Schura - Maria Jansen

Schura (eBook)

Roman | Ein vielschichtiges Debüt über Verlust und was geschieht, wenn man nicht trauern kann

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Ecco Verlag
978-3-7530-0079-4 (ISBN)
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'Niemand sagte: Er ist gestorben. Sie sagten: Er ist weggegangen. Richtig wäre es zu sagen: Er ist nicht wiederaufgetaucht.'

Sommer sind für Schura eine Zeit der Leichtigkeit. Auf der Datscha ihrer Großeltern kann sie den strengen und emotional abwesenden Eltern entkommen, Erziehung und Vorbildfunktion übernehmen ihre vier älteren Brüder - Kostja, Mischa, Fedja und Grischa. Sie führen Schura ins Rauchen und Trinken ein, üben Vergeltung für den Übergriff des Nachbarjungen Iwan, sind ihre Verbündeten und Wegweiser. Bis einer von ihnen plötzlich verschwindet.

Der einschneidende Verlust entfremdet Schura von der Kernfamilie. Sie wächst zu einer wütenden, jungen Frau auf, die hinter ihrer Feindseligkeit große Unsicherheit verbirgt. Erst ein unerwartetes Wiedersehen konfrontiert sie aufs Neue mit ihrer unverarbeiteten Trauer und eröffnet eine Chance, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben ...



Maria Jansen, geboren 1988 in Petrosawodsk, Russland, immigrierte im Alter von acht Jahren mit Eltern, Großeltern und Bruder nach Deutschland. Sie studierte Germanistik und Philosophie in Düsseldorf und Innsbruck sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie ist Gewinnerin des Publikumspreises beim Literaturwettbewerb Wartholz 2018 und bekam mehrere Stipendien für ihren Debütroman. Sie lebt und schreibt in Berlin.

1


Kostja hat mal versucht, mir den Tod beizubringen. Mutters Vater war gestorben. Opi ist also tot, sollte ich gesagt haben. Aber wann kommt er denn wieder?

Er lachte laut und mit offenem Mund, sodass seine Augen hinter seinen Wangen verschwanden und ich unweigerlich mitlachen musste. Nichts fand er so amüsant, wie seiner kleinen Schwester die Welt zu erklären.

Alles, was er mir vor dem Schlafengehen vorlas, formte und richtete mich. Ich sollte so klug werden wie Mascha, die den Bären überlistete. So stark wie Marija Morewna, die ein ganzes Heer schlagen konnte. So gütig wie die schöne Wassilissa, die jedes Leid ohne Murren ertrug.

Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass die Kondensstreifen am Himmel das Wolkenmädchen Ilmatar hinterließ. Kostja hatte mir erzählt, wie sie durch die Lüfte flog. Kein Schauer, kein Orkan hatte Gewalt über sie.

Meine anderen Brüder – Mischa, Fedja und Grischa – nutzten meine kindliche Einfalt für ihre Späßchen. Sie ließen mich glauben, dass ich adoptiert sei, sie mich im Wald gefunden hätten, als mich Bären fressen wollten. Sie sagten, meine Finger würden abfallen, wenn ich sie zu viel benutzte. Sie wollten mich vom Popeln abhalten. Ich hörte sofort auf, alles anzufassen, und weigerte mich, im Kindergarten schreiben zu lernen. Nachdem ich das erste Mal einen Schwarz-Weiß-Film gesehen hatte, überzeugten sie mich davon, dass die Welt früher keine Farben hatte. Als ich die Wahrheit erfuhr, lachten sie so laut, fast wären sie an ihren Zungen erstickt. Ich heulte mich bei Kostja aus, der daraufhin Kopfnüsse und Arschtritte verteilte.

Meine Brüder waren immer da gewesen. Bei meinem ersten Schritt (und Fall), bei meinem ersten Milchzahn (und den damit verbundenen schlaflosen Nächten). Während alle anderen Kinder mit ihren Eltern zur Einschulung kamen, begleiteten mich alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa.

Mutter arbeitete, wie sie immer gearbeitet hatte, während Vater in seiner Garage hockte, die ihm nach dem Zerfall des Sozialismus zum zweiten Zuhause wurde.

Ich trug einen hellblauen Blazer, und meine frisch geschrubbten Füße steckten in frisch gebleichten Socken und nagelneuen schwarzen Lackschuhen, die beim Schreiten klack klack machten. Meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa – trugen verfilzte Pullover und Arbeiterstiefel, aber alle Leute kannten ihre Namen und begrüßten sie, als wären sie die Herrscher des Nordens.

Während jeder Erstklässler einen Blumenstrauß für die Klassenlehrerin mitgebracht hatte, trugen einige Jungs zwei. Chrysanthemen für die Lehrerin, weiße Pfingstrosen für mich. Dahlien für die Lehrerin, Gladiolen für mich. Ich war höflich und sagte: Danke. Danach würdigte ich sie keines Blickes mehr.

Schon im Kindergarten kämpften sie um mich wie um ein begehrtes Spielzeug. Sie wollten mit meinen Buntstiften zeichnen und meine Hand halten. Besonders gern hörten sie meinen Geschichten zu.

Wusstet ihr, dass ihr einen dicken Bauch bekommt, wenn ihr ins Wasser fallt? Ilmatar war siebenhundert Jahre schwanger, nachdem sie ins Meer fiel.

Voller Stolz sah Mutter dabei zu, wie ich mit jedem Tag schöner wurde. Vater war groß, aber unförmig – klobig, könnte man sagen. Mutter war so dünn und zäh wie ein nasses Streichholz. Alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa – kamen entweder nach Vater oder nach Mutter. So wurde ich zum goldenen Kalb inmitten der aschfahlen Landschaft, in allen Familienfotos nach vorne gedrängt.

Mutter liebte es, Oberflächen zu polieren. Sie besaß extravagante Blusen, von denen sie Ausschlag bekam, und holte – als wir uns das noch leisten konnten – die unbequemsten Möbel der ganzen Föderation ins Haus. Unsere Gäste lobten ihren Einrichtungsstil, aber niemand wollte lange bleiben.

Ich war eins dieser Sachen, die sie ausstaffieren und herumzeigen konnte. Seht nur, wie schön meine Tochter ist! Sieht meine Tochter nicht wunderschön aus? Währenddessen nährte sich Vaters Angst, ich würde ein naives Balg werden, das Wochenendvergnügen eines Oligarchen. Also investierte er das bisschen Geld, das reinkam, in meine Ausbildung.

Alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa – übten Karate im Verein nebenan oder spielten im Hof. Ich musste jeden Tag nach dem Unterricht in die Musikschule gehen, und wenn ich abends nach Hause kam, reihten sich die Nachhilfelehrer in unserem Flur.

Wenn ich mich beschwerte, wischte Kostja mit seiner warmen Hand über meine nassen Wangen und sagte: терпи. Mit Mutter kannst du nicht kämpfen, du kannst sie nur aushalten.

Morgens weckte sie mich eine Stunde vor meinen Brüdern, und ich schwankte unausgeschlafen durch die Wohnung wie ein Grashalm im Wind. Jeden Morgen musste ich mich mit eiskaltem Wasser waschen, das Gesicht, die Achseln und zwischen den Beinen. Ein heißes Bad nahmen wir nur sonntags, erst Mutter, dann ich, dann Vater und zum Schluss, als das Wasser bereits kalt war und ein Schmutzfilm auf der Oberfläche schwamm, alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa.

Ich war zu klein, mich an meine Eltern als erfolgreiche Geschäftsleute zu erinnern, aber wenn Vater über diesen Lebensabschnitt sprach, stellte ich ihn mir als Zaren vor, den die Veränderung der Zeit in den Abgrund gestürzt hatte. Sie beschäftigten über siebzig hart und nicht so hart arbeitende Menschen, die Büroräume, Restaurants und Privatresidenzen ausbauten – und auch mal einen Kiosk für die Bratwa.

Vater hatte die Aufträge reingeholt und Mutter die dicken Umschläge an Aufsichtsbehörden und Ordnungshüter überreicht. Dann wachten sie eines Morgens auf, und der Rubel war um dreißig Prozent gefallen. Was das genau hieß, wusste ich damals noch nicht, aber so ging die Geschichte.

Die abgenutzte Sofagarnitur aus grünem Samt erzählte noch von einer Zeit, in der Vater sein eigener Herr war und in den besten Restaurants der Stadt speiste. Die Besitzer legten seinen Namen noch respektvoll auf die Zunge, aber sie besaßen keine Restaurants mehr und waren nur noch Eigentümer ihrer eigenen Leben. Vater blieb sein Transporter, mit dem er hin und wieder irgendwelche Ladungen für Freundschaftspreise herumfuhr.

Er klagte ständig über Kopfschmerzen von den Abgasen, und Mutter klagte ständig über die leere Brieftasche. Dabei sagte sie im gleichen Atemzug, Armut sei keine Schande, sondern ein Unglück, und ging in die Kirche, um das Rad der Fortuna zu drehen. Aber es handelte sich wohl um einen platten Reifen, denn es bewegte sich nirgendwohin.

Jeden Morgen machte sie mir ein hart gekochtes Ei und hart geflochtene Zöpfe und band mir Tüllschleifen ins Haar, die wie Elefantenohren zu beiden Seiten meines Kopfes abstanden. Meine Kleider nähte sie alle selbst. Aus floralen Stoffen, die sie günstig bei einem tadschikischen Nachbarn erwarb.

Das altmodische Material verursachte Juckreiz, aber Mutter lächelte, wenn sie mich darin sah. Mein Name passte gut zu diesen Kleidern: Schura.

Mutter gab sich große Mühe, mich in eine Alexandra zu verwandeln, doch der Kosename haftete an mir wie der Wodkaschweiß an Onkel Wassja.

Schura war der Name meiner Babuschka.

Meine Babuschka buk nicht, häkelte nicht und las keine Gute-Nacht-Geschichten. Sie grub Kartoffeln, reparierte Regenrinnen und kannte sich mit Elektrik aus. Wenn sie Anweisungen gab, wurden sie ohne Widerrede befolgt.

Mein Deduschka war ein Bär von einem Mann. Er sah aus, als könnte er einen Angreifer mit nur einem Prankenhieb töten, unter Babuschkas Votum knickte er jedoch sofort ein: Да, да, да, ты права.

Babuschka war gerade mal eins fünfzig, aber einmal Vorarbeiterin in einer Brigade Anstreicherinnen gewesen. Sie hatte über vierzig Malerfrauen in sozialistischen Wettbewerben angeführt, wo sie stets den ersten Platz holte. Fast zehn Jahre lang arbeitete sie nebenbei in der kommunalen Volksvertretung. Tagein, tagaus hörte sie sich die Klagen der Bevölkerung an – das Dach sei undicht, der Strom wieder ausgefallen, eine riesige Pfütze vor der Tür –, um in den oberen Etagen Reformen durchzusetzen. Sie sollte den goldenen Stern bekommen, die höchste Auszeichnung des Staats, und nur weil sie nie Mitglied der Partei war, wurde er ihr aberkannt, bevor er überhaupt in den Guss kam. Stattdessen erhielt sie für ihre zivilen Verdienste den Orden der Oktoberrevolution und den Rotbannerorden. Nach der Verleihung sahen die Medaillen erst wieder das Tageslicht, als ich sie in einer Kiste auf dem Dachboden der Datscha entdeckte.

Jeden Sommer verbrachten wir bei unseren Großeltern auf der Datscha. Babuschka und Deduschka lebten im Rhythmus eines Kartoffellebens. Sie wechselten ihren Hauptwohnsitz im Mai, wenn der Frost nachließ und sie Kartoffeln pflanzen konnten, und kehrten im September in ihre Stadtwohnung zurück, wenn die letzten Knollen ausgegraben waren. Wenn wir im Juni mit den ersten Sonnenstrahlen der Sommerferien aufs Land fuhren, blühten die Bäume.

Vater packte uns in den Wagen, und es ging am Ufer des Sees aus der Stadt raus. Während Kostja selbstverständlich den Beifahrersitz besetzte, weil er der Älteste war, hatte ich auf dem Rücksitz die Wahl zwischen dem Schoß von Mischa, Fedja oder Grischa. Die Autofahrt war lang und unbequem. Genau wie Vaters Monologe. Ihm ging nie der Brennstoff aus:

Wir haben mehr als eine Million Arbeitslose im Land, aber als Saisonarbeiter haben sie wieder Migranten und Häftlinge geholt. Und dann sind sie empört, dass es einen Aufstand gibt? Die sollten...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bruder • Debüt • Debütautorin • Debütroman • Deutschsprachige Literatur • Familie • Familientrauma • Geschwister • Geschwister Buch • Literatur • Loslassen • Märchen • Russland • Tod • tod buch • Trauer • Verlust • Was man von hier aus sehen kann
ISBN-10 3-7530-0079-5 / 3753000795
ISBN-13 978-3-7530-0079-4 / 9783753000794
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