Miss Sharp macht Urlaub (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
416 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-27136-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Miss Sharp macht Urlaub -  Leonie Swann
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Agnes Sharp und ihre Senioren-WG haben gerade ihren ersten Fall gelöst, da erschüttern weitere Morde das Dörfchen Duck End. Die Stimmung ist gereizt, und alle hätten ein wenig Entspannung und einen Tapetenwechsel dringend nötig! Da kommt es wie gerufen, als Edwina bei einem Preisausschreiben eine Reise in ein exklusives Wellness-Hotel am Meer gewinnt. Kurzerhand packt die ganze Seniorenbande ihre Koffer. Doch in Cornwall angekommen, zeigt sich schnell, dass das Etablissement trotz Romantikpaket, Fünfgängemenü und Meeresrauschen kein Paradies ist. Denn kaum haben sie es sich gemütlich gemacht, beschleicht Agnes der Verdacht, dass sie an den Klippen einen Mord beobachtet hat. Und schon bald ist klar, dass der Täter mitten unter ihnen weilt ...

Leonie Swann wurde 1975 in der Nähe von München geboren. Sie studierte Philosophie, Psychologie und Englische Literaturwissenschaft in München und Berlin. Mit ihren ersten beiden Romanen »Glennkill« und »Garou« gelang ihr auf Anhieb ein sensationeller Erfolg: Beide Bücher standen monatelang ganz oben auf den Bestsellerlisten und wurden bisher in 25 Sprachen übersetzt. Leonie Swann lebt heute umzingelt von Efeu und Blauregen in England.

1
Hellhörig


Agnes Sharp öffnete die Tür des örtlichen Quacksalbers und steckte die Nase hinaus ins Freie. Ein kalter Wind fuhr ihr ins Gesicht, zerrte an ihrem Schal und kroch ihr sofort in die Glieder. Pfui Teufel!

Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich ein Taxi rufen zu lassen. Dann warf sie einen Blick zurück ins Wartezimmer, wo eine Menge Leute verdammt froh schienen, sie endlich loszuwerden. Mindestens ebenso froh, wie sie ihrerseits war, diesen kleingeistigen Spießern nun den Rücken zudrehen zu können. Es hatte einige unschöne Szenen und sogar etwas Gerangel um eine abgegriffene Illustrierte gegeben, und als die Sprechstundenhilfe Agnes’ Blick bemerkte, runzelte sie besorgt die Stirn.

Zurück ins Wartezimmer? Bloß nicht!

Nun denn!

Agnes fischte ihren Gehstock aus dem Schirmständer und trat beherzt auf den Gehsteig. Wenigstens war die Luft hier frisch, nicht so abgestanden wie in der Praxis, und ein wenig Bewegung hatte noch niemandem geschadet.

Außer ihrer Hüfte vielleicht.

Schwer auf den Gehstock gestützt, stakste sie los.

Klack-klack-klack.

Wie ein seltsames Tier mit drei Beinen.

Erst zwei Häuser weiter fiel Agnes auf, wie dunkel es schon war.

Noch nicht einmal fünf und schon dunkel. Rabenschwarz, genau genommen.

Zustände waren das …

Ihr Dorf hatte erst vor zehn oder zwanzig Jahren den Sprung in die Gegenwart gewagt und die eine oder andere Straßenlaterne angeschafft, Lichtinseln in der Nacht. Viele waren es nicht. Am anderen Ende der Straße erspähte Agnes die Bushaltestelle, hell erleuchtet. Verheißungsvoll.

Dort musste sie hin.

Aber erst einmal galt es, sich an der Kirche vorbeizukämpfen, und die lag, ummantelt vom Friedhof, in dicker, suppenartiger Schwärze.

Agnes umklammerte den Gehstock. Ihre größte Angst war es, in der Dunkelheit irgendein Hindernis nicht zu bemerken, zu fallen, nicht mehr auf die Beine zu kommen und dann von den Wartezimmerkaspern gefunden und gerettet zu werden oder gar von der schnippischen Sprechstundenhilfe, die ihr vorhin die Illustrierte abgenommen hatte.

Die Schmach. Die Schande. Die blöden Bemerkungen.

Nicht auszudenken!

Also ging sie noch langsamer und benutzte ihren Stock dazu, vor sich im Dunkeln nach Stolperfallen zu tasten. Nichts. Zu allem Überfluss legten plötzlich die Kirchenglocken los, alle auf einmal, wie um sich über sie lustig zu machen. Agnes zuckte zusammen. Bis vor Kurzem wäre ihr das Läuten gar nicht groß aufgefallen, ein dumpfes Hintergrundgeräusch wie viele andere auch, aber jetzt, mit dem Hörgerät, fuhr ihr jeder Glockenschlag in die Glieder wie ein kleiner Schock. Ganz schön stressig, so ein Hörgerät!

Agnes hinkte stur weiter.

Doch als sie es schon fast in den Lichtkegel der Bushaltestelle geschafft hatte, ließ etwas sie innehalten. Es dauerte einen Moment, bis sie herausgefunden hatte, was genau es war.

Die Glocken.

Genauer gesagt: die Glocke.

Alle anderen Kirchenglocken waren verstummt, doch eine läutete weiter, schneller und schneller und nochmals schneller. Agnes hatte in ihrem langen Leben viel Zeit in der Nähe dieser Glocken zugebracht, aber so ein Läuten hatte es noch nie gegeben. So fahrig, beinahe panisch. Hier stimmte etwas nicht!

Sie blickte zurück zur Kirche, die noch immer in tiefer Dunkelheit lag, dann hinüber zur Haltestelle, wo jede Minute ein Bus auftauchen konnte.

Schließlich siegte die Neugier.

Während die Glocke zu einem hektischen Finale ansetzte, machte Agnes mit einem Seufzer kehrt und tappte, in bewährter Dreibeinmethode, zurück Richtung Kirche.

Als sie den Friedhof erreicht hatte und dem bleich schimmernden Band des Kieswegs folgte, war die Glocke längst verstummt.

Sie erreichte die Kirchentür, tastete mit der freien Hand nach dem Knauf, drehte und drückte. Die Tür öffnete sich mit einem markerschütternden Knarzen, fast einem Schrei.

Drinnen war es, falls das möglich war, noch kälter als draußen. Sie sah sich um. Auf dem Altar flackerte ein Licht, aber das interessierte sie nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt dem zweiten Licht, einem schmalen Streifen, der sich unter der Tür zum Glockenturm hervorzwängte.

Dorthin also.

Bevor Agnes sich wieder in Bewegung setzte, ließ sie sich einen Augenblick Zeit, um zu lauschen.

Draußen heulte der Wind in den höchsten Tönen. Es war lange her, dass sie den Wind das letzte Mal wirklich gehört hatte.

Doch hier drinnen: nichts.

Oder fast nichts.

Dank des Hörgerätes vernahm sie so etwas wie ein sanftes Schleifen, wie von etwas Weichem auf Stein oder Holz. Agnes war sich nicht sicher. Sie traute dem neuen Gerät noch nicht so recht über den Weg, und ihren Ohren traute sie natürlich erst recht nicht.

Es gab nur einen Weg, sich Klarheit zu verschaffen: Agnes schleppte sich auf den leuchtenden Türspalt zu. Sie versuchte es mit der Tür, fand sie offen und war auf einmal in gelbes Licht getaucht. Da wartete ein mittelgroßer Raum mit einfallslosem Teppichboden und einer Reihe schmaler Bänke und Schemel entlang der Wände. Einer der Schemel war umgefallen. Ein Plakat an der Wand verwies auf die Wichtigkeit des Händewaschens, genau wie vorhin beim Arzt.

Das Ungewöhnliche aber waren die Seile.

Der Raum am Fuße des Glockenturms wurde von sechs dicken Seilen dominiert, die in der Decke verschwanden und vermutlich bis hinauf zu den Glocken führten, Tonnen über Tonnen singender Bronze, jahrhundertealt.

Fünf dieser dicken Seile waren jeweils am Ende säuberlich zu einer losen Schlinge geknotet und schwangen sacht hin und her.

Im sechsten Seil hing der Küster.

Er war noch gar nicht richtig tot. Seine Fingerspitzen zuckten noch. Aber der seltsame Winkel zwischen Kopf und Hals sagte Agnes, dass jede Hilfe zu spät kam.

Genickbruch.

Nichts zu machen.

Der Tote hing in einer ungewöhnlichen, halb knienden Position, den Kopf in einer Schlinge am Ende des Seils. Nicht einfach erhängt also, dazu hing die Schlinge nicht hoch genug. Der Küster hätte einfach nur die Beine ausstrecken müssen, um sich von dem Seil zu befreien. Kurios.

Agnes trat näher und stupste den Toten vorsichtig mit dem Stock an. Der Küster pendelte sanft hin und her, in den starren Augen einen Ausdruck grenzenloser Überraschung.

»Du hast dir deinen Freitagabend vermutlich anders vorgestellt, nicht wahr?«, murmelte sie. »Ich mir meinen auch!«

Agnes hatte schon immer ein eher entspanntes Verhältnis zu den Toten gehabt – schließlich machten die keine blöden Bemerkungen, waren diskret und höflich, wenn auch nicht immer hygienisch. Schnaufend ließ sie sich auf einem der Schemel nieder – um nachzudenken, aber auch, weil die Hüfte nun wirklich keine Lust mehr hatte.

Sie wusste, dass Glockenläuten keine ganz ungefährliche Angelegenheit war. Wenn die riesigen Bronzeglocken dort oben erst einmal in Bewegung waren, konnte nichts und niemand sie mehr aufhalten. Sie hatte von Fällen gehört, in denen ein unaufmerksamer Glöckner mit dem Fuß in eine der Schlingen geraten und dann von der dazugehörigen Glocke meterhoch in die Luft gerissen worden war, um schließlich mit Brüchen und Rückenverletzungen wieder auf dem Erdboden zu landen.

Sollte statt eines Fußes ein Hals in so eine Schlinge geraten …

Agnes betrachtete den toten Küster, dessen Fingerspitzen nun aufgehört hatten zu zucken, und bemerkte, dass auch ein Bein in einem ungesunden Winkel abstand.

Ja! So musste es passiert sein! Aber wie geriet man mit dem Kopf in eine Schlinge, vor allem nach dem Läuten, wenn alle anderen Seile schon säuberlich aufgerollt waren? Ein Unfall kam da wohl kaum in Betracht, es sei denn, der Küster war sturzbetrunken auf allen vieren durch den Raum gekrochen.

Sie schnupperte, konnte aber keinen Alkohol riechen.

Selbstmord?

Sie hatte den Küster nicht persönlich gekannt, doch von Weitem hatte er immer einen eher zurückhaltenden Eindruck gemacht. Nicht der Typ, der sich von mehreren Tonnen Bronze dramatisch das Genick brechen ließ. Außerdem sah der Mann dafür viel zu überrascht aus.

Blieb also Mord.

Mord in Duck End.

Schon wieder!

Agnes seufzte und rappelte sich mühsam hoch. Der Mörder musste die Glocke in Bewegung gesetzt und dann dem Küster schnell die Schlinge um den Hals gelegt haben. Der Küster war in die Höhe gerissen worden, und die Glocke hatte ihm sofort das Genick gebrochen. Daher der überraschte Gesichtsausdruck.

Anschließend hatte sich die Glocke ausgebimmelt, schneller und schneller, während der Mörder – ja, wo war der nun eigentlich hin?

Agnes war nicht die Schnellste. Es war durchaus möglich, dass der Täter vor ihrer Ankunft ins Freie geschlüpft war. Vielleicht hockte er draußen hinter einem der pechschwarzen Grabsteine und wartete darauf, dass sie wieder abzog. Oder er hatte sich in der Kirche versteckt.

Oder …

Plötzlich fühlte Agnes sich von der Situation überfordert. Jahrelang hatte sie sich gegen ein Hörgerät gewehrt, und jetzt saß doch eines in ihrem Ohr, und alles kam ihr laut vor.

Sogar die Stille.

Und dazu noch dieser Tote … Es war zu viel Ärger für einen einzigen Tag. Sie war eine alte Frau mit einem Plastikding im Ohr. Wen interessierte schon, was sie so dachte? Was suchte sie hier? Und was würde sie schon ausrichten können?

Sie merkte, dass sie keine Lust hatte,...

Erscheint lt. Verlag 25.7.2022
Reihe/Serie Miss Sharp ermittelt
Miss Sharp ermittelt
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Bestseller • Cosy Crime • eBooks • gebundenes Buch • Hardcover • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinung • Neuerscheinung Krimi Thriller • Rentner-Ermittler • Senioren ermitteln • spannende Bücher • Verbrechen
ISBN-10 3-641-27136-3 / 3641271363
ISBN-13 978-3-641-27136-7 / 9783641271367
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