich mit einem Dichter, der ganz in der Nähe wohnte.
Ich kam zurück aus Sayn. Es war am Himmelfahrtstag, und ich musste umsteigen. Aber am liebsten hätte ich mich nun neben ihn hingesetzt und geweint. Ich hätte sein Vater sein können, wie es aussah. Aber wir feierten weder Himmelfahrt noch Vatertag.
Ich war nun fast schon ein alter Mann geworden, der immer noch »ich« sagte.
Aus »ich« war »er« geworden, ein alter Mann, jener, einst in Blond aufgebrochen, irgendwie blauäugig, und nun war ich schon lange auf dem Weg von Blond nach Weiß, über Frau und Grau nach Weiß, und das dazugehörende Shampoo hieß »Silberglanz«.
Immerhin, das konnte ich morgens im Spiegel sehen, das spiegelverkehrte Grau glänzte, es war tatsächlich wie vom Shampoo versprochen, ein Silberglanz über mir. Vielleicht sogar etwas ins Blau spielend, wie einst bei der Begum.
Meine Lesung auf Schloss Sayn hatte sich als Katastrophe herausgestellt.
Nun fuhr ich als ein Überlebender von Limburg, wo man mich in den Zug geladen hatte, über Frankfurt nach Tuttlingen, der Stadt von »Kannitverstan«, zu meinem Auto zurück, meine Dacia! Es war an Christi Himmelfahrt.
Unterwegs auf der ICE-Neubaustrecke, irgendwo zwischen Limburg und Frankfurt Flughafen, hatte der Zug einen Jaguar überholt, und ich sah einen alten Mann am Steuer sitzen, der sich wohl aufgegeben hatte und so aussah, als wollte er lieber in den Graben fahren als sonst wohin. Ja, auch aus mir war nun wohl ein alter Mann geworden, der immer noch »ich« sagte … So ungefähr ging es durch meinen Kopf, in meinem Kopf zu, der auch noch mit der Enttäuschung leben musste, dass ich es war, und nicht Greta Thunberg.
Vor kurzem war der Mann vielleicht noch auf dem Weg zu einer Geliebten gewesen. Nun war er vielleicht unterwegs zu einer letzten Besprechung mit dem Notar. Und so schien es nun auch bei mir zu sein.
Sie hatten mich auf Sayn zur Rede gestellt, im Grunde aus Enttäuschung, weil ich es war, und nicht Greta Thunberg.
Auf dem Hinweg war ich so übermütig, so wie jetzt auf dem Rückweg niedergeschlagen.
Aber wie es so ist: Erst auf dem Rückweg, als es zu spät war, fielen mir sämtliche richtigen Antworten ein.
Gerade auf der Hinfahrt war ich noch etwas übermütiger gewesen, als ich es mir angesichts meiner Jahre und meiner Welt hätte eigentlich erlauben können.
Gewiss wusste ich dies, und der folgende Satz hatte sich im Laufe meiner Zeit zwar als richtig herausgestellt, aber als einer von jenen Sätzen, die mir auch nicht weiterhalfen: Mir scheint, dass ich auch deswegen auf der Welt bin, um mich immer wieder zu täuschen. Und so lange es allen recht machen zu wollen.
Dass du dir nun fast alles dazudenken musst, alles, was nach Glück aussieht, dazudenken musst. Und aus meinem schmerzstillenden Mercedes, längst abgewrackt, war mein Schmerzedes geworden, ein Wortspiel.
Die Abwrackprämie hätte für einen nigelnagelneuen Dacia Duster gereicht, war aber längst aufgefressen. Ich kam wieder einmal zu spät. Und kannte Leute, die nie zu spät kamen. Smarte Leute, Experten, die immer wussten, wo es langging. Das hatte ich auch nicht vergessen: Wie ich damals, am Rheinufer zu Köln, eines Morgens auf jener Bank saß, und ein Kind hatte auf mich gezeigt und »Opa« gesagt. Es zeigte auf mich und sagte: »Opa!« Der hatte gerade eine irrsinnige Nacht hinter sich, gerade vierzig geworden, und so langsam zeigte ihm das Leben seine Zähne, das wusste er wohl und wiegte sich dabei in den Nachwehen des Don-Giovanni-Glücks, das Wort »Glück« gehörte bis zuletzt zu den häufigsten, wenn es um das weite Feld der Illusionen ging. Auch in meinem Wortschatz kam dieses Wort häufiger vor als in meinem tatsächlichen Leben, das ich mir dazudenken musste. Das du dir dazudenken kannst und dazudenken musst, sagte ich mir.
In der Hierarschie der Schmerzen, so hörte es sich wenigstens an, wenn dieses Wort aus dem Mund von Inge kam, die von der Mosel stammte … oder von einem frechen Rheinländer, entschuldigen Sie bitte, Herr Dingens! … war der Altersschmerz ganz unten angesiedelt, und die Todesangst eines Alten wurde ja kaum wahrgenommen in den sozialen Medien, die ich bald mit »asoziale Medien« übersetzte. Der Schmerz, mein Schmerz, kam praktisch nicht mehr vor im Fernsehen. Der Tod und das Sterben waren an die Krimis delegiert. Ihnen überlassen. Als wäre es, kurz, bevor es so weit wäre, nur noch halb so schlimm.
Was für ein Luxusschmerz war dagegen mein erstes Zahnweh, verglichen mit dem ausweglosen Fahren zurück aus Sayn und dem Westerwald, der Raiffeisengegend.
Doch mit meiner Rolle war ich nicht allein: Sie wiederholte sich millionenfach.
Im vergangenen Jahr war ich außerdem zum Dieselfahrer geworden. So spät? Jetzt noch?, wurde ich fast schon zur Rede gestellt.
Meine Dacia war ein Diesel, und ich ein verachteter Dieselfahrer. Doppelt verachtet: von den einen, weil Dieselfahrer Mörder waren an der Zukunft der Menschheit. Von den anderen: weil es sich bei diesem Dacia-Fahrer offensichtlich um einen alten Loser handelte, der sich keinen Tiguan und kein prestigeträchtiges Fahrzeug leisten konnte. Kein E-Mobil von Elon Musk, der hierzulande vielleicht für eine bessere Ökobilanz sorgte, in den Ländern der seltenen Erden jedoch zur Zerstörung der Natur und Ausbeutung der Menschen beitrug. Und wer hätte es gedacht, dass im wasserreichen Brandenburg seiner von sämtlichen bundesrepublikanischen Staatshoheiten gefeierten E-Auto-Fabrik dereinst das Wasser ausginge! Ein trockener Sommer folgte nun auf den anderen; und früher hatte der Mensch von einem Sommer ohne Regen noch geträumt. So war das Problem, das möglicherweise auch zu jenen gehörte, die nur eine Geschichte hatten, aber keine Lösung kannten, nur ausgelagert. In Südamerika und Afrika schufteten für einen Hungerlohn in den Minen auch Kinder. Und die Natur, die sogenannte Umwelt, wurde dort immer weniger. Tatsächlich war es die Welt. Am besten für die Welt und für die Ökobilanz zu Hause wäre es vielleicht gewesen, gar keine Autos mehr zu bauen.
Mein Fahrzeug hatte ich also zum Glück am Bahnhof in Tuttlingen, der Welthauptstadt der Medizintechnik und von Kannitverstan, stehen gelassen. Und war damit nicht auf Sayn vorgefahren, das wäre ein Todesurteil gewesen; so kam ich mit einer Katastrophe davon, die in einer Erkenntnis mündete, meiner Erkenntnis, dass das schöne Leben so langsam vorbei war.
Ich hatte mittlerweile schon erfahren, dass es ein Unterschied war, in einem Jaguar ein alter weißer Mann zu sein oder in einer Dacia Duster. Und überholt zu werden von jungen Leuten, die über mich hinwegflogen und die alles besser wussten als ich.
Als wäre es Hasenweh, so schaute der im Jaguar in Richtung Taunus.
Und ich auch.
Früher war es Zahnweh, da hatte der Mensch noch Zukunft. Nun aber war es Hasenweh, und ich wusste, dass es das Unglück war, zu wissen, dass dieser Mann alles falsch gemacht hatte. Aber ich wollte nicht so weit gehen und ihn nun zum Geisterfahrerkandidaten machen.
Ich hatte den Verdacht, dass sie auf Schloss Sayn eigentlich Greta Thunberg hatten hören wollen und mir übelnahmen, dass ich nicht Greta Thunberg war, sondern ein weißer Alter, der für alles verantwortlich gemacht werden konnte. Und sie selbst nahmen es sich auch übel, dass sie zu mir und nicht zu Greta Thunberg gereist waren.
Dass sie mit einem wie mir vorliebnehmen mussten, der zudem nicht mit dem Foto übereinstimmte, das solche Menschen, die es immer noch gab, anlocken mochte, die vielleicht davon träumten, von mir gerettet zu werden oder mich zu retten. »Der Tourist fordert. Der Pilger dankt«, so hatte es gerade eine Pilgerherbergsmutter beschrieben.
Eine meiner ersten Lesungen war in einer Stadt namens D. gewesen. Man konnte mich damals, wie im Übrigen immer noch, über den Katalog beim Verlag bestellen. Und ich dachte schon an einen alten Schwindler, der mir einst hatte einen Gebrauchtwagen verkaufen wollen mit dem Satz: »Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß!« Und ich dachte nun an diese und jene Buchhändlerin, die es bis zu diesem Satz geschafft hätte.
Und ich lag wohl schon damals nicht ganz falsch mit meinem Verdacht, dass es vor allem das Foto im Frühjahrskatalog war, das zu den Bestellungen von mir geführt hatte. Selbst der Verlag wunderte sich, dass so viele Bestellungen eintrafen für mich, der nichts vorzuweisen hatte als sein erstes Buch.
Die Buchhändlerin holte mich am Bahnhof ab. Ja, die Stadt D. hatte tatsächlich einen Bahnhof, der aus zwei Gleisen bestand, für jede Richtung eines. Ein Abstellgleis gab es freilich auch. Genügte das etwa nicht? Doch ich … Nachher, beim Wein, bekannte sie mir, dass sie mich aufgrund des Fotos bestellt hatte, und wie enttäuscht sie war, dass das Foto und ich nicht übereinstimmten und dass sie mich aufgrund dieses Fotos nicht erkannt hatte, obwohl ich der einzige Fahrgast war, der in D. den Zug verlassen hatte und auf die Buchhändlerin zuging, die ich gleich entdeckte und erkannte, obwohl ich kein Foto von ihr gesehen hatte … auf sie zuging, zögerlich, als schämte ich mich für mich, als wäre ich der Komplize eines Betrugs. Oder auch nur, als Irrwisch, der ich war, der Komplize des Nichts. Mit Don Quichotte oder sonst so einem, wie es sie zu allen Zeiten gab, im Gepäck, mit einem...
Erscheint lt. Verlag | 29.3.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alte weiße Männer • Am siebten Tag flog ich zurück • Anspruchsvolle Literatur • Ein Buch von S. Fischer • Gegenwartsliteratur • Griechenland • Ithaka • Lefkada • Reiseliteratur • Schloss Sayn • Westerwald |
ISBN-10 | 3-10-491733-7 / 3104917337 |
ISBN-13 | 978-3-10-491733-7 / 9783104917337 |
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