Simón (eBook)
448 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11944-2 (ISBN)
Miqui Otero, geboren 1980 in Barcelona, ist Romanautor, Journalist und eine Schlüsselfigur in Barcelonas Kulturszene. Bereits 2012, bei Erscheinen seines Romans »Rayos«, wurde er von der Literaturkritik zum »Chronisten Barcelonas« gekürt. Mit »Simón« gelang ihm endgültig der Durchbruch als einer der wichtigsten literarischen Autoren Spaniens.
Miqui Otero, geboren 1980 in Barcelona, ist Romanautor, Journalist und eine Schlüsselfigur in Barcelonas Kulturszene. Bereits 2012, bei Erscheinen seines Romans »Rayos«, wurde er von der Literaturkritik zum »Chronisten Barcelonas« gekürt. Mit »Simón« gelang ihm endgültig der Durchbruch als einer der wichtigsten literarischen Autoren Spaniens. Matthias Strobel, geboren 1967, übersetzt aus dem Spanischen und Englischen, u.a. Alfredo Bryce Echenique, Federico Axat und Daniel Griffin. 2014 wurde er mit dem Europäischen Übersetzerpreis Offenburg ausgezeichnet (Förderpreis), 2017 gehörte er mit einer Übersetzung von Alberto Barrera Tyszka zu den Finalisten des Internationalen Literaturpreises. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Es ist unfassbar, dass so viele Leute in so vielen Kneipen überall auf der Welt im gleichen Augenblick meinen, die Lösung für alles gefunden zu haben, und die Welt trotzdem nicht immun ist gegen Krankheiten, gefeit gegen Unheil, vom Unglück verschont, ein Hort der Wunder. Dass trotz all der Millionen Menschen, die genau in diesem Augenblick über die entscheidendste Frage streiten, sich in unantastbare Prinzipien verheddern und die Weltformel finden, alles so prekär ist, so relativ.
Da es sehr vermessen wäre, die Welt verstehen zu wollen, das große Problem, sollte man sich vielleicht auf den Ort beschränken, an dem die Lösungen formuliert werden. Sollte man lieber herausfinden, was in einer dieser Kneipen vor sich geht. Simón Rico mit seinen acht Jahren erinnerte sich nicht daran, diese Kneipe zum ersten Mal betreten haben, und er konnte sich auch nicht vorstellen, sie jemals für immer zu verlassen.
Der Name der Kneipe, Rico Rico, verdankte sich weder der Qualität im Quadrat ihrer Rezepte (Lecker Lecker), noch dem Elternhaus (Reich Reich) seiner Inhaber, das eher bescheiden war, sondern vielmehr dem Zufall, der für seine Genese und folglich für die Familie die entscheidende Rolle spielte: Simóns Vater und sein Onkel, die Gebrüder Rico, waren sich ähnlich und doch grundverschieden, aber der eigentliche Witz bestand darin, dass sie mit Dolores und Socorro Merlín verheiratet waren, Zwillingsschwestern, die sie im Sommer 1972 auf einem Dorffest in Galicien kennengelernt hatten. Sie hatten sich vom Orchester das Lied »Wenn ich einmal reich wär« gewünscht und die beiden Frauen gleich zu den ersten Takten um Feuer gebeten. Noch vor dem letzten Trommelwirbel tanzten die beiden Paare eng umschlungen. Zum Klang dieses Lieds waren die gebürtigen Galicier in Barcelona angekommen, um dort ihr Glück zu suchen. Nach einigen Jahren als Kellner hatten sie genügend Geld zusammengespart, um erst die Lizenz zu bezahlen für die Kneipe im Erdgeschoss dieses Gebäudes mit Sandsteinfassade und schmiedeeisernen Balkonen und wenig später auch die Miete für die beiden unmittelbar darüberliegenden Wohnungen, wo die Familien von da an wohnten. Besagte Kneipe hatten sie umgetauft, als ein berühmter Koch es im Fernsehen wieder und wieder vor sich hinplapperte: »Rico, rico, lecker, lecker und herzhaft.« Die Ricos hatten überhaupt nicht witzig gefunden, dass sie ständig zur Zielscheibe von Witzen geworden waren.
Also nannten sie die Kneipe stattdessen Baraja – Kartensatz –, was auf die ewige Zockerei anspielte, die dort betrieben wurde, und auf Spanisch einer Aufforderung gleichkam: Die Taxifahrer sortierten und mischten zerstreut ihre Kartensätze wie jemand, der mit seinem potenziellen Glück oder Unglück spielt. Außerdem war es ein Hinweis auf das Heimatdorf der Brüder, Castroforte de Baralla, das, wie sie wieder und wieder erwähnten, aus dem Nebel emporschwebte, wenn all seine Bewohner sich gleichzeitig über etwas Sorgen machten, denn baralla war das galicische Wort für das spanische baraja und bedeutete in ihrer adoptierten Sprache, dem Katalanischen, Kampf.
Simón wuchs im Baraja auf, einer Bühne, auf der sich nicht weniger als die ganze Welt abspielte und drei Wanduhren sich ihr ganzes Leben lang darüber stritten, wie spät es war. Jede zeigte etwas anderes an, als wollten sie die Zeit in verschiedenen Hauptstädten Asiens, Amerikas oder Europas markieren. Was als ein Falschgehen aus Faulheit begonnen hatte (keiner kaufte Batterien), wurde zu einem Markenzeichen: Wer zur Tür hereinkam, für den blieb die Zeit stehen, wie wenn man ein Kino oder ein Theater betritt.
So wie Simón sich nicht mehr daran erinnerte, dass er die Kneipe jemals betreten hatte (er war praktisch dort geboren), so erinnerten sich seine Eltern und sein Onkel und seine Tante nicht mehr daran, wann sie zum letzten Mal über die Türschwelle nach draußen getreten waren, um Luft zu schnappen oder eine Kippe zu rauchen. Ihr Leben bestand aus dem Zubereiten von Tortillas, dem Weichklopfen von Oktopussen, dem Einschenken von Wein in Trinkgläser, dem Schmoren von Kalbsfleisch und Anrichten einer Esqueixada – Kabeljausalat –, die sie jahrelang als Escalivada – Grillgemüse – verkauften, ein Fehler, auf den keiner der Stammgäste, größtenteils Taxifahrer, sie hinweisen wollte.
Vielleicht hatte Simón mit seinen acht Jahren bereits begriffen, dass nichts so ist, wie es scheint, doch es sollte noch sehr lange dauern, auch sehr viele Buchseiten, bis er akzeptierte, dass die Dinge so sind, wie sie sind.
*
Vor Simón war bereits ein anderer kleiner Rico auf die Welt gekommen, sein zehn Jahre älterer Cousin, der mehr aus Neigung zum Scherzen als aus alliterativer Freiheit Ricardo getauft worden war. Ricardo Rico. Rico gerufen, weil er von klein auf seinen Nachnamen verwendet hatte und seit seinen ersten Gehversuchen zu einem Star des Viertels geworden war. Zu einer Art Maskottchen der Kneipe, aber auch zu deren umstrittenem Botschafter in der Welt da draußen, besonders jetzt, da er gerade volljährig geworden war.
Rico war, wie konnte es anders sein, so sehr Simóns Cousin, dass er fast sein Bruder war. Er war, in den Worten des Älteren, sein Cousin-Bruder: »Nicht brüderlicher Cousin oder cousinlicher Bruder, sondern Cousin-Bruder, beides, ein Herz und eine Seele«, sagte er zu seinen Freunden. Stets hatte Rico sich um ihn gekümmert. Stets hatte er ihm vorgelesen. Stets vorgesungen. Simóns Kinderlieder waren »Beat on the Brat«, »Do Anything You Wanna Do«, »Orgasm Addict«, »He’s a Rebel«, »O Leãozinho« … Pädagogisch wertvolle Refrains: »Schlag das Gör«, »Mach, worauf du Bock hast«, »Orgasmus-Junkie«, »Rebell«, »Kleiner Löwe«. Wenn er weinte? »Boys Don’t Cry«. Dann legte der ältere Cousin die Platte auf und sang Playback, gockelte vor seinem Cousin-Bruder herum, sodass der, von frühester Kindheit an bis zu einem gewissen Lebensalter, glaubte, Rico wäre der beste und vielseitigste Sänger der Welt.
Außerdem hatte er mit ihm immer Simon Says gespielt, weil der Kleine eben Simón hieß und er ihm dadurch das Gefühl geben konnte, wichtig zu sein und die Kontrolle zu haben. Manchmal spannte er dafür die ganze Kneipe ein. Simón sagt: Fasst euch ans rechte Ohr. Simón sagt: Hinkt! Simón sagt: Bohrt euch in der Nase! Macht die Augen zu, macht die Augen auf, blinzelt! Simón sagt, er will heute einen draufmachen. Die Betrunkenen ließen sich darauf ein und gerieten beim Befolgen seiner Befehle aus dem Gleichgewicht: Sie fassten sich an die Nase und verloren den Boden unter den Füßen. Sie waren leichte Gegner und kriegten es nie hin: Simón sagt: Rührt euer Bier nicht an. Und schon endete das Spiel unter Buhrufen.
Rico schlich sich auch in Simóns Wohnung, setzte sich, eingehüllt in eine Wolke aus Bierdunst, alten Kippen, Haargel und Eukalyptusbonbon, zu Füßen seines Bettes und sagte zu ihm: »Es war einmal ein kleiner Junge, der hatte Superkräfte und konnte genau das fühlen, was die anderen fühlen, konnte sich von ihnen das nehmen, was sie am besten beherrschen. Wenn es ein Falke war, dann flog er, wenn es ein Löwe war, dann brüllte er, wenn es ein Zebra war, dann wurde alles Schwarzweiß …«
»Und bei Kacke?«
»Tja, Simón, da fühlte er sich wie Kacke. Aber nur kurz. Denn dann kam eine Fliege, die sich wenig später auf einem herrlichen Pferd niederließ, auf dem ein Typ in einer Ritterrüstung ritt …«
»Ah.«
»Okay, also wenn da ein Feuer war, brannte er, bis er sich in Rauch auflöste und in einer anderen Epoche wiederauftauchte. Und wenn jemand weinte, dann weinte er auch, und zwar dermaßen, dass beide bemerkten, wie bescheuert das war, und loslachten. Wenn jemand lachte, dann lachte auch er, natürlich lachte er. Einmal ist dieser Junge dann …«
»Und wie hieß er?«
»Mann, Simón, wieso willst du denn das wissen? Irgendein Junge halt.«
»Ich will eben wissen, wie er heißt. Dann habe ich ihn mehr lieb.«
»Na gut, wenn du darauf bestehst: Dieser Junge mit den Superkräften hieß Simón.«
»Wie ich!«
»Bestimmt ein Zufall. Weiß nicht. Ich weiß nämlich nicht alles, Simón …«
Simón hingegen, der sich unter der Decke die Füße durch den Strampelanzug rieb, wusste es sehr wohl, also spannte er seine beiden Grübchen an, die sein Cousin-Bruder so witzig fand. Sein In-Anführungszeichen-Lächeln (mit einem Sternchen, einem winzigen Muttermal über dem rechten Mundwinkel). Ein Kinderlächeln, das alles war, nur nicht ironisch.
*
Als er die Augen aufschlug, in Erwartung eines neuen, gemächlich erwachenden Sonntags, roch Simón nicht den Kaffee, der auf dem Herd blubberte, und auch nicht die frischen Blätter der...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2022 |
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Übersetzer | Matthias Strobel |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Adoleszenz • Barcelona • Bibliophil • Bücher • Buchmessen Gastland • Entwicklungsroman • familiäre Beziehungen • Familiäre Konflikte • Familie • Familienroman • Kochen • Lesen • Spanien |
ISBN-10 | 3-608-11944-2 / 3608119442 |
ISBN-13 | 978-3-608-11944-2 / 9783608119442 |
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