Nicht wirklich (eBook)
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30307-0 (ISBN)
Jens Sparschuh, geboren 1955 in Chemnitz (Karl-Marx-Stadt), studierte von 1973-1978 Philosophie und Logik in Leningrad. 1983 promovierte er in Berlin, seitdem arbeitet er freiberuflich. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Hörspielen und Kinderbüchern. 2009 erschien »Putz- und Flickstunde« (zusammen mit Sten Nadolny). 1989 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden, 2018 den Prix Chronos und 2019 den Günter-Grass-Preis.
Jens Sparschuh, geboren 1955 in Chemnitz (Karl-Marx-Stadt), studierte von 1973–1978 Philosophie und Logik in Leningrad. 1983 promovierte er in Berlin, seitdem arbeitet er freiberuflich. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Hörspielen und Kinderbüchern. 2009 erschien »Putz- und Flickstunde« (zusammen mit Sten Nadolny). 1989 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden, 2018 den Prix Chronos und 2019 den Günter-Grass-Preis.
Vor einem halben Jahr hatte alles begonnen, außerplanmäßig diesmal, das heißt: mitten im Studienjahr, also ziemlich überraschend für mich.
Es war an einem jener grauen Wintertage gewesen, die sich nicht entscheiden können, ob sie überhaupt noch richtig Tag werden wollen oder nicht. Aus pädagogischen Gründen hatte ich mir zwar wie immer den Wecker gestellt, war aber nun doch im ernsthaften Zweifel mit mir, ob ich den dringenden Piepsignalen, die er mir vom Nachttisch aus zusandte, auch wirklich Folge leisten sollte.
Isabell war längst aufgestanden, um das festzustellen, musste ich nicht einmal die Augen öffnen – ein Handgriff genügte, ich spürte, das Laken in ihrer Betthälfte war bereits erkaltet, die Decke war weit zurückgeschlagen.
Am Abend zuvor hatten wir, erst in der Küche, dann im Bad, zuletzt sogar noch im Schlafzimmer, eine lebhafte Diskussion gehabt.
Isabell, mit ihrem untrüglichen siebten Sinn für den treffenden Ausdruck, hatte dann zwar abschließend gemeint, als sie das Licht ausgemacht hatte und es endlich dunkel geworden war, wir hätten uns »so irre gefetzt wie schon lange nicht mehr«, ihre Stimme hatte dabei, was mich noch gewundert hatte, merkwürdigerweise sehr zufrieden geklungen, aber auch darüber hatte ich keine Lust mehr gehabt, weiter mit ihr zu diskutieren, von einem Moment zum anderen war ich in einen tiefen, später, zum Morgen hin, sehr unruhigen Schlaf gefallen.
Jedenfalls hatten wir uns nicht über die altbewährten Themen gestritten, über die wir uns in den goldenen Anfangszeiten unserer WG-Beziehung – wie wir sie auch nach über zwanzig Jahren intern immer noch nannten – so leidenschaftlich und nach Herzenslust in die Haare gekriegt hatten (also: Wochenputzplan Küche + Bad; Einkauf Grundnahrungs- und Reinigungsmittel etc.).
Diesmal war es um etwas anderes gegangen.
Und Isabell, das musste ich zugeben, hatte ja recht gehabt: Sie als freie Lektorin und ich als Privatdozent (mit mehr privater Tagesfreizeit, als mir lieb sein konnte) – das war etwas viel Freiheit auf einmal, mehr jedenfalls, als wir beide es uns leisten konnten, zumal ich es diesmal versäumt hatte, das gerade begonnene Jahr vernünftig vorzuplanen.
Ein neuerliches »Gastspiel« an der Hochschule, das die Lage, sprich: die finanzielle Lage, deutlich hätte entspannen können, stand für das Frühjahrssemester nicht auf dem Programm.
Im Klartext hieß das: Bis auf einen – einen einzigen! – URANIA-Vortrag Anfang Mai (»Leibniz – ein Meilenstein«) sowie die nun schon traditionelle 20-Uhr-Veranstaltung, den »Philosophiegrundkurs für Anfänger – von der Antike bis zur Gegenwart« an der Volkshochschule Charlottenburg (der seinen Termin am begehrten Donnerstagabend hart gegen einen philosophisch orientierten indischen Yogakreis und eine Geistheilungsselbsterfahrungsgruppe hatte behaupten müssen – Abendland vs. Fernost? Geist vs. Geister), stand nichts weiter auf der Agenda, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, zum Beispiel einigen noch aus dem Vorjahr liegengebliebenen Rezensionen, Gelegenheitsarbeiten also, nicht nennenswert, bei denen die Bezahlung hauptsächlich aus Naturalien, sprich: aus einigen Belegexemplaren der jeweiligen Zeitschriften bestand. Kurzum: Die Seiten meines Kalenders waren weiß und übersichtlich – eine endlose antarktische Eiswüste.
Fröstelnd zog ich mir die Decke noch einmal über die Schulter.
Während Isabell, die nach Neujahr wahrscheinlich insgeheim (und ziemlich irrational) darauf gehofft hatte, alles würde anders werden und besser laufen als im letzten Jahr, schon wieder ihre tägliche Galeerenarbeit verrichtete, dachte ich seit Wochen noch immer intensiv und noch immer ergebnislos darüber nach, was mir Breitenbach bei unserem letzten Gespräch gesagt hatte.
Der hatte im Herbst beim Rektor vorgefühlt: Ohne eine vorzeigbare Monografie, am besten so etwas wie ein Lehrbuch, das philosophische Fragen lebensnah und anschaulich mit jenen kulturtheoretischen Themen verband, die auf dem Studienplan standen, konnte Breitenbach an der Hochschule nichts für mich tun. Die Zeit drängte, bald würde er in den Ruhestand gehen. Und dann konnte er überhaupt nichts mehr für mich tun.
Diese Monografie also musste geschrieben werden. Das war das Problem. Und ein halbes Jahr hatte ich Zeit, es zu lösen. Im Grunde aber war es ein Teufelskreis oder auch, ganz klassisch, ein Dilemma – es stand mir so deutlich vor Augen, dass ich es, wäre das nicht völlig abwegig gewesen, bequem in einer Vorlesung als Beispiel hätte verwenden können: Um eine feste Stelle an der Hochschule zu bekommen, musste ich dieses Lehrbuch geschrieben haben. Um in aller Ruhe dieses Lehrbuch schreiben zu können, hätte ich eine feste Stelle (mit einem festen Einkommen) an der Hochschule haben müssen.
Als vertrauensbildende Maßnahme erwog ich nun, wenigstens aufzustehen und, gleich um die Ecke, bei Bäckerei Jahnke Schrippen zu holen. Das war aber – erster klarer Gedanke des Tages! – Unsinn. Da Isabell das Bett bereits verlassen hatte, war es dafür definitiv schon zu spät: Nüchtern setzte sie sich morgens nie an den Schreibtisch, das konnte sie gar nicht bei ihrer Schwerstarbeit; mit Sicherheit hatte sie bereits gefrühstückt.
Und sie war schon – jetzt hörte ich ihre Stimme durch die Wand – bei der Arbeit.
»Gut: Herr Kupetzke, der scheinheilige Pharmareferent aus Ulm … Na schön, meinetwegen auch Arzneimittelvertreter – das ist mir jetzt ganz egal, wie Sie ihn nennen – ist vergiftet worden.«
–
»Ja, natürlich erinnere ich mich: mit Zyankali, klar. Da hatte doch diese militante Umweltaktivistin …«
–
»Schwester Viola, richtig!, die hatte ihre Hand da mit im Spiel. Jetzt frage ich mich nur, beziehungsweise das frage ich Sie: wieso Kupetzke plötzlich wieder lebt?«
–
»Aber ich finde, das muss man doch erklären, sonst …«
–
»Scheintot? Ich bitte Sie, Herr Sommer!«
–
»Also schön, ich fasse noch mal die Situation, Stand vorige Woche, zusammen: Nachdem Dr. Mai zufällig herausgefunden hat, dass …«
Ich gähnte.
Manchmal dachte ich, Isabell könnte genauso gut auch Psychotherapeutin sein. Speziell im Fall Sommer oder Winter war sie das ja wohl auch.
Ich tappte im Dunkeln: Ich tappte durch den Flur Richtung Bad. Blick in den Spiegel, etwas unausgeschlafen zwar, trotzdem: kurzer Moment der Wiedersehensfreude. Dann die allmorgendlichen Reanimationsversuche, erst mit heißem, schließlich mit eiskaltem Wasser.
Schwankend, von hoher See, nach frischem Meeresbrise-Duschbad (mit Algenextrakt) duftend, die Haare vom Sturmwind des Föhns wild zerzaust, kam ich wenig später, das große Frotteetuch umgeschlungen, aus dem Bad, da wehte Isabell mir im Flur entgegen, mit einer Kaffeetasse in der Hand.
Doch statt dort fortzufahren, wo wir gestern aufgehört hatten, lächelte sie mich an. Auch das sonst übliche, oft genug naserümpfende »Na, wieder frisch zurück aus der chemischen Reinigung?«, sparte sie sich diesmal; sie streifte mir einen Guten-Morgen-Kuss über die frischrasierte Wange.
»Tut mir leid, du, wegen gestern«, sagte sie, »aber er nervt mich schon wieder so, ich kann dir gar nicht sagen, wie.«
»Sommer …«, sagte ich finster.
Sie nickte.
Das verstand ich. In den letzten Monaten hatte diese Beziehung eine Entwicklung genommen, die man nicht mehr gutheißen konnte.
Stumm schloss ich sie in die Arme.
So rasend gern hätte ich ihr etwas abgenommen, wäre ich eingesprungen, um sie wenigstens ein bisschen zu entlasten, damit sie endlich Ruhe vor diesem Ron alias Ronny alias Winter alias Sommer … Mitten in meine düsteren Gedanken hinein klingelte energisch das Telefon, es war halb elf.
Isabell, die Augen verdreht, griff nach dem Hörer des Flurapparats. Auf meinen fragenden Blick hin schüttelte sie nur den Kopf; ihr Gesicht hellte sich nun auf, und ihre Lippen sagten mehrfach überdeutlich in Taubstummensprache ein unverständliches Wort zu mir, dann nickte sie dem unsichtbaren Gegenüber freundlich zu.
»Ja, natürlich«, sagte sie und hielt mir den grauen Telefonhörer hin.
Es war Breitenbach.
»Jetzt habe ich Sie wahrscheinlich gerade mitten aus der Arbeit gerissen, nicht wahr?«, fragte er besorgt.
»Ach was! Guten Mor… äh, guten Tag, Herr Breitenbach.« Den Hörer zwischen Ohr und feuchte Schulter geklemmt, zurrte ich das Badetuch fester um meinen Bauch.
»Wie ist es, Anton? Wie weit sind Sie? Gibt es schon was zu lesen, etwas Vorzeigbares?«
Ich atmete schwer aus.
»Verstehe! Bloß nicht zu viel verraten vorher. Drei-, viermal eine Sache schlüssig erzählt, das ist der sicherste Weg, um sie dann wirklich nie mehr aufschreiben zu können – altes Gesetz. Gut, sehr gut, dass Sie sich daran halten. Da nimmt man nur sinnlos Druck vom Kessel.«
Erleichtert nickte ich. Isabell war unterdessen in die Küche gegangen, ich hörte, wie sie den elektrischen Wasserkocher volllaufen ließ.
Ganz unvermittelt fragte er mich nun: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich in nächster Zeit mal zu besuchen?«
»Nein, natürlich nicht, ich bitte Sie, immer sehr gern, das wissen Sie doch. Wann … also wann hätten Sie denn gedacht, so in etwa?« Meine Hand war schon unterwegs Richtung Kalender, der gestern neben dem Flurtelefon liegengeblieben...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Erinnerungen • Erkenntnisse • Hans Vaihinger • Immanuel Kant • Jens Sparschuh • Literatur • Philosophie • Studium • Universität • Vergangenheit • Vorlesung • Wirklichkeit |
ISBN-10 | 3-462-30307-4 / 3462303074 |
ISBN-13 | 978-3-462-30307-0 / 9783462303070 |
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