Praxishandbuch FASD in der Jugendhilfe (eBook)
189 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61594-0 (ISBN)
Dr. rer. med. Dipl.-Psych. Reinhold Feldmann ist Psychologischer Psychotherapeut und arbeitet in der FAS-Ambulanz in Walstedde. Dipl.-Psych. Erwin Graf, Kinder- u. Jugendlichenpsychotherapeut, ist an der Erziehungs-, Familien- und Lebensberatungsstelle in Neustadt an der Aisch tätig.
Dr. rer. med. Dipl.-Psych. Reinhold Feldmann ist Psychologischer Psychotherapeut und arbeitet in der FAS-Ambulanz in Walstedde. Dipl.-Psych. Erwin Graf, Kinder- u. Jugendlichenpsychotherapeut, ist an der Erziehungs-, Familien- und Lebensberatungsstelle in Neustadt an der Aisch tätig.
2 Diagnostik der vorgeburtlichen Alkoholschädigung bei Kindern und Jugendlichen
von Reinhold Feldmann
2.1 Überblick
Da die Folgen der vorgeburtlichen Alkoholexposition sehr variabel ausgeprägt sein können, wird heute der Terminus Fetal Alcohol Spectrum Disorder (FASD) verwendet.
! | Als „Fetale Alkoholspektrumstörungen“ werden alle alkoholbedingten Einflüsse auf die Entwicklung des Embryos und Fötus zusammengefasst. |
In der Diagnose werden drei Ausprägungen unterschieden, die im Folgenden vorgestellt werden (Landgraf/Heinen 2017).
Das Vollbild (FAS) weist die eindeutigsten Merkmale auf.
Diagnose von FAS:
■Das Kind, der Jugendliche oder junge Erwachsene ist zu klein oder zu leicht im Vergleich zur Altersgruppe.
■Es treten Veränderungen im Gesicht auf: Die Lidspalten sind sehr kurz, die Oberlippe ist sehr schmal und das Philtrum, das ist die Doppelfalte zwischen Nasenspitze und Oberlippe, fehlt oder ist kaum erkennbar. Diese drei Abweichungen müssen nicht aktuell bestehen, aber in der kindlichen Entwicklung zumindest einmal bestanden haben.
■Das Kind, der Jugendliche oder junge Erwachsene zeigt eine Störung im Denken (z. B. bei der Konzentration, der Gedächtnisleistung oder dem Abstraktionsvermögen) oder eine soziale Störung (z. B. Distanzlosigkeit oder Verleitbarkeit) oder mindestens eine emotionale Störung (z. B. Aggressivität) oder Mikrozephalie.
■Treffen die Bedingungen zu, lautet die Diagnose FAS, unabhängig davon, ob etwas über den Alkoholkonsum der leiblichen Mutter bekannt ist.
Wenn das Vollbild nicht in vollständigem Maße vorliegt, also z. B. zwar typische Gesichtsmerkmale, aber keine Kleinwüchsigkeit vorhanden ist, spricht man von einem „partiellen Alkoholsyndrom“ (pFAS).
Diagnose von pFAS:
■Von den Veränderungen im Gesicht müssen mindestens zwei bestätigt sein. Diese Abweichungen müssen nicht aktuell bestehen, aber in der kindlichen Entwicklung zumindest einmal bestanden haben.
■Von den Störungen im Denken, den Störungen im sozialen und im emotionalen Bereich und der Mikrozephalie müssen drei zutreffen.
■Weiter gehört zur Diagnose des pFAS, dass ein Alkoholkonsum der leiblichen Mutter in der Schwangerschaft zumindest als wahrscheinlich anzunehmen ist.
Bei der „Entwicklungsstörung nach vorgeburtlicher Alkoholexposition“ (ARND – Alcohol Related Neurodevelopmental Disorder) sind keinerlei sichtbare Veränderungen am Körperbau oder im Gesicht zu beobachten.
Diagnose von ARND:
■Von den Störungen im Denken, den Störungen im sozialen und im emotionalen Bereich und der Mikrozephalie müssen drei zutreffen.
■Weiter gehört zur Diagnose des ARND, dass ein Alkoholkonsum der leiblichen Mutter in der Schwangerschaft sicher bekannt sein soll. Eine solche Sicherheit ergibt sich etwa, wenn die leibliche Mutter einen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft bestätigt (auch gegenüber Dritten) oder andere sichere Quellen davon berichten.
Die drei Ausprägungen unterscheiden sich in der äußerlichen Sichtbarkeit der Schädigung: Das sind Minderwuchs und deutliche Gesichtsveränderungen bei FAS, einige Gesichtsveränderungen bei pFAS, keine äußerlichen Veränderungen bei ARND.
! | Die alkoholbedingte Hirnschädigung ist bei allen drei Ausprägungen präsent und zeigt sich im Verhalten der betroffenen jungen Menschen. |
Neben den diagnostisch relevanten äußerlichen Veränderungen gilt, dass alle Organe des Körpers betroffen sein können. Die Häufigkeit der Schädigungen richtet sich nach der Geschwindigkeit des embryonalen und fetalen Organwachstums und damit nach der Größe des Organs beim Baby/Kleinkind. Hirnorganische Schäden sind immer zu bestätigen (mit Beteiligung der Sinnesorgane), nachfolgend mit größerer Häufigkeit Herzfehler (ca. 30 % der betroffenen Kinder), skelettale Fehlbildungen (20 – 30 %) und urogenitale Veränderungen (10 %) (Löser 1995).
Zu den kognitiven und sozialen Defiziten bei FASD gehört etwa, dass die betroffenen Menschen Regeln und Sinnzusammenhänge nur schwer erfassen können. Lerninhalte, aber auch Absprachen und Zusagen werden schnell, oft am gleichen Tag, wieder vergessen. Die Risiken des eigenen Verhaltens können nicht richtig eingeschätzt werden. Die natürliche Angst vor Gefahren fehlt. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen geraten aufgrund ihrer Leichtgläubigkeit immer wieder in Situationen, deren Konsequenzen sie nicht verstehen. Sie sind selten fähig, fremde Absichten zu durchschauen (Feldmann/Noppenberger 2020; Alex/Feldmann 2012).
Im Folgenden sollen die vielfältigen Einschränkungen, unter denen Kinder und Jugendliche, aber auch noch junge Erwachsene mit FASD leiden, im Einzelnen beschrieben werden.
2.2 Störungen der Entwicklung
2.2.1 Sprache
Bei Kindern mit FASD ist die Sprachentwicklung gestört. Berichtet werden Verzögerungen im Erwerb der Artikulation, der Syntax, der Grammatik, der Semantik und des Wortschatzes. Die Sprachstörungen dauern selten über das Vorschulalter hinweg an. Im weiteren Verlauf der Kindheit wird häufiger sogar von einem starken Rededrang berichtet, doch ist das Sprachverständnis der Kinder weiterhin eingegrenzt (Feldmann et al. 2007).
2.2.2 Motorik und Ess- und Schluckstörungen
Schwierigkeiten mit der Grob- und Feinmotorik treten insbesondere bei Störungen der zerebellären Funktionen und einer angeborenen Muskelhypotonie auf (Feldmann et al. 2007). Außerdem wurden bei etwa 30 % der Kinder bis zum zweiten Lebensjahr Ess-, Saug- und Schluckstörungen beobachtet (Löser 1995). Bis ins Schulalter hinein bevorzugen die Kinder oft breiige Kost.
2.2.3 Kognitive Leistungen
Vor allem im logischen Denken sowie beim Lösen komplexer Problemstellungen treten die intellektuellen Leistungsbeeinträchtigungen bei Kindern mit pränataler Alkoholexposition recht deutlich auf. Abstraktionen, Erlernen von Regeln, Erfassen von logischen Zusammenhängen sind erschwert oder unmöglich (Löser 1995). Die Minderung der Intelligenz belegt eine Studie des Universitätsklinikums Münster: Kinder mit FAS hatten einen Durchschnitts-IQ von 75 (Feldmann et al. 2007). Die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsspanne ist bei Kindern und Jugendlichen mit FASD kürzer. Den Kindern fehlt häufig die Geduld, und so werden Spiele, Hausaufgaben und andere Arbeitsaufträge verfrüht bzw. fragmentarisch zu Ende geführt. Zudem ist bei Kindern mit FASD die Kreativität eingeschränkt, weshalb sie kaum eigene Spiele gestalten, sondern vielmehr andere Kinder nachahmen oder auch eher standardisierte Spiele (Puzzle) bevorzugen. Wenn es jedoch darum geht, vergangene Ereignisse und Situationen erzählend zu rekonstruieren, verfangen sie sich in Widersprüchen und entwickeln durchaus phantasiereiche Versionen der Geschichte, da sie die Geschehnisse und Abläufe nicht verstanden haben (Feldmann et al. 2007).
Alkoholgeschädigte Kinder sind in ihrer Merk- und Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt. Aufgrund des eingeschränkten Kurzzeitgedächtnisses haben die betroffenen Kinder häufig Lernschwierigkeiten in der Schule. Sie vergessen schnell, was sie zuvor gelernt haben und können daher nur schwer Zusammenhänge von aufeinander aufbauenden Aufgaben herstellen oder zuvor Gelerntes auf etwas neu zu Lernendes anwenden. Selbst alltägliche Routinen und Rituale müssen den Kindern immer wieder aufs Neue erklärt und beigebracht werden (Feldmann et al. 2007). Daher müssen Kinder mit FASD häufig eine Klasse wiederholen, in eine Förderschule wechseln, zuweilen brechen sie sogar die Schullaufbahn ab.
2.3 Verhaltensstörungen
2.3.1 Aktivität
Hyperaktive Verhaltensmuster finden sich bei einer Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit FASD. Die intrauterine Alkoholexposition verursacht Störungen des dopaminergen und noradrenergen Neurotransmittersystems, die zu starken Reaktionen auf externe und interne Reize und Stimulationen führen. Diese äußern sich durch motorisch unruhiges, „überdrehtes“ und unkontrolliertes Verhalten. So sind die Betroffenen stets bemüht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wie beispielsweise durch Zwischenrufe und Störungen im Unterricht; das drängt sie wiederum in die Position des Außenseiters, des Klassenclowns. Im Spiel werden die Kinder häufig ausgeschlossen, da sie sehr impulsiv, bestimmend, ungeduldig, laut und von ihren...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2022 |
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Co-Autor | Monika Biener, Gisela Bolbecher, Jana Hubelitz, Martina Kampe, Christoph Lutter, Sigrid Mosé, Silke Off, Jasmin Rüffer, Dagmar Sudhoff, Klaus ter Horst, Anneke Yamini, Peter Anders |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Recht / Steuern | |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik | |
Schlagworte | Behindertenhilfe • Beratung • FAS(D) • FASD • FASD bei Erwachsenen • FASD BEST-PRACTICE • FASD IM JUGENDALTER • FASD konzeptionelle Maßnahmen • FASD pädagogische Maßnahmen • FASD therapeutische Maßnahmen • FASD UND JUGENDLICHE • FASD UND PUBERTÄT • Fetal Alcohol Spectrum Disorder • Fetales Alkoholsyndrom • Jugendamt • Jugendhilfe • Jugendliche • JUNGE ERWACHSENE MIT FASD • KINDER MIT FASD • Pflegefamilie • Pflegekind • Psychoedukation • Reittherapie • videobasierte Beratung • Wohngruppe |
ISBN-10 | 3-497-61594-3 / 3497615943 |
ISBN-13 | 978-3-497-61594-0 / 9783497615940 |
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