Die Nacht unterm Schnee (eBook)
250 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77405-2 (ISBN)
Winter 1945: Verwundet liegt die sechzehnjährige Elisabeth, ein Landarbeiterkind, in einem Bunker unter der Erde und wird von einem russischen Deserteur gepflegt. Durch das Ofenloch hört sie Schritte im Schnee, und fiebernd stellt sie sich vor, dass dort oben nicht nur alle, die sie kennt und mag, ihre Eltern und Brüder, die Oma aus Danzig, sondern auch ihr künftiger Mann und die ungeborenen Kinder nach ihr suchen und sich über die Trümmer entfernen, ohne zu ahnen, dass sie darunter liegt. Und plötzlich denkt die Vergewaltigte, dass es gut so ist, dass sie nie mehr hinaufwill zu ihnen, zu allem, und für immer in dieser Nacht, diesem Frieden unter dem Schnee bleiben möchte. Aber sie muss ihr Leben zu Ende leben.
In einem atemberaubend geschriebenen Panorama der frühen Nachkriegsjahre zeichnet Ralf Rothmann das Portrait einer Frau, der stets die Angst im Weg steht, während ihr das Durchlittene jedes Gefühl dafür nimmt, welches Leid sie anderen zufügt; einer lebenslang hart arbeitenden Frau und Mutter, die von einem Rummel zum anderen tanzt, um nicht mehr zur Besinnung zu kommen, und vor der man sich doch verneigen muss: weil sich in ihrer Verzweiflung der Wille zur Liebe ausdrückt.
Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.
Erstes Kapitel
Rosen
»Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen. Immer ängstlich, mit unruhigen Augen und fliegendem Puls, bemühte sie sich zwar, es jedem recht zu machen, sich ›anständig‹ zu kleiden und ›ordentlich‹ zu frisieren; aber kaum wurde der Mond voller, stürzte sie sich mit allen Sinnen in das nächste Desaster, das ein Tanzabend sein konnte oder ein betrunkenes Gefummel hinter dem Kirmeswagen. Und es war ja wohl auch ein herber Triumph: Sich unter glühenden Girlanden der Enttäuschung, dem Verlust, dem Ende von allem hinzugeben, verlieh ihr eine nahezu spöttische Macht über die Flüchtigkeit jeder Freude.«
Dass Wolf, von dem dieser Briefauszug stammt, irgendwann etwas über seine Mutter schreiben würde, »meine kleine wilde Mutter«, wie er sie einmal am Telefon nannte, hatte ich erwartet. Nach einem langen Leben als Bibliothekarin, die viele Autoren auf unzähligen Vortragsabenden kennengelernt hat, weiß ich: Ein Schriftsteller verfügt selten über mehr als seine Biografie, und wenn er redlich ist, präsentiert er den Lesern nichts von dem, was eigentlich jeder erfinden könnte, etwas Originelles womöglich; trostlos klug sind wir schließlich alle. Vielmehr schreibt er, was nur er schreiben kann: seine eigene, von den Echos und Schatten der Vergangenheit und dem Vorschein der Zukunft umschwebte Geschichte. Nur dann wird seine Sprache eindringlich werden und, so paradox das klingen mag, auch andere angehen. Oder wie es Richard, mein verstorbener Mann, viel lakonischer sagen würde: »Tell the story you know.«
Ein Buch über Elisabeth … Dass sie ihr Leben für erwähnenswert gehalten hätte, bezweifle ich. Übertrieben bescheiden war sie zwar nicht, wollte durchaus etwas gelten, wie jeder Mensch, aber gleichzeitig fürchtete sie sich vor dem Augenmerk anderer. Zufriedenheit und alltägliches Behagen anstreben und dabei den Leuten so wenig wie möglich auffallen, das war das Wichtigste für sie. Sogar ihren eigenen Namen mit seinem melodischen Vokalprunk und dem eleganten Auslaut gab sie dafür preis; er klang in ihren Kreisen, in den Bierzelten und Tanzschuppen der Land- und Bergarbeiter, vermutlich zu auffällig oder gar zu edel; Liesel wollte sie genannt werden, allenfalls Lisbeth.
Wolf, zu dem ich seit seinem ersten Buch in Kontakt geblieben war, hatte mich auf der kleinen Feier zu meiner Pensionierung im Jahr 2000 um Briefe und Fotos gebeten, und während ich nach Erinnerungen an sie suchte, fand ich die Postkarte von Nanni Brüggemeier in einem Schuhkarton wieder. Sie hatte die Traueranzeige aus der »Neuen Ruhr Zeitung« mit einem kurzen, von dornigen Rosen umrankten Bibelzitat daraufgeklebt, und plötzlich wollte mir der Umstand, dass Elisabeth nicht einmal ein Jahr nach ihrem Mann, nach Walter, gestorben war – ich hatte es sicher schon damals bemerkt, mit der Zeit aber vergessen –, wie ein nachträglicher Liebesbeweis vorkommen, trotz allem. Als hätte sie zuletzt etwas gutmachen und ihn nicht allein lassen wollen, wo immer er war. Auch auf der Trauerkarte stand übrigens Liesel, nicht Elisabeth.
Mein Vater hatte sie eingestellt, noch kurz vor seinem Tod. Überzeugt davon, dass das Marinekasino am Kieler Hafen, das er bewirtschaftete, den Tommys zufallen würde, hatte er bereits im März 45 heimlich nach Frauen gesucht, die Englisch sprachen und Erfahrungen im Service besaßen. Davon gab es einige unter den vielen Flüchtlingen in den Scheunen und Ställen des Gutes bei Bovenau, das meinem Schwager gehörte. Aber ich hatte unseren Vater ausdrücklich auf Elisabeth hingewiesen, nicht nur, weil die in Danzig auf der Mittelschule gewesen war, »Gone with the Wind« kannte, mein damaliges Lieblingsbuch, und in den Ferien als Kellnerin gearbeitet hatte. Mir gefiel ihre gutgelaunte Frechheit, ihre Schlagfertigkeit und, ich gebe es zu, mir gefiel ihr Freund.
Elisabeth Isbahner, die bald als Büfettkraft bei uns arbeitete, war vier, fünf Jahre älter als ich, aber nur wenig größer. Schlank oder mager waren zu der Zeit Frauen wie Männer, und dass sie niemand klein nannte, lag sicher an den keilförmigen Korksohlen, auf denen sie zwischen den Tischen oder hinter dem Büfett bediente. Sie hatte dunkelblaue Augen, leicht gewelltes tiefschwarzes Haar und eine nicht sehr hohe Stirn, deren Falten über der Nasenwurzel ein kleines Quadrat bildeten, wenn sie grübelte oder befremdet war. Auf den Wangen und an den Ohrläppchen gab es damals schon hauchzarte, wie mit feinstem violettem Stift gekritzelte Besenreiser, und die Länge der Nase hatte etwas Kurioses; sie überschattete die schmalen, nie ungeschminkten Lippen. Reckte sie aber das Kinn hoch und starrte einen aus ihren manchmal fast schwarzen Augen an, konnte sie durchaus einschüchternd wirken. Die Betrunkenen nannten sie dann gerne »Zigeunerweib«.
Verblüffend groß und kräftig waren zudem die Hände dieser zarten Frau; man sah, dass sie aus einer Landarbeiter-Familie kam und selbst schon hart zugepackt hatte vor ihrer Flucht aus Westpreußen. Der Nagellack – nie hatte ich sie ohne das Korallenrot gesehen, auch nicht beim Melken auf dem Gut – sollte wohl davon ablenken, unterstrich es jedoch. Aber was man ihren Mangel an Schönheit nennen mochte, wurde letztlich überstrahlt von ihrer frischen Jugend und der schwungvollen Lebenslust, mit der sie sich über ihre Abgründe hinweghalf. Ihr breites Lächeln war trotz der seltsam grauen, mit Amalgam hinterlegten Zähne bezaubernd, das ganze Gesicht schien nur für dieses Strahlen gemacht zu sein, und sobald im Radio »Winke, winke« oder »Mir geht's gut« gespielt wurde, drehte sie es lauter und flötete mit.
In ihrem Aschenbecher neben der Kasse qualmte stets eine Zigarette, und auch wenn sie sich mit den Gästen an der Theke unterhielt, ließ sie den Saal, die dreißig Tische unter dem riesigen Steuerrad-Leuchter, nie aus den Augen. Ohne dass sie es lernen musste, konnte sie instinktiv, was mein Vater »eine Kneipe lesen« genannt hatte; sie vergaß selten Namen, wusste genau, wer was trank, und schenkte die verschiedenen Schnäpse schon ein, ehe sie bestellt wurden. So hatte jeder bereits nach kurzem das Gefühl, ein Stammgast zu sein, ein besonderer zudem.
Am frühen Nachmittag gingen die Kellnerinnen in die Pause, und dann servierte sie auch selbst, und ich liebte diese Stunden vor dem Lärm des Abendgeschäfts, wenn die Sonne durch die bunten Oberlichter schien und die alte Standuhr vernehmlicher tickte. Unter den Bahnen aus rauchigem Licht saßen nur wenige Gäste und blätterten in Zeitungen oder studierten Akten; Mirka, die weiße Katze des Hausmeisters, strich zwischen den Tischen herum und ließ sich kraulen, und oft hockte ich mich mit einer Limonade an den Tresen neben dem Telefon und machte dort meine Schulaufgaben.
In dieser Stille wurde besonders deutlich, dass Elisabeth niemals langsam oder gelassen ging, auch nicht, wenn keinerlei Hektik herrschte. Dass kleine Menschen ihre kürzeren Beine durch raschere Schritte wettmachen, ist in bestimmten Situationen plausibel. Aber sie ging auch in diesem »Stechgalopp«, wie meine Mutter das nannte, wenn nichts anderes zu tun war, als ein leeres Glas durch das leere Lokal zur Spüle zu tragen. Alles wollte sie immer rasch erledigen, wobei sie sich nie bemühte, das harte Tacktack ihrer Absätze auf den Dielen zu dämpfen; jeder sollte hören, wie dringlich ihr alles war und wie flott sie arbeitete. Und gab es für einen Moment nichts zu tun, blickten ihre kleinen Augen seltsam verloren ins Leere, das schmale Gesicht erschlaffte, und ihr fiel nichts anderes ein, als sich schon wieder eine Zigarette anzustecken.
»Warum gehst du nicht in die Sonne, Luisa?«, fragte sie einmal an so einem Nachmittag, als ich mich gerade mit dem zähen Cicero abmühte, mit seinen Briefen an Atticus. Den Kopf in den Nacken gelegt, blies sie den Rauch in die Höhe. »Was willst du mit dem blöden Abitur? Wird der Abwasch dann sauberer?«
Ich grunzte leise, schüttelte den Kopf. »Und du? Hast du deine mittlere Reife gemacht, um hier Bier zu zapfen? Willst du nicht mal was Interessanteres anfangen?«
Sie pinselte einen Aschenbecher aus. »Warum...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-518-77405-0 / 3518774050 |
ISBN-13 | 978-3-518-77405-2 / 9783518774052 |
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