Treue (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
416 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27546-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Treue - Hernan Diaz
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Hernan Diaz' vielschichtiger Roman dekonstruiert den amerikanischen Mythos von Männern, Macht und Reichtum und gipfelt in einer provokanten Geschichte der Emanzipation. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis 2023
Am Anfang steht das Geld. Und ein Mann, der es zu vermehren versteht wie kein Zweiter. In der schillernden New Yorker Finanzwelt der 20er-Jahre wächst Benjamin Rasks Vermögen ins Unermessliche. Aber erst seine Ehe mit der geheimnisvollen Helen gibt seinem Leben Sinn. Bald vibriert die ganze Stadt vor Gerüchten um das enigmatische Paar, und mit der Zeit beginnen die vielen Erzählungen die Wahrheit über die Eheleute zu verschleiern. Bis sich eine unerwartete Stimme in dem Gewirr Gehör verschafft.
'Treue' ist ein fulminantes Spiel mit dem Leser, eine vierteilige Matroschka, deren Kern den großen amerikanischen Mythos des Kapitals für immer verändert. Was als klassischer Roman über Macht und Männer beginnt, gipfelt in einer provokanten und hochmodernen Geschichte der Emanzipation.

Hernan Diaz wurde 1973 in Argentinien geboren, wuchs in Schweden auf, studierte in Buenos Aires und London und lebt heute in New York. Sein Debütroman In der Ferne war 2018 für den Pulitzer-Preis und den PEN/Faulkner Award nominiert. Für Treue, seinen zweiten Roman, erhielt Hernan Diaz 2023 den Pulitzer-Preis. Seine Romane wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

"Ein Roman nicht nur für die heutige Zeit, sondern für alle Zeiten." Vogue

*

DIE ZWEI UNTEREN GESCHOSSE seines Stadthauses wurden zu einem provisorischen Büro. Diese Wandlung war nicht etwa das Ergebnis eines durchdachten Planes, sondern sie vollzog sich Schritt für Schritt, während ein unvorhergesehenes Bedürfnis nach dem anderen erfüllt wurde, bis auf einmal ein Arbeitsbereich voller Angestellter geschaffen war. Es fing mit einem Boten an, den Benjamin mit Aktienzertifikaten, Anleihen und anderen Dokumenten durch die ganze Stadt laufen ließ. Nach einigen Tagen erklärte der Junge ihm, dass er Hilfe brauche. Gemeinsam mit dem neuen Boten stellte Benjamin eine Telefonistin und einen Schreiber ein, der ihn ebenfalls bald wissen ließ, dass er die Arbeit allein nicht schaffe. Das Anleiten seines Personals kostete ihn wertvolle Zeit für seine Geschäfte, also stellte er einen Assistenten ein. Auch die Buchführung verschlang Stunde um Stunde, also engagierte er einen Buchhalter. Als schließlich sein Assistent einen Assistenten bekam, verlor Rask den Überblick über die Neuanstellungen und gab es auf, sich irgendjemandes Gesicht oder Namen zu merken. 

Die Möbel, die jahrelang verhüllt und unberührt geblieben waren, wurden nun ehrfurchtslos von Sekretärinnen und Botenjungen benutzt. Auf dem Walnusstischchen hatte man einen Börsenticker aufgestellt; Kurstafeln bedeckten einen Großteil der goldgeprägten Laubtapete; Zeitungsstapel hatten den strohgelben Samt einer Polsterbank verfärbt; eine Schreibmaschine hatte Dellen in einen Satinholz-Sekretär getrieben; schwarze und rote Tinte befleckte die bestickten Polster von Diwanen und Sofas; Zigaretten hatten die geschwungenen Kanten eines Mahagoni-Schreibtisches versengt; hastende Schuhe hatten eichene Pratzenfüße verschrammt und persische Läufer auf ewig verschmutzt. Die Räume seiner Eltern blieben intakt. Er schlief im Obergeschoss, das er als Kind nicht einmal besucht hatte.

Es war nicht schwer, einen Käufer für das Unternehmen seines Vaters zu finden. Benjamin ermutigte einen Fabrikanten aus Virginia und eine Handelskompanie aus Großbritannien, einander zu überbieten. Und da er sich nur zu gern von diesem Teil seiner Vergangenheit distanzieren wollte, freute er sich über den Sieg der Briten, nach dem die Tabakfirma wieder dahin zurückkehren konnte, woher sie gekommen war. Aber vor allem verschaffte es ihm Befriedigung, dass er mit dem Erlös des Verkaufs nun auf einer höheren Ebene arbeiten, eine neue Risikostufe bewältigen und langfristigere Transaktionen finanzieren konnte, die er vorher nicht hätte in Erwägung ziehen können. Sein Umfeld nahm mit Verwirrung wahr, dass seine Besitztümer im direkten Verhältnis zu seinem Reichtum weniger wurden. Er verkaufte alle verbleibenden Immobilien der Familie, selbst das Stadthaus an der West 17th Street, und alles, was darin war. Seine Kleider und Unterlagen passten in zwei Koffer, die man ins Wagstaff Hotel schickte, wo er sich eine Suite anmietete.

Die Verrenkungen des Geldes faszinierten ihn immer mehr — es ließ sich so im Kreis biegen, dass man es mit seinem eigenen Körper mästen konnte. Die isolierte, selbstgenügsame Natur der Spekulation entsprach Benjamins Charakter, war für ihn Quell des Staunens und allein Zweck genug, ungeachtet all dessen, was seine Einkünfte bedeuteten oder ihm ermöglichten. Jeglicher Luxus war eine vulgäre Bürde. Sein einsiedlerischer Geist sehnte sich nicht nach Zugang zu neuen Erfahrungen. Politik und Machtstreben spielten in seinem ungeselligen Denken keine Rolle. Strategiespiele wie Schach oder Bridge hatten ihn nie interessiert. Hätte man ihn gefragt, wäre es Benjamin wohl schwergefallen zu erklären, was ihn zur Finanzwelt hingezogen hatte. Die Komplexität, gewiss, aber auch die Tatsache, dass er Kapital als antiseptisch lebendes Wesen sah. Es bewegt sich, es frisst, wächst, pflanzt sich fort, erkrankt und kann sterben. Aber es ist sauber. Das wurde ihm mit der Zeit immer klarer. Je größer die Operation, desto größer auch seine Distanz zu den konkreten Einzelheiten. Er brauchte keine einzige Banknote anzurühren oder sich den Dingen und Leuten zu widmen, auf die sich seine Transaktionen auswirkten. Er musste nur denken, sprechen und hin und wieder schreiben. Schon setzte sich das Lebewesen in Bewegung und zeichnete wunderschöne Muster auf seinem Weg in Reiche zunehmender Abstraktion, wobei es manchmal eigenen Gelüsten folgte, die Benjamin niemals auch nur hätte erahnen können — und gerade das bereitete ihm besondere Freude, wie das Wesen suchte, seinen freien Willen auszuüben. Er bewunderte es und verstand es, selbst wenn es ihn einmal enttäuschte.

Benjamin kannte Downtown Manhattan kaum — gerade genug, um seine Canyons aus Bürogebäuden zu verachten, seine schmutzigen, schmalen Straßen voller stolzierender Geschäftsmänner, die stets damit beschäftigt waren, ihre Geschäftigkeit zur Schau zu stellen. Doch er erkannte, wie praktisch es war, sich im Financial District niederzulassen, also verlegte er sein Büro in die Broad Street. Während sich seine Interessen ausweiteten, erhielt er kurz darauf einen Sitz am New York Stock Exchange. Seine Angestellten merkten schnell, dass er jeglichem Drama ebenso abgeneigt war wie Freudenausbrüchen. Die aufs Essentielle heruntergebrochenen Gespräche wurden flüsternd geführt. Verstummten einmal die Schreibmaschinen, konnte man vom anderen Ende des Raumes einen Ledersessel knarzen oder einen Seidenärmel übers Papier streichen hören. Und dennoch störten jederzeit geräuschlose Wellen die ruhige Luft. Allen war bewusst, dass sie die Ausläufer von Rasks Willen waren und dass ihre Pflicht darin bestand, seine Bedürfnisse zu befriedigen und sogar vorwegzunehmen, ihn aber niemals mit den ihren zu behelligen. Hatten sie keine entscheidenden Neuigkeiten für ihn, warteten sie, bis er sie ansprach. Für Rask zu arbeiten wurde zum Ziel vieler junger Händler, doch wenn sie erst wieder ihrer eigenen Wege gingen, im Glauben, alles aufgesogen zu haben, was es zu lernen gab, konnte keiner von ihnen so recht an den Erfolg des ehemaligen Arbeitgebers anknüpfen.

Es war ihm eher unangenehm, als man seinen Namen in Finanzkreisen bald mit ehrfürchtigem Staunen sprach. Einige alte Freunde seines Vaters unterbreiteten ihm Geschäftsangebote, die er manchmal annahm, oder aber Tipps und Vorschläge, die er stets ignorierte. Er handelte mit Gold und Guano, mit Devisen und Dollar, mit Anleihen und Ananas. Seine Interessen beschränkten sich schon bald nicht mehr auf die Vereinigten Staaten. England, Europa, Südamerika und Asien verschmolzen vor seinen Augen zu einem großen Ganzen. Er überschaute die Welt von seinem Büro aus, auf der Suche nach wagemutigen, hochverzinslichen Darlehen und Staatspapieren zahlreicher Länder, deren Schicksale sich infolge seiner Geschäfte unentwirrbar miteinander verflochten. Manchmal gelang es ihm, ganze Anleiheemissionen für sich allein zu zeichnen. Auf seine wenigen Niederlagen folgten große Triumphe. Wer auf seiner Seite der Geschäfte stand, der wurde reich.

In dieser Welt, die gegen seinen Willen immer mehr die seine wurde, gab es nichts Auffälligeres als Anonymität. Auch wenn ihn das Geschwätz nie selbst erreichte, wusste Rask — mit seinem penibel diskreten Äußeren, seinen asketischen Gewohnheiten und seinem mönchischen Leben im Hotel —, dass man ihn wahrscheinlich als etwas »eigentümlich« betrachtete. Da ihn allein der Gedanke, jemand könnte ihn als Exzentriker sehen, vor Scham beinahe im Boden versinken ließ, beschloss er, sich den an einen Mann in seiner Lage gestellten Erwartungen anzupassen.

Er baute sich eine Beaux-Arts-Villa aus Kalkstein an der Fifth Avenue, Ecke 62nd Street, und ließ sie von Ogden Codman einrichten, dessen dekorative Leistungen gewiss auf allen Gesellschaftsseiten hoch gelobt werden würden. Als das Haus vollendet war, wollte er einen Ball ausrichten, konnte es schlussendlich aber nicht — er gab auf, als er bei der Arbeit an der Gästeliste mit einer Sekretärin erkannte, dass sich gesellschaftliche Verpflichtungen exponentiell multiplizieren. Er trat mehreren Clubs, Ausschüssen, Stiftungen und Vereinen bei, in denen man ihn jedoch nur selten sah. All dies tat er zwar mit einigem Widerwillen. Aber noch schlimmer wäre es gewesen, hätte man ihn...

Erscheint lt. Verlag 25.7.2022
Übersetzer Hannes Meyer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Trust
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1929 • 20. Jahrhundert • Akkumulierung • Anhäufung • Autor • Betrug • Bildung • Börse • Börsencrash • Edith Wharton • Emanzipation • Familie • Fiktion • Finanzwesen • Frauen • Geld • Genie • Geschichte • Geschichte schreiben • Great American Novel • Henry James • Historischer Roman • Immobilien • Italo-Amerikanisch • Kapital • Kapitalismus • Klassiker • Klinik • Krankheit • Literatur • Logik • Macht • Männer • Mathematik • Mäzenin • Medizin • Memoir • Metaliteratur • Migration • New York • Patriarchat • Pulitzer • Pulitzer-Preis • pulitzer-preis 2023 • Pulitzer Prize 2023 • Roman • Schriftsteller • Siedler • Sozialismus • Spannung • Tabak • Tagebuch • Tochter • Triumph • Vater • Verrat • Virgina Woolf • Wall Street • Washington Square • Wohltätigkeit
ISBN-10 3-446-27546-0 / 3446275460
ISBN-13 978-3-446-27546-1 / 9783446275461
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