Die Kunst des Verschwindens (eBook)
400 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-27745-1 (ISBN)
MELANIE RAABE wurde 1981 in Jena geboren. Nach dem Studium arbeitete sie tagsüber als Journalistin - und schrieb nachts heimlich Bücher. 2015 erschien DIE FALLE, 2016 folgte DIE WAHRHEIT, 2018 dann DER SCHATTEN und 2019 DIE WÄLDER. Ihre Romane wurden in 22 Sprachen übersetzt, mehrere Verfilmungen sind in Arbeit. Melanie Raabe betreibt zudem gemeinsam mit der Künstlerin Laura Kampf einen erfolgreichen wöchentlichen Podcast rund um das Thema Kreativität, 'Raabe & Kampf'. Melanie Raabe lebt und arbeitet in Köln. Mit »Die Kunst des Verschwindens« verließ sie erstmals das Gebiet des traditionellen Thrillers und entführt uns in eine Welt, in der alles möglich und nichts selbstverständlich ist.
1 ELLEN
Ich höre sie, die Geräusche meines Waldes, das Krachen der Äste und das Rauschen der Blätter, das Raunen der Wurzeln und das Gekicher der Gräser, die leisen Laute der schlafenden Blumen. Die Würmer und Käfer, das Geraschel meiner Freundinnen, der Mäuse, die Rufe der Vögel, die Füchse, die Rehe, die Hasen. Die Kreuzspinnen, die Pilze, die Erde. Und meine Elfen. Ich sehe den Zauber, den sie in die Luft weben, wie gesponnenes Silber. Es ist Mittsommer, so viel weiß ich noch, und ich bin die Königin hier.
Ich liege auf dem Boden, auf meinem Bett aus Moos, bin erwacht aus langem Schlaf, träumte von einem Reh, ruhig und schön, mit zierlichem Geweih, und ich versuche, das Bild festzuhalten, doch es entgleitet mir, und ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. Ich erhebe mich, und meine Elfen streichen mir mit kühlen Fingern über die Wangen und fahren mir durch das Haar, von irgendwoher ruft mein Käuzchen, und ich frage nach meinem König, und sie springen kichernd davon.
Etwas bricht durch meinen Wald, ich höre ein Splittern und Krachen, und ich erkenne die Schritte von Menschenkindern, so angstvoll und schwer, und ich erinnere mich. Mittsommer, oh ja, oh ja.
Der Wald wispert, die Menschenkinder sind blind vor Furcht und Raserei. Die Elfen lachen leise, und da ist etwas Dunkles in ihrem Gelächter, eine Grausamkeit, die ich von ihnen nicht kenne, die sie sich in jeder anderen Nacht nicht anmerken ließen.
Dann beginnen sie zu tanzen, eine nach der anderen, nach einer Musik, die ich nicht hören, in einem Rhythmus, den ich nicht fühlen kann, und der ganze Wald tanzt mit ihnen, nur ich stehe hier, angstvoll und schwindelig und allein. Wo nur ist mein König?
Ich richte mich auf. Ich lasse mir die Nacht durch die Finger rinnen. Da ist ein Raunen in meinem Nacken, und mit einem Mal fühle ich es auch, die Sommernacht dringt in meine Poren, färbt alles um mich herum rot. Die Nacht brennt lichterloh. Ich wehre mich dagegen, gegen den Rausch, das Vergessen, die Raserei, den Todestaumel, der meine zarten Elfen befallen hat, einen Moment nur. Dann begreife auch ich, was mit ihnen vorgeht. Es ist nicht der Tod, der sie tanzen macht, sie verwandeln sich. Und ich begreife, dass ich mit ihnen tanzen muss, dass auch ich meine endgültige Form noch nicht angenommen habe, dass auch ich noch ein Stück weiter muss in dieser Nacht, noch ein bisschen, nur noch ein wenig. Ich stolpere auf sie zu, meine Schwestern, die in wildem Tanz verbunden sind, Schwestern, der Sommer ist hier.
Ich hebe die Arme zum Himmel, und wir tanzen, tanzen, und ich verstehe, dass ich ein Teil von ihnen bin wie sie ein Teil von mir. Ich verstehe, dass der Wald ein Teil von mir ist wie ich von ihm. Ich verstehe, dass die Tiere ein Teil von mir sind wie ich von ihnen, und ich spüre, dass ich mich verwandele. Ich selbst bin das Reh aus meinem Traum, und ich spüre, wie mein Körper sich transformiert, wie er schmaler wird und stärker, mehr Wald, mehr ich, ich spüre die Spitzen meines zierlichen kleinen Geweihs schmerzhaft unter meiner Haut, ich spüre, dass sie meine Kopfhaut durchstoßen und meine Verwandlung komplett machen werden, wenn ich es nur zulasse, und ich lasse es zu. Und ich wende den Kopf, und da ist mein König, und ich gehe auf ihn zu, und ich lächle. Verwundert, schmerzvoll.
Mein Oberon. Was für ein Traum, mein Lieber.
Als der Vorhang fällt und sich wieder hebt, sehe ich nichts als Bewegung und Licht. Das Publikum im Saal tobt wie zuvor Hermia und Lysander und Helena und Demetrius auf der Bühne. Der Zuschauerraum ist ein Schlund. Der plötzliche Lärm ist so gewaltig, dass ich kurz versucht bin, mir die Hände auf die Ohren zu pressen, es braust und tost, aber ich beherrsche mich. Ich blinzle gegen das Scheinwerferlicht an, ich lächle, ich nicke den anderen zu, dann trete ich an die Rampe. Das Publikum fängt an zu rasen, der Lärm steigert sich ins Unermessliche. Eine ältere Dame in der zweiten Reihe tupft sich mit einem Stofftaschentuch die Augen, ein junger Mann schluchzt völlig hemmungslos, aber die meisten stehen einfach nur da, mit strahlenden Gesichtern, und klatschen und rufen. Und ich habe mich endlich aus dem Kokon gelöst, den der Sommernachtstraum um mich gesponnen hat, und die Energie des Publikums trifft mich mit voller Wucht, heiß und archaisch und gleißend hell, und die Freude, die ich plötzlich empfinde, ist so allumfassend, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. Ich trete beiseite, überlasse den anderen das Rampenlicht, und das Publikum applaudiert weiter, doch als die Reihe wieder an mir ist, beginnt es erneut zu rasen, und ich weiß, dass sie es auch gespürt haben, auch wenn ihnen vielleicht gar nicht bewusst ist, was sie da gesehen haben, denn das hier war echt, das hier war eine tatsächliche Mittsommernacht, schrecklich und rauschhaft und schön. Erneut verbeuge ich mich, so tief ich kann, und als ich wieder hochkomme, spüre ich, wie mir etwas den Hinterkopf hinabrinnt, und obwohl ich nassgeschwitzt bin wie alle auf dieser Bühne, weiß ich doch sofort, dass das hier kein Schweiß ist. Ich verbiete mir hinzufassen, muss mich regelrecht dazu zwingen. Stattdessen nehme ich die Hände meiner Mitspielerinnen, und gemeinsam treten wir ein letztes Mal an die Rampe.
Auf dem Weg von der Bühne treffe ich immer wieder auf Leute aus der Crew, die mich drücken und mir gratulieren wollen, und ich verteile Küsse und Umarmungen und bedanke mich und gebe die Komplimente zurück, bis es mir gelingt, in meine Garderobe zu schlüpfen und die Tür hinter mir zuzuziehen. Der Geruch, der in meiner Garderobe herrscht, ist so schwer, dass er mir fast den Atem raubt. Er geht von den zahllosen Blumen aus, die in vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig riesigen Bouquets auf dem Boden stehen, versehen mit Glückwunschkarten zur Dernière, zu meiner letzten New Yorker Aufführung. Die meisten enthalten langstielige rote Rosen mit Blüten, so groß wie meine Fäuste, aber da sind auch einige riesige Vasen mit weißen Lilien. Sie sind es, von denen der schwere, süße Geruch ausgeht. Ich bahne mir den Weg zu meinem Schminkspiegel, vorsichtig, um keines der Blumenarrangements umzustoßen, die einer der guten Geister des Theaters für mich entgegengenommen und ins Wasser gestellt hat.
Ich setze mich auf den Stuhl vor meinem beleuchteten Schminkspiegel und schaue mir ins Gesicht. Ich sehe so weit normal aus, das ist gut. Ich betaste meinen Nacken, und als ich meine Finger betrachte, sehe ich das Blut, und obwohl ich wusste, dass es da sein würde, ist sein Anblick ein kleiner Schock. Ich wische mir mit einem Kosmetiktuch den Nacken ab, dann betaste ich vorsichtig, ganz vorsichtig, meinen Kopf. Zucke zusammen, als ich die zwei kleinen Wunden berühre, die ich unter meinem Haar ertasten kann, ziehe meine Hand zurück. Es ist okay, sage ich leise, es ist okay, alles okay. Ich versuche, tief durchzuatmen. Sage mir, dass ich immer noch ich bin, dass das nicht so schlimm ist, dass das zu mir gehört, dass ich lediglich lernen muss, mich besser zu kontrollieren. Ich schließe die Augen und fasse noch einmal hin. Dieses Mal halte ich es aus, ziehe meine Hand nicht wieder zurück, sondern betaste sie vorsichtig, die beiden kleinen Erhebungen unter meiner Kopfhaut, deren Spitzen sie bereits durchstoßen haben. Ich erinnere mich an diese Empfindung. Ich erinnere mich daran, wie es war, empfindliches Zahnfleisch da, wo einst Milchzähne waren, mit der Zunge zu betasten und eines Tages die Spitze eines bleibenden Zahnes zu fühlen, die durchbrach. Ich erinnere mich daran, wie seltsam sich das anfühlte, wund und wundersam und unvermeidlich. Genau wie das hier.
Kurz drohe ich, in Panik zu geraten, doch ich bekomme mich rechtzeitig wieder in den Griff, stehe auf, wasche mir die Hände in dem kleinen Waschbecken am anderen Ende des Raumes, warte, dass meine Hände aufhören zu zittern, dann wähle ich Anthonys Nummer. Lasse es lange klingeln. Atme auf, als ich seine Stimme höre.
»This is Anthony. Hello?«
»Anthony«, sage ich atemlos. »Ich bin so froh, dass ich dich erreiche. Es ist schon wieder passiert. Ich –«
Irritiert runzele ich die Stirn, als er mich unterbricht.
»Hello?«, sagt er. »Hello? Could you speak up, please?«
»Anthony, hörst du mich?«
Ich höre ihn lachen und begreife, dass ich – nicht zum ersten Mal – auf seine Mailbox hereingefallen bin.
»Just kidding«, sagt er gerade, »this is my voicemail. Leave a message … if you absolutely have to.«
Ich lege das Telefon weg. Natürlich hebt er nicht ab, ich befinde mich in New York, er ist in Berlin, hier ist es halb elf am Abend, bei ihm halb fünf in der Früh. Vermutlich ist es besser so. Bald sehen wir uns ohnehin. Nicht auf einem kalten Bildschirm, sondern von Angesicht zu Angesicht.
Ich wische mir die schwere Theaterschminke aus dem Gesicht, dusche, ziehe mich um, meine schwarzen Smokinghosen, mein schwarzer Kaschmirpullover, meine schwarze Lederjacke, schwarze Boots, ich verabschiede mich von der Crew, setze meine große schwarze Sonnenbrille auf, atme tief durch und stelle mich den Fotografen, die am Hinterausgang auf mich warten. Ein Mann, groß, breit, schwarzer Anzug, von dem ich nur den Rücken sehe, bahnt mir meinen Weg zum Wagen, ein zweiter hält mir einen Regenschirm über den Kopf, öffnet mir die Tür, schließt sie hinter mir – und plötzlich ist da Ruhe.
Noch einmal Zubettgehen in New York, und dann ab nach Hause.
Der Atlantik schimmert golden und blau, und während ich irgendwo zwischen Wachen und Schlafen auf ihn hinabblicke, erinnere ich mich, dass ich vom Wasser geträumt habe letzte...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Berlin • eBooks • Klippen • Kolibri • Kunst • Lost Places • Museum • Neuerscheinung • neues Buch • Normandie • Roman • Romane • Seelenverwandte • Shakespeare • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Talkshow • Theater • Wale am Strand |
ISBN-10 | 3-641-27745-0 / 3641277450 |
ISBN-13 | 978-3-641-27745-1 / 9783641277451 |
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