Hunger (eBook)
256 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-29360-4 (ISBN)
Ein junger Mann irrt durch eine Stadt, ohne Ziel und Daseinszweck, körperlich ausgezehrt, doch «vom fröhlichen Wahnsinn des Hungers gepackt». Das ist es, was ihn aufrecht hält: ein irrlichternder Geist, ein seismografisches Empfinden, eine fantastische Erfindungs- und Einbildungskraft. Den Kapriolen seiner halluzinatorischen Zustände verdankt der weltberühmte Roman jene ungeheure Komik, die schon Astrid Lindgren begeisterte. Nicht, was in ihm geschildert wird - nämlich die manischen Ausgeburten von «Hirnfieber» bei Nahrungsentzug -, sondern, wie diese existenzielle Grenzerfahrung gestaltet ist, macht ihn zu einem Meilenstein der literarischen Moderne. Der desolaten Verfassung des Ich-Erzählers entspricht ein fiebriger Sprachduktus, der Scham und Größenwahn, Verzweiflung und Überspanntheit nicht nur behauptet, sondern erstmals eine eigene radikale Erzählweise dafür findet. Über weite Strecken im inneren Monolog gehalten, entwickelt Hamsun hier Stilmittel, die Jahrzehnte später Marcel Proust, James Joyce oder Virginia Woolf aufgreifen werden. Nie zuvor oder danach sind Entbehrung und Hunger - der nach Brot wie der nach Anerkennung und Liebe - mit so ergreifender Tragikomik wiedergegeben worden wie im Hauptwerk des späteren Nobelpreisträgers.
Deutsche Referenzausgabe nach der Erstfassung von 1890 unter Berücksichtigung des im Januar 2022 erschienenen Kommentars der Dänischen Sprach- und Literaturgesellschaft (Det Danske Sprog- og Litteraturselskab).
Knut Hamsun (1859-1952), Sohn eines Schneiders und Landpächters, wuchs zweihundert Kilometer nördlich des Polarkreises auf. Ausgedehnte Reisen führten ihn bis nach Amerika und in den Orient, ehe er vor dem Ersten Weltkrieg schließlich in seine Heimat Norwegen zurückkehrte. 1920 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Bei Manesse sind von ihm der Roman «Pan» und der Erzählband «Die Königin von Saba», beide in Neuübersetzung, erschienen.
Zweites Stück
Ein paar Wochen später hielt ich mich eines Abends draußen auf.
Ich hatte auf einem der Friedhöfe gesessen und an einem Artikel für eine der Zeitungen geschrieben; währenddessen war es zehn Uhr geworden, es wurde dunkel, und das Tor sollte geschlossen werden. Ich war hungrig, sehr hungrig; die zehn Kronen hatten leider nur allzu kurze Zeit gereicht; nun hatte ich seit zwei, beinahe drei Tagen nichts gegessen, ich fühlte mich ein wenig matt und etwas erschöpft vom Führen des Bleistifts. In der Tasche hatte ich ein halbes Federmesser und einen Schlüsselbund, aber nicht eine Øre.
Als das Friedhofstor geschlossen wurde, hätte ich direkt nach Hause gehen sollen; doch aus einer instinktiven Scheu vor meiner Unterkunft, in der alles dunkel und leer war – einer verlassenen Klempnerwerkstatt, in der ich mich einstweilen aufhalten durfte –, wankte ich weiter, trieb auf gut Glück am Rathaus vorbei, bis hinunter ans Meer zu einer Bank am Eisenbahnkai, auf die ich mich setzte.
In diesem Moment ging mir kein trister Gedanke durch den Kopf, ich vergaß meine Not und fühlte mich beruhigt vom Anblick des Hafens, der friedlich und schön im Halbdunkel lag. Aus alter Gewohnheit wollte ich mir selbst eine Freude machen und den Artikel noch einmal durchlesen, den ich gerade geschrieben hatte und der meinem leidenden Hirn das Beste zu sein schien, was ich je verfasst hatte. Ich zog mein Manuskript aus der Tasche, hielt es dicht vor die Augen, um es lesen zu können, und überflog eine Seite nach der anderen. Schließlich wurde ich müde und steckte die Blätter wieder in die Tasche. Alles war still; die See lag da wie blaues Perlmutt, kleine Vögel flogen stumm von einem Ort zum anderen. Ein Polizeiwachtmeister patrouilliert ein Stück weit entfernt, sonst ist kein Mensch zu sehen, im ganzen Hafen regt sich nichts.
Ich zähle noch einmal mein Geld: ein halbes Federmesser, ein Schlüsselbund, aber keine Øre. Mit einem Mal greife ich in meine Tasche und ziehe die Blätter wieder heraus. Es war ein mechanischer Akt, ein unbewusstes Zucken meiner Nerven. Ich suchte mir ein weißes, unbeschriebenes Blatt und – Gott weiß, woher ich die Idee habe – faltete eine spitze Tüte, verschloss sie sorgfältig, sodass sie aussah, als sei sie voll, und warf sie weit weg von mir auf die Pflastersteine; der Wind trug sie noch ein Stückchen weiter, dann blieb sie liegen.
Allmählich quälte mich der Hunger. Ich betrachtete diese weiße Tüte, die von blankem Silbergeld gleichsam zu platzen schien, und glaubte schließlich tatsächlich, dass sie wirklich etwas enthielt. Mit durchgedrücktem Rücken saß ich da und brachte mich dazu, die Summe zu erraten – wenn ich richtig riet, gehörte es mir! Ich stellte mir die kleinen, niedlichen Zehn-Øre-Münzen am Boden der Tüte und die fetten, geriffelten Kronen darüber vor – eine ganze Tüte voller Geld! Ich saß mit aufgerissenen Augen da und riss mich zusammen, um nicht hinzugehen und sie zu stehlen.
Da hörte ich den Wachtmeister husten – wie kam ich auf den Gedanken, genau dasselbe zu tun? Ich stehe von der Bank auf und huste, ich wiederhole es drei Mal, damit er es hört. Wie würde er sich auf die Tüte stürzen, wenn er käme! Ich freute mich über diesen Streich, rieb mir entzückt die Hände und fluchte gewaltig aufs Geratewohl. Ihm würde ich schon eine lange Nase drehen, dem Hund! In den heißesten Pfuhl der Hölle würde er wegen dieses Schurkenstreichs versinken! Ich war vom Hunger betrunken, mein Hunger hatte mich berauscht.
Eine Minute später kommt der Wachtmeister, seine eisenbeschlagenen Absätze klappern auf dem Pflaster, er sieht sich nach allen Seiten um. Er lässt sich viel Zeit, er hat die ganze Nacht vor sich, er sieht die Tüte nicht – bis er direkt davorsteht. Dann hält er inne und betrachtet sie. Was dort liegt, sieht so weiß und wertvoll aus, möglicherweise eine kleines Sümmchen, was? Ein kleines Sümmchen Silbergeld? … Und er hebt die Tüte auf. Hm! Sie ist leicht, sie ist sehr leicht. Vielleicht eine kostbare Feder, ein Hutschmuck … Und er öffnet sie vorsichtig mit seinen großen Händen und schaut hinein. Ich lachte, lachte und schlug mir auf die Knie, lachte wie ein Wahnsinniger. Doch nicht ein Laut kam aus meiner Kehle; mein Lachen war stumm und hektisch, es hatte die Emphase eines Weinens …
Dann klappert es erneut auf den Pflastersteinen, und der Wachtmeister schreitet hinüber zum Kai. Ich saß da mit Tränen in den Augen und rang um Atem, vollkommen außer mir vor fieberhafter Heiterkeit. Ich führte laute Selbstgespräche, erzählte mir von der Tüte, ahmte die Bewegungen des armen Wachtmeisters nach, schaute in meine hohle Hand und wiederholte wieder und wieder für mich: «Er hustete, als er sie wegwarf! Er hustete, als er sie wegwarf!» Diesen Worten fügte ich neue hinzu, versah sie mit prickelnden Zusätzen, stellte den ganzen Satz um und verschärfte ihn: «Er hat ein einziges Mal gehustet – khöhö!»
Ich verlor mich in Variationen dieser Worte, und es dauerte bis zum späten Abend, bis meine Heiterkeit endete. Eine dösige Ruhe überkam mich, eine angenehme Mattigkeit, gegen die ich mich nicht wehrte. Die Dunkelheit war noch undurchdringlicher geworden, eine leichte Brise zeichnete Furchen in das Perlmutt der See; die Schiffe, deren Masten ich gegen den Himmel sah, wirkten mit ihren schwarzen Rümpfen wie lautlose Ungeheuer, die mit aufgerichteten Borsten auf mich warteten. Ich hatte keine Schmerzen, mein Hunger hatte sie abgestumpft; stattdessen fühlte ich mich angenehm leer, unberührt von allem um mich herum und glücklich, von niemandem gesehen zu werden. Ich legte die Beine auf die Bank und lehnte mich zurück, so konnte ich am besten das ganze Wohlbehagen der Abgeschiedenheit genießen. Da war keine einzige Wolke in meinem Gemüt, nicht die Spur eines Gefühls des Unbehagens, keine Lust und kein Verlangen im Radius meiner Gedanken war unerfüllt geblieben. Mit offenen Augen lag ich in einem Zustand der Abwesenheit meiner selbst auf der Bank und hatte das Gefühl, wunderbar weit fort zu sein.
Noch immer war kein Laut zu hören, der mich störte; die sanfte Dunkelheit hatte die ganze Welt vor meinen Augen verborgen und mich in reiner Ruhe begraben – nur das leere Rauschen der Stille schweigt monoton in meinen Ohren. Und die dunklen Ungeheuer dort draußen wollten mich ansaugen, wenn die Nacht kam, sie wollten mich weit übers Meer und durch fremde Länder tragen, in denen keine Menschen leben. Und sie wollten mich zu Prinzessin Ylajalis Schloss bringen, wo eine ungeahnte Herrlichkeit mich erwartet, größer als die irgendeines Menschen. Und sie selbst wird in einem glänzenden Saal sitzen, in dem alles aus Amethyst ist, auf einem Thron aus gelben Rosen, und sie wird mir die Hand entgegenstrecken, wenn ich eintrete, sie wird grüßen und Willkommen rufen, wenn ich näher trete und niederknie: «Willkommen, Ritter, mir und meinem Land! Ich habe zwanzig Sommer auf dich gewartet und dich in allen hellen Nächten gerufen, und wenn du getrauert hast, habe ich hier geweint, und wenn du geschlafen hast, habe ich dir wunderbare Träume eingehaucht!» … Und die Schöne nimmt meine Hand und geleitet mich, führt mich durch lange Flure, in denen große Menschenmengen Hurra rufen, durch helle Gärten, in denen dreihundert junge Mädchen spielen und lachen, in einen anderen Saal, in dem alles aus leuchtenden Smaragden besteht. Die Sonne scheint, in Galerien und Gängen sind bezaubernde Chöre von Musik zu hören, Duftströme schlagen mir entgegen. Ich halte ihre Hand in meiner, ich spüre in meinem Blut die wilde Schönheit der Verführung; ich lege meinen Arm um sie, und sie flüstert: «Nicht hier, komm weiter noch!» Und wir betreten den roten Saal, in dem alles aus Rubin ist, eine überbordende Herrlichkeit, in der ich versinke. Da spüre ich ihre Arme um mich, sie haucht mir ins Antlitz, flüstert: «Willkommen, Liebster! Küss mich! Mehr … mehr …»
Ich habe auf meiner Bank Sterne vor den Augen, meine Gedanken rauschen in einen Orkan aus Licht …
Dort, wo ich lag, war ich eingeschlafen und wurde von dem Wachtmeister geweckt. Da saß ich nun, unbarmherzig ins Leben und Elend zurückberufen. Meine erste Empfindung war stupides Erstaunen, mich selbst unter freiem Himmel zu finden, doch schon bald abgelöst von bitterem Trübsinn; mir kamen beinahe die Tränen vor Kummer, noch am Leben zu sein. Es hatte geregnet, während ich schlief, meine Kleider waren vollkommen durchnässt, ich spürte eine feuchte Kälte in meinen Gliedern. Die Dunkelheit war noch undurchdringlicher geworden, nur mit Mühe konnte ich die Gesichtszüge des Wachtmeisters vor mir erkennen.
«So», sagte er, «aufstehen!»
Ich erhob mich sofort; hätte er mir befohlen, mich wieder hinzulegen, hätte ich ebenfalls gehorcht. Ich war sehr deprimiert und vollkommen kraftlos, hinzu kam, dass ich beinahe augenblicklich den Hunger wieder spürte.
«Warten Sie mal!», rief der Wachtmeister mir nach, «Sie vergessen ja Ihren Hut, Sie Dummkopf! So, gehen Sie jetzt!»
«Ich hatte auch das Gefühl, dass da doch noch etwas war, dass ich wohl – wohl etwas vergessen habe», stammelte ich geistesabwesend. «Danke. Gute Nacht.»
Und ich wankte davon.
Wer doch bloß ein wenig Brot zu sich nehmen könnte! So ein herrliches kleines Roggenbrot, von dem man abbeißen konnte, während man durch die Straßen lief. Als ich weiterging, stellte ich mir diese besondere Sorte Roggenbrot vor, das mir so unsagbar gut schmecken würde. Ich hungerte bitterlich, wünschte mich tot und begraben, wurde sentimental und weinte. Mein Elend würde nie ein Ende nehmen! Mit einem Mal blieb ich auf der Straße stehen,...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2023 |
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Nachwort | Felicitas Hoppe |
Übersetzer | Ulrich Sonnenberg |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sult |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Avantgarde • Dänemark • eBooks • Felicitas Hoppe • Klassiker der Weltliteratur • Literarische Moderne • Literarisches Quartett 2023 • Meisterwerk • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Neuübersetzung • Norwegen • Referenzausgabe • Skandinavien • Ulrich Sonnenberg |
ISBN-10 | 3-641-29360-X / 364129360X |
ISBN-13 | 978-3-641-29360-4 / 9783641293604 |
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Größe: 2,3 MB
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