Jerusalem Ecke Berlin (eBook)

Erinnerungen -

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
416 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-28209-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jerusalem Ecke Berlin - Tom Segev
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Ein außergewöhnliches Leben zwischen Israel und Deutschland
Seine Eltern lernten sich am Bauhaus in Dessau kennen und flohen 1935 nach Palästina, in der verzweifelten Hoffnung, einst in die Heimat zurückzukehren. Tom Segev, 1945 in Jerusalem geboren, verlor den Vater im ersten arabisch-israelischen Krieg. Er und seine Mutter blieben daraufhin in Israel, doch sein deutsches Erbe sollte Segev nicht mehr loslassen. Seit nunmehr über 50 Jahren gehört der Publizist und Historiker zu den aufmerksamsten und klügsten Beobachtern der deutsch-israelischen Geschichte, seine Bücher, allen voran 'Die siebte Million', machten ihn international bekannt. Streitbar und leidenschaftlich, mit Ironie und Wärme erzählt Tom Segev sein Leben, vom Karrierebeginn in Jerusalem bis zum Ende der DDR, von seinen Begegnungen mit Markus Wolf und Nelson Mandela, Fidel Castro, Mutter Teresa und Hannah Arendt, Willy Brandt und Günter Grass. Bewegend beschreibt er, wie er sich auf der Suche nach dem Verständnis der deutschen Identität auch mit den historischen Lasten Israels konfrontiert sah, und wie er sein Glück schließlich in Äthiopien fand. Segev ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der dabei indes auch heiklen und umstrittenen Themen nicht ausweicht. Ein überragendes Zeitzeugnis voller Optimismus - und ein großes Lesevergnügen.

Mit zahlreichen Abbildungen.

Tom Segev ist Historiker und einer der bekanntesten Journalisten Israels, dessen Bücher alle weltweit große Beachtung finden. Seine Eltern flohen 1935 aus Deutschland nach Palästina. Tom Segev wurde 1945 in Jerusalem geboren und gehört seit über 50 Jahren zu den klügsten Beobachtern der deutsch-israelischen Geschichte. In Deutschland wurde er durch sein Buch »Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung« (1995) bekannt. Für »Es war einmal ein Palästina« (2005) wurde er mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Siedler seine viel gerühmte Geschichte des Sechstagekrieges »1967. Israels zweite Geburt« (2007), »Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates« (2008), die Biografie »David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis« (2018) sowie seine Lebenserinnerungen »Jerusalem Ecke Berlin« (2022). Segev lebt in Jerusalem.

VORWORT


Guten Morgen, Herr Fischer


Einige Wochen nach meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag blicke ich von meinem Fenster aus auf einen Jacarandabaum im Garten, der mir provozierend seine sinnliche, optimistische, junge Frühlingsblüte entgegenstreckt, als sei alles schön und gut. Doch das ist ein Trugschluss: Tatsächlich sitze ich allein in Jerusalem, in deprimierender, nervenaufreibender Corona-Quarantäne, und vertiefe mich in die Lebensgeschichte eines deutschen Bühnenschauspielers vom Beginn des vorigen Jahrhunderts. Er hieß Hermann Meltzer-Burg und war Erster Komiker am Großherzoglichen Hoftheater von Baden. Manchmal führte er auch Regie. Und warum interessiert er mich überhaupt, dieser Meltzer-Burg ? Was habe ich mit ihm zu tun ? Ich sage mir, dass er mich eigentlich nicht zu interessieren braucht. Ich beschäftige mich mit ihm, um der quälenden Einsamkeit dieser Tage zu entfliehen, und es war mir nichts eingefallen, was ferner und irrelevanter, weniger israelisch und weniger aktuell gewesen wäre.

In den Jahren 1903 bis 1905 unterhielt Meltzer-Burg die Theaterfreunde in Karlsruhe, der Hauptstadt des Großherzogtums. Sein Anstellungsvertrag bedurfte der Genehmigung Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs höchstpersönlich. Die Worte »Seine Königliche Hoheit der Großherzog« in altdeutschen Buchstaben nahmen das ganze obere Drittel des herzoglichen Schreibens ein und erinnerten in ihrer schwungvollen Schnörkelschrift an die Goldbänder um teure Pralinenschachteln. Ich male mir aus, wie ein ehrfürchtiger Schauder den Ersten Komiker überlief, als man ihm diese Urkunde aushändigte. Wer weiß, vielleicht hatte ein berittener Kurier mit Federhut auf einem Schimmel sie ihm überbracht. Meltzer-Burg, damals um die fünfzig, entstammte einer protestantischen Straßburger Familie. Auch seine Frau war Schauspielerin. Sein Repertoire umfasste über hundertfünfzig Rollen, fast alle in leichten Stücken mit Titeln wie Guten Morgen, Herr Fischer, die zumeist längst vergessen sind. Er konnte auch singen und trat in Operetten auf. Manchmal bekam er gute Zeitungskritiken.

Ich hatte gehofft, die Beschäftigung mit seiner Geschichte würde mich in ferne, selbst von Corona unberührte Welten entführen, ganz weit weg. Doch da irrte ich mich. Denn Großherzog Friedrich I. von Baden erwies seine Gunst auch der zionistischen Bewegung, und da er ein Onkel Kaiser Wilhelms II. war, konnte er dem Gründer der Zionistischen Weltorganisation, Theodor Herzl, eine historische – und folgenarme – Begegnung mit dem Kaiser in Jerusalem verschaffen. Wie sie mich verfolgt, die zionistische Geschichte. Und mir ist auch keine Zuflucht vor Kaiser Wilhelm persönlich vergönnt. Wann immer ich den Blick vom Computer hebe, sehe ich über den Zweigen der Jacaranda den hohen Glockenturm neben der Dormitio-Abtei auf dem Berg Zion. Kirche und Turm wurden zur Demonstration deutscher imperialer Macht in der Heiligen Stadt erbaut. Nach der lokalen Legende sollte der Turm ein wenig an das Äußere des Kaisers erinnern, die Turmspitze also an seinen Helm. Der schmale Balkon um das Obere des Turms könnte ein Anklang an den mächtigen Schnauzer seiner Majestät sein. Und wenn ich auf diesen Balkon schaue, fällt mir manchmal Pater Paul ein, ein benediktinischer Ordenspriester, der mich, als ich noch ein Junge war, auf diesen Balkon mit hinaufnahm, nachdem er mir eine schwarze Mönchskutte übergezogen hatte; ich meine, ich hätte auch die Kapuze aufgesetzt. Das war ein streng verbotenes Abenteuer, nicht ungefährlich für ihn und für mich.

Nach meiner Erinnerung war ich damals vierzehn Jahre alt. Seit dem Abkommen zwischen Israel und dem Königreich Jordanien war Jerusalem geteilt. Durch die Stadt zog sich ein Streifen von Ruinen, Stacheldrahtzäunen und Betonmauern. Das war Niemandsland. Die Altstadt lag auf der jordanischen Seite. Spinner aus aller Welt und Kinder überquerten die Linie manchmal irrtümlich, oder sie drangen absichtlich ins Niemandsland ein auf der Suche nach Kupferschrott, den sie zu verkaufen hofften. Einige traten dabei auf Minen. Nicht selten zog es auch mich dorthin: Das Verbotene und Gefährliche lockte mächtig. Einmal, im Alter von acht Jahren, überschritt ich die Grenze sogar. Es war an einem Samstagmorgen; wir wohnten damals im Viertel Baka im Süden der Stadt. Ein anderer Junge, Avremale, und ich hatten einen verirrten Esel auf der Straße entdeckt, wollten ihn einfangen und seinem Besitzer zurückbringen. Doch der Esel lief weg. Wir rannten ihm nach bis nach Beit Safafa, einem arabischen Dorf, das ebenso wie Jerusalem seit dem israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 zwischen Israel und Jordanien geteilt war, doch die Einwohner hüben und drüben scherten sich nicht viel um die Grenze.

An diesem Punkt bin ich unsicher, ob mein Gedächtnis richtig liegt oder die Geschichtsschreibung. In meiner Erinnerung sehe ich meinen Freund und mich jenem Esel nachjagen, bis wir uns unversehens jenseits der Grenze befanden, genau vor zwei bewaffneten jordanischen Soldaten, »Legionären«, wie man sie damals nannte. Wir waren zutiefst erschrocken, die Soldaten desgleichen. Der Esel, wohl ebenfalls verdattert, blieb neben uns stehen. Wir fassten ihn und banden ihm ein Seil um den Hals. Die Legionäre halfen uns. Dann alarmierten sie die UNO-Beobachter, die das Waffenstillstandsabkommen zu überwachen hatten, und diese riefen die israelische Polizei von Jerusalem, die uns nach Hause brachte. Auf dem Weg zeigten uns die Polizisten, wo die Grenze verlief, damit wir sie nicht erneut überquerten. Den Esel, den sie hinten an den Streifenwagen gebunden hatten, brachten sie ebenfalls nach Hause. Er iahte fröhlich, und sein Besitzer freute sich. All das habe ich gut in Erinnerung.

An jenem Schabbatmorgen war wie stets ein Journalist namens Gabriel Stern bei uns zu Gast, ein alter Freund meiner Mutter, der solche Geschichten gern auf der Titelseite seiner Zeitung Al Hamishmar veröffentlichte. Zum ersten Mal stand mein Name nun in der Zeitung. Aber in Sterns Geschichte kamen weder Legionäre noch UNO-Beobachter vor. Demnach hatten wir die Grenze gar nicht überschritten: Eine israelische Polizeistreife musste uns auf unserer Seite entdeckt haben, und das entsprach wohl der historischen Wahrheit. Es gibt allerdings eine weitere Version, die ich einmal veröffentlichte, nachdem ich zufällig meinen einstigen Mittäter wiedergetroffen hatte. Avremale hatte es unterdessen geschafft, sich einem Kibbuz anzuschließen, eine Greencard in New York zu ergattern, zurückzukehren, Jiddisch zu lernen, zu malen und zu bildhauern, zu heiraten, drei Kinder zu zeugen und in eine Siedlung bei Jericho im israelisch besetzten Westjordanland zu ziehen. Irgendeine Kampagne hatte ihn dazu veranlasst, vor der Residenz des Ministerpräsidenten zu demonstrieren, und dort traf ich ihn. Wir kamen auf die Affäre mit dem Esel zu sprechen und gelangten zu dem Schluss, dass wir tatsächlich auf jordanisches Gebiet vorgedrungen, jedoch auf keine Legionäre getroffen waren.

Mein Leben lang jage ich Eseln nach, aber meine Geschichten haben eine gewisse Neigung: Je tiefer sie mir ins Gedächtnis dringen, desto farbiger und dramatischer werden sie – einfach immer besser. Eine erneute Überprüfung ergibt dann jedoch schon mal, dass einige Höhepunkte sich selbst erfunden und in mein Gedächtnis geschlichen haben. Manche gute Story ist zudem an meiner destruktiven Skepsis gescheitert: So kann es doch gar nicht gewesen sein, sage ich mir und bedaure es oft, besonders wenn ich recht habe. Bedauern plagt mich auch, wenn ich Illusionen, Erfindungen, Fantastereien und falsche Erinnerungen bei anderen Menschen entdecke, die ich in meinen Büchern zitieren möchte. Daher ermahne ich mich, gut nachzudenken, ehe ich die Geschichte mit Pater Paul niederschreibe.

Der Schnauzer des Kaisers


Ich habe keine Ahnung, was ich an jenem Tag auf dem Berg Zion wollte. Als Junge fühlte ich mich manchmal einsam, zuweilen auch deprimiert, und schweifte allein umher, wohin meine Füße mich trugen. Der Berg Zion war von Geheimnis, Grusel und Unheil umwittert. Der Weg dorthin führte an einer Hundeklinik vorbei; das gepeinigte Jaulen verfolgte einen fast bis zum Gipfel. Man kam auch über Mamila hin, ein arabisches Stadtviertel, das im Krieg verwüstet worden war und jetzt im Niemandsland lag. Seine Bewohner hatte es wer weiß wohin verschlagen, vermutlich in Flüchtlingslager. Die Häuser waren zerstört, aber ihre Ruinen ließen noch etwas von ihrer ehemaligen Form erkennen. Gesprengte Ziegeldächer, durchlöcherte Mauern, kaputte Fensterläden, verbogene Eisengeländer, geborstene Stufen. Hier und da lagen Möbelteile und verbeulte Kochtöpfe herum. Man konnte erahnen, wie das Viertel vor dem Krieg ausgesehen hatte. Ich stellte mir vor, wer die Bewohner gewesen waren und wie sie gelebt haben mochten. Damals fragte ich mich noch nicht, warum sie nicht mehr da waren. Jenseits der Grenze standen die Legionäre; jederzeit konnte einer unvermittelt das Feuer eröffnen. Das kam häufig vor.

Der Berg Zion ist von alten Gräbern umgeben, und ein mächtiger Grabstein auf seiner Kuppe gilt seit rund tausend Jahren als König Davids Grab. Ein Mann, der immer dort saß, erzählte mir, einmal habe er um Mitternacht hinter seinem Rücken Lyraspiel gehört, und als er sich umdrehte, König David gesehen. Die christliche Überlieferung, wonach Jesus das letzte Abendmahl mit seinen Jüngern auf dem Berg Zion eingenommen hat, ist auch sehr alt. Die Kirche, die Kaiser Wilhelm dort oben finanzierte, sollte außerdem den Ort markieren, an dem Maria, die Mutter Jesu, in ewigen Schlaf gesunken war.

Hans Mehl, alias Pater Paul, kannte...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2022
Übersetzer Ruth Achlama
Zusatzinfo Mit zahlreichen Abbildungen
Sprache deutsch
Original-Titel Autobiographie (AT)
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 1967 • 1989 • 2022 • Albert Speer • Amos Oz • Äthiopien • Bauhaus • Biografie • Biographien • Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch • Claude Lanzmann • DDR • Deutschland • eBooks • Fidel Castro • Geschichte • Hannah Arendt • historisches Erbe • Identität • Israel • Margot Friedländer • Mutter Theresa • Nahostkonflikt • Nelson Mandela • Neuerscheinung • Palästina • Verteidigungsrecht • Willy Brandt • Yom Kippur Krieg • Zionismus
ISBN-10 3-641-28209-8 / 3641282098
ISBN-13 978-3-641-28209-7 / 9783641282097
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