In einer dunkelblauen Stunde (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491540-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In einer dunkelblauen Stunde -  Peter Stamm
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»In einer dunkelblauen Stunde« - Das neue Buch von Peter Stamm: Ein Roman über einen Schriftsteller und die Geheimnisse seines Lebens Seit Tagen wartet die Dokumentarfilmerin Andrea mit ihrem Team auf Richard Wechsler in seinem Heimatort in der Schweiz. Bei ersten Aufnahmen in Paris hatte der bekannte Schriftsteller wenig von sich preisgeben wollen und nun droht der ganze Film zu scheitern. In den kleinen Straßen und Gassen des Ortes sucht Andrea entgegen der Absprache nach Spuren von Wechslers Leben. Doch erst als sie wieder seine Bücher liest, entdeckt sie einen Hinweis auf eine Jugendliebe, die noch immer in dem kleinen Ort leben könnte. Eine Jugendliebe, die sein ganzes Leben beeinflusst hat und von der nie jemand wusste.

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018. Literaturpreise: Rheingau Literatur Preis 2000 Bodensee-Literaturpreis 2012 Friedrich-Hölderlin-Preis 2014 Cotta Literaturpreis 2017 ZKB-Schillerpreis 2017 Solothurner Literaturpreis 2018 Schweizer Buchpreis 2018

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018. Literaturpreise: Rheingau Literatur Preis 2000 Bodensee-Literaturpreis 2012 Friedrich-Hölderlin-Preis 2014 Cotta Literaturpreis 2017 ZKB-Schillerpreis 2017 Solothurner Literaturpreis 2018 Schweizer Buchpreis 2018

Ein Roman mit Sogwirkung

von großer komischer Leichtigkeit

Mit Klugheit und Raffinesse erschafft Peter Stamm ein Spiegelkabinett [...]

[...] ein Buch über die Kunst und das Leben [...]

Eine Attraktion nicht nur für blaue Stunden.

Ein komplexer Roman, mit Leichtigkeit geschrieben.

Peter Stamm muss unheimlich viel Spaß gehabt haben beim Schreiben dieses Buches

Wie ein Weberschiffchen lässt Stamm die Freuden und Qualen kreativer Berufe zwischen den Zeilen seines neunten Romans hin und her sausen.

Wechselspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Je mehr Stamm seine Schriftstellerfigur mit Zweifeln und Unklarheiten umstellt, umso deutlicher erscheint er selbst als starker und souveräner Autor.

»In einer dunkelblauen Stunde« ist zauberhaft schön und behandelt unpathetisch die wesentlichen existenziellen Fragen.

Es ist ein verspieltes Buch, labyrinthisch konstruiert, mit so viel Komik und Ironie wie bisher kein anderes Werk dieses Autors. Ein hintergründiges Lesevergnügen.

Stamm [ist ein] begnadeter literarischer Identitätsspieler, Doppeltebödenbauer, brillanter Ausloter menschlicher Möglichkeiten

[...] in vielen Passagen gelingen Stamm hochinteressante Sätze, die für alle schreibenden Menschen gültig sein dürften

[...] dass er hier so herrlich souverän, tricky und geradezu lässig die Möglichkeiten des Erzählens ausreizt.

I


Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, sagt Wechsler, aber wer weiß das schon? Es gab Momente, in denen mir das Ende näher schien als jetzt.

Er steht am Ufer der Seine, der Himmel ist bedeckt, ein paar Tauben fliegen vorüber. Wechsler macht eine unbestimmte Handbewegung, als wolle er den Gedanken verscheuchen. Im Hintergrund ist ein Touristenschiff zu sehen, das mit überraschend hoher Geschwindigkeit vorüberfährt. Wechsler dreht sich von der Kamera weg, schaut auf den Fluss, zuckt mit den Schultern.

Damit könnten wir doch anfangen.

Das war, nachdem er uns von jenem Unfall in den Bergen erzählt hat, nicht wahr?, sagt Tom. Er sitzt auf dem Bett und liest etwas.

Was liest du da? Es war kein Unfall. Nur beinah.

Für Wechsler war das ein Schlüsselmoment.

Sollen wir mit ihm in die Berge fahren und filmen, wie er da herumstolpert und sich erinnert? Wenn er überhaupt kommt. Die Geschichte haben wir doch schon. Thomas.

Seit kurzem will er, dass ich ihn Thomas nenne. Warum will jemand, der vierzig Jahre lang Tom gewesen ist, plötzlich Thomas sein? Ich springe zurück.

Es wäre schön, wenn wir die Aufnahme in den Bergen machen könnten, sagt Tom. Berge sind immer schön. Paris, das Dorf, die Berge.

Vermutlich wird die Geschichte mit jedem Mal erzählen etwas dramatischer. Was liest du da?

Den Hotelprospekt. Eine kleine Entdeckungsreise durch unser Hotel, umgeben von einer abwechslungsreichen Landschaft in einem verträumten Weinbauerndorf. Eine hochstehende Gastronomielandschaft, die für jeden Gaumen etwas Passendes bereithält. Bei uns lassen sich Arbeit und Vergnügen bestens verbinden. Nichtraucherzimmer, freier Internetzugang, ein Eldorado für jeden Geschäftsmann.

Und für die Geschäftsfrau?

Da ist es. Ich schalte auf normale Geschwindigkeit.

… hatte mich im Weg geirrt, sagt Wechsler, aber statt zurückzugehen … ich habe es immer gehasst, Wege zurückzugehen. Das Gelände wurde steiler und steiler, alles rutschte, es kam mir vor, als sei die ganze Welt in Bewegung, nichts mehr fest. Und dann waren da plötzlich Felsen. Da habe ich gedacht, jetzt … dass ich sterblich bin, wurde mir da erst so richtig … habe ich da erst begriffen.

Er hat die unangenehme Angewohnheit, Sätze nicht zu Ende zu sprechen. Man weiß zwar, was er meint, aber er sagt es nicht. Wir können keinen Film aus lauter angefangenen Sätzen machen.

Ich drücke auf schnellen Vorlauf.

… wer weiß das schon, sagt Wechsler. Es gab Momente, in denen mir das Ende näher schien als jetzt.

Wir könnten das auch ganz an den Schluss nehmen, sagt Tom. Quasi als Ausblick. Der Film ist zu Ende, aber das Leben geht weiter. Und dann verschwindet er in den Sonnenuntergang, da an dem kleinen See. So endet doch eines seiner Bücher.

Das war am Meer, sage ich. Ich möchte mein eigenes Zimmer.

Ich gehe spazieren, sagt Tom. Thomas.

Thomas? Ich muss grinsen, wenn ich ihn so nenne.

Andrea?, sagt er und hebt die Augenbrauen. Er bewegt sich mit einem Ächzen vom Bett herunter und zieht die Schuhe an.

Warum haben deine Schuhe keine Schnürsenkel? Und warum fällt mir das jetzt erst auf?

Die kommen aus Japan.

Und Japaner können keine Schuhe binden? Ach was! Ich müsste auch mal an die frische Luft. Ich drehe hier noch durch.

 

Tom ist den ganzen Nachmittag nicht zurückgekommen. Ich hätte auch Lust gehabt spazieren zu gehen, aber wir sind nicht zum Vergnügen hier, wir haben nur so und so viele Drehtage. Schon in Paris haben wir das Budget arg strapaziert, die Hotelzimmer, das Essen. Auch wenn wir im Moment nicht viel machen können, wenigstens da sein sollten wir, Präsenz markieren. Das ist so ein Wechsler-Wort: Präsenz. Heute sollte er kommen, ich bin zum Bahnhof gegangen, um ihn abzuholen, aber er war nicht im verabredeten Zug. Vielleicht hat er sich um einen Tag vertan.

Ruf ihn doch an, hat Tom gesagt.

Er hat kein Handy.

Natürlich hat er ein Handy, ich habe es selbst gesehen.

Jedenfalls hat er uns seine Nummer nicht gegeben. Ich schreibe ihm eine Mail.

Ich habe ihm eine Mail geschrieben. Das war vor dem Mittag, bis jetzt hat er sich nicht gemeldet. Ich habe noch gar nichts gegessen heute.

Ich nehme ein Blatt Papier und schreibe darauf: Kindheit, Berge, Wasser, Paris, Frauen. Und dann noch: Bücher. Wer ist die Frau?, schreibe ich. Ich zerknülle das Blatt und werfe es in den Papierkorb.

Ich spiele mit dem Material herum, füge ein paar Aufnahmen zu einem kleinen Video zusammen. Wechsler geht. Er geht über den Friedhof Montparnasse, er geht einen breiten Boulevard entlang, er geht durch den Jardin du Luxembourg. Er geht einen anderen Boulevard hinunter, er spaziert am Ufer der Seine, schaut sich die Auslagen der Bouquinisten an, zieht ein Buch aus einer der Kisten, einen Fotoband, blättert darin, bezahlt. Er geht durch eine schmale Straße, die Kamera ist ihm dicht auf den Fersen. Er kommt auf die Kamera zu, macht etwas mit der Hand im Gesicht, das sieht hübsch aus. Obwohl er immer so weltfremd tut, weiß er schon ziemlich gut, wie er vor der Kamera Wirkung erzeugen kann. Er geht an der Kamera vorbei. Ich könnte einen zweistündigen Film darüber machen, wie Wechsler durch Paris spaziert. Er betritt eine Bäckerei, kommt wieder heraus, sagt etwas und lacht. Da hat er Croissants für uns alle gekauft. Manchmal kann er ganz nett sein.

Mir ist etwas aufgefallen, ohne dass ich recht weiß, was es ist. Dass irgendetwas ungewöhnlich ist. Ich schaue mir die Aufnahmen noch einmal an. Jetzt sehe ich, dass im Hintergrund einmal auf dem Friedhof, einmal auf dem Boulevard, dieselbe Frau zu sehen ist. Sie ist zu weit weg und in der Unschärfe, ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie trägt einen hellgrünen Regenmantel, und davon gibt es nicht viele. Auch wie sie sich bewegt, irgendwie hüpfend, ist unverkennbar, es muss dieselbe Frau sein. Vielleicht ist es Zufall, aber die Aufnahmen entstanden in einigem zeitlichen Abstand. Seltsam. Auch so ein Wort, das Wechsler dauernd benutzt: Seltsam.

Wo Tom nur bleibt?

 

An dem Tag hatte sich etwas verändert, da ist etwas geschehen, ich weiß nicht genau was, aber nichts Gutes. Es war am letzten Drehtag in Paris, wir hatten uns wie immer in jenem Café an der Rue du Bac getroffen, dem Café Les Mouettes. Ich kenne keinen Ort auf der Welt, an dem man weniger mit Möwen rechnen würde als dort. Vielleicht noch in der Wüste Gobi oder am Südpol. Erst hatten wir gedacht, es sei Wechslers Stammlokal, aber dann stellte sich heraus, dass er es zufällig ausgewählt hatte und nie vorher dort gewesen war. Ich glaube, er wollte uns auf neutralem Grund begegnen. Oder uns auf eine falsche Fährte locken. Es könnte mein Stammlokal sein, sagte er, wenn ich eines hätte.

Bei unserem ersten Treffen im Café Les Mouettes hatte er uns auf ein unscheinbares Tor hingewiesen, das in einen Hof führte und zur Chapelle de l’Epiphanie der Missions Etrangères. Von hier aus seien Tausende Missionare in die ganze Welt geschickt worden, um die Heiden … Er bemerkte den Nespresso-Shop gleich daneben, lachte. Das sind die neuen Missionare. Kaffee für alle, die Epiphanie des Geschmacks.

An jenem Tag gegen Ende des Drehs merkte ich gleich, dass Wechsler schlechte Laune hatte, dass ihn etwas irritierte. Früher Nachmittag, Durchhänger, typisch. Es gab ein Gefummel mit dem Mikrophon, Wechsler war ungeduldig, auch wenn er es zu verbergen suchte. Er versucht ja immer, alles zu verbergen. Diesmal sollte Tom das Gespräch führen.

Diese namenlosen Erzähler in Ihren Büchern, sind das Sie?

Ich hatte ihm eingebläut, diese Frage nie zu stellen, vermutlich war es deshalb das Erste, was er wissen wollte, das Einzige, woran er sich erinnern konnte.

Das bin nicht ich, sagt Wechsler zu Tom, das sind Sie, haben Sie das denn gar nicht gemerkt?

Ich musste lachen über Toms verdutzten Gesichtsausdruck. Zum Glück hört man das nicht auf der Tonspur. Da hat Wechsler noch gelächelt.

Reden wir über Frauen, sagt Tom jetzt aus dem Off. In Ihren Büchern spielen sie eine wichtige Rolle, trotzdem waren Sie nie verheiratet.

Wechslers Gesicht wirkt wie eingefroren, er blickt starr in die Kamera. Ich war mir kurz nicht sicher, das weiß ich noch, ob er die Frage überhaupt gehört hatte oder ob er in Gedanken anderswo war. Dann sagt er ganz langsam und mit müder Stimme, als müsse er einem begriffsstutzigen Kind etwas erklären, worüber soll ich denn sonst schreiben? Über Kaninchen? Tom lacht gequält. Er hatte mir am Abend vorher seine Theorie über Wechsler und die Frauen dargelegt, ein kompliziertes Gedankengebäude, in dem es um Begehren und Verführung ging, um Narzissmus und auch um Wechslers Mutter, wenn ich mich nicht irre oder um seinen Vater. Und er hatte auch eine Theorie über konfrontierende Kommunikation, die er offenbar gerade ausprobierte. Jetzt scheint er nicht weiterzuwissen, jedenfalls ist es lange still.

Ist es Ihnen wichtiger zu lieben oder geliebt zu werden?, fragt er schließlich. Was ist das denn für eine Frage?

Was ist das für eine Frage!, sagt Wechsler. Geht es in diesem Film um Literatur oder um Bettgeschichten? Ich schreibe über Frauen und Männer, weil unsere Welt nun mal von Frauen und Männern bewohnt wird. Er steht auf, ich versuche, ihm mit der Kamera zu folgen. Er verlässt das Café.

Die Kamera bleibt auf der Tür stehen, schwankt ein wenig, man sieht Wechsler draußen vor dem Café, er zündet sich eine Zigarette an, Leute gehen vorbei, etwas Grünes, ist das wieder die Frau mit dem Regenmantel? Der Verkehr auf der Straße, ein Bus, ein Fahrradkurier mit...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Dokumentarfilm • Ein Buch von S. Fischer • Jugendliebe • Literaturbetrieb • Schriftsteller • Schweiz
ISBN-10 3-10-491540-7 / 3104915407
ISBN-13 978-3-10-491540-1 / 9783104915401
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