Der betrunkene Berg (eBook)
240 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60288-4 (ISBN)
Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart - das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit »Ein dickes Fell«; 2014 stand er mit »Der Allesforscher« auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für »Das Leben und Sterben der Flugzeuge«, 2018 wurde »Die Büglerin« für den Österreichischen Buchpreis nominiert.
Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren und lebt zur Zeit in der Nähe von Heidelberg. Sein Romane wurden bereits zweimal für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 »Ein dickes Fell«, und 2014 gelangte »Der Allesforscher« auf die Shortlist. 2016 erhielt Heinrich Steinfest den Bayerischen Buchpreis für »Das Leben und Sterben der Flugzeuge«, 2018 wurde »Die Büglerin« für den Österreichischen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien von ihm bei Piper die überaus erfolgreiche »Amsterdamer Novelle«.
2
Katharina hatte sich nur kurz hinlegen wollen, war dann aber vom Schlaf überwältigt worden und erst zeitig in der Früh erwacht. Sie war eine gute Schläferin, und sie war eine gute Frühaufsteherin. Draußen war es noch finster, auch wenn die Nacht an ihr Ende kam, so, wie auch dem nächtlichen Sturm langsam die Kraft ausging und er in einen eisig kalten, aber ruhigen und wolkenlosen Tag übergehen würde.
Sie griff nach ihrem Smartphone und sah nach, was in der Welt unten so vor sich ging. In einer Welt, die aus der Höhe betrachtet immer gleich weit entfernt schien, egal, welcher Flecken der Erde damit gemeint war, egal, ob es sich um die innenpolitische Komödie handelte, ein hysterisch bejubeltes Fußballspiel oder das große Welttheater, welches letztlich immer ein zu globaler Größe aufgeblasenes Provinztheater war, wo sich alle gegenseitig beschuldigten, Bananenrepubliken und Schurkenstaaten zu sein.
(Richtig, im Bücherberg gab es WLAN, eine Anschaffung nicht des Alpenvereins, sondern Katharina selbst hatte veranlasst, dass eine Außenantenne fix an ihrem Laden angebracht wurde. Eine Antenne, die die Signale der Mobilfunkstationen der Umgebung verstärkte und dank eines speziellen Modems das Breitband-Internet in die Hütte trug. Katharina nannte es den »langen Schatten der Welt«, der es sogar bis in solche Regionen schaffte. Wobei sie das Funknetzwerk auch als Buchhändlerin benötigte, um in Kontakt zu ihrer Kundschaft und ihren Lieferanten zu bleiben. Und nicht zuletzt darüber informiert zu sein, welches Glück und Unglück dem Büchermarkt soeben beschert wurde.
Keine Frage, drüben in der Schutzhütte gab es auch ein Satellitentelefon und eine Funkstation. Für die wirklichen Notfälle.)
Nach erfolgter Weltschau legte Katharina ihr Smartphone zur Seite, erhob sich aus ihrem Bett und bewegte sich zu der kleinen Küchenzeile. Dort griff sie nach ihrer mechanischen Kaffeemühle, füllte sie mit einer Handvoll Bohnen, und indem sie in ihrem kleinen Zimmer auf und ab ging, zerkleinerte sie die Bohnen zu einer frischen Menge feinen Pulvers. Dieses tat sie in das Sieb ihrer Espressomaschine und erhielt nun eine belebende Flüssigkeit »hoch konzentrierten Kaffees«, dessen goldbrauner Schaum eine ungesüßte Dunkelheit bedeckte. Geradezu eine Verbeugung vor der soeben zu Ende gehenden Nacht.
Katharina nahm einen kleinen Schluck, verblieb einen Moment ihrerseits hoch konzentriert im Erlebnis der Wirkung und wechselte sodann, noch immer mit ihrem maulbeerfarbenen Seidenpyjama bekleidet – praktisch die Bluse ihres Nachtschlafs –, nach vorne in den Bücherladen.
Robert schlief noch. Er schlief und schnarchte. Es war ein Schnarchen wie aus größter Not. Unter der Decke ragten seine bandagierten Füße hervor. Die auch in solcher Kleidung noch immer den Eindruck von Marmor besaßen.
Katharina legte ihren Handrücken auf seine Stirn, wobei sie unter das wild ins Gesicht stehende Haar greifen musste. Es war nicht mehr die Hitze vom Vorabend zu spüren, aber doch eine gewisse Wärme, 38,0 etwa. Das konnte sie gut schätzen, so, wie sie auch die Außentemperaturen schätzte, dazu brauchte sie kein Thermometer. Wer in den Bergen lebte, der entwickelte ein Gespür für Wärme- und Kältegrade, innen wie außen, wie auch auf den Stirnen verletzter Männer.
Roberts Haar war klatschnass, vom Schweiß, nicht von den längst geschmolzenen Eiszapfen. Katharina legte ihm ein Handtuch über den Kopf, dann tat sie Holzscheite in den Kamin, in dem noch immer eine schwache Glut einen kleinen Nachhall bildete. Neues Feuer kam, frisch wie der Kaffee, den sie nun austrank.
»Was ist? Wo …?«, stammelte der erwachende Robert.
»Ich hoffe«, meinte Katharina, »Sie erinnern sich wenigstens daran, mir versprochen zu haben, dass Sie ein guter Handwerker sind.«
»Handwerker?«
»Nun, ich könnte doch noch die Bergrettung benachrichtigen.«
Offensichtlich war das Wort »Bergrettung« ein geeigneter Wachmacher und eine noch bessere Erinnerungshilfe. Denn Robert richtete seinen Körper mit plötzlicher Vehemenz auf und erklärte: »Natürlich. Ein ausgezeichneter Handwerker.«
»Jetzt übertreiben Sie nicht«, sagte Katharina, »und gehen mal unter die warme Dusche. Dann bringe ich Ihnen frische Wäsche von der Schutzhütte drüben, und Sie setzen sich wieder in Ihren Sessel. Sie fiebern noch etwas. Nicht mehr schlimm, aber Sie müssen sich auskurieren, bevor Sie hier zu arbeiten beginnen.«
Und so geschah es. Katharina führte Robert hinüber in ihren Privatbereich, wo er sich von seinen Decken aus Beige und Gold befreite und in eine hochmoderne, aber superschmale Duschkabine trat, in die er gerade noch so hineinpasste, sich aber kaum rühren konnte. Doch dem Wasser war’s egal, das nun an seinem massigen Körper herunterrann wie an einem im Regenwald gefangenen Soldaten.
Währenddessen schlüpfte Katharina aus ihrem Pyjama, zog sich an und trat hinaus ins Freie, wo erstes Tageslicht durch das Dunkel sickerte. Sie atmete tief ein, schmeckte die vom Eis prickelnde Luft und begab sich hinüber zur Schutzhütte, wo sie die Eingangstüre aufsperrte und in einen der Lagerräume trat, in dem sich Ersatzwäsche befand. Sie kramte ein paar Sachen zusammen und brachte sie hinüber zum Bücherberg. Darunter einen vielfarbigen Norwegerpullover, der so aussah, als hätte ganz Skandinavien an ihm gestrickt.
Als Robert ihn dann anzog, meinte Katharina: »Also, das muss ich zugeben, der steht Ihnen wirklich.«
Er lächelte. Erstmals lächelte er, auch wenn Katharina es in einem absolut sachlichen Ton gesagt hatte, in der gleichen Art etwas Passendes feststellend, wie sie etwas Unpassendes feststellte. Faktum war, dass Robert in der gesamten Zeit, die er auf diesem Berg und in diesem Bücherberg zubringen sollte, immer nur diesen Pullover tragen würde. Also nicht diesen Pullover allein, aber eben nie ohne ihn sein würde. Als seien sie beide füreinander geschaffen worden.
Solcherart bekleidet, auch mit einer Hose, die allerdings etwas zu kurz war, an den Füßen frische Bandagen, kehrte er zurück in jenen Sessel von der Lippenfarbe einer uralten, aber unverwüstlichen Baronin.
Katharina brachte ihm nun ebenfalls einen Espresso, setzte aber zudem Wasser für einen Tee auf. Man könnte sagen, es war ein Geheimtee, irgendeine verhexte Kräutermischung, die Katharina von einer Bäuerin unten aus dem Tal hatte. Eine ältere Frau, die einmal im Jahr im Bücherberg vorbeisah, nicht aber, um ein Bergbuch zu erstehen, sondern irgendeinen Roman bei Katharina zu bestellen. Was etwas absurd war, weil Katharina dann dieses Buch orderte und direkt an die Kundin unten im Tal versenden ließ. Doch aus unerfindlichen Gründen wollte es die Bäuerin so und brachte eben immer eine Dose mit dieser Kräuterteemischung vorbei, ohne sich jemals über die Zusammensetzung auszulassen. Dabei war sie eine unwirsche Person und ihr Auftauchen völlig rätselhaft. Faktum aber auch, dass dieser Tee ein wundersames Allheilmittel darzustellen schien. Was höchstwahrscheinlich keinerlei Hokuspokus zu verdanken war, sondern naturwissenschaftlich begründbar. Wozu man freilich die detaillierte Zusammensetzung dieser Mixtur hätte kennen müssen. Doch die war fest vergraben im Kopf einer mürrischen Bäuerin.
Und auch Robert wollte wissen, was das für ein Tee sei, den ihm Katharina im Anschluss an den Kaffee servierte. Verständlich, denn der Tee besaß die gleiche Farbe wie der sogenannte Violette Bläuling, ein Pilz, der im feuchten Zustand ein knalliges Violett aufweist, sich aber entgegen seiner bedrohlichen Farbe als ein mild schmeckender Speisepilz erweist.
»Sie müssen nicht alles wissen«, wich Katharina aus. »Der Tee wirkt, das ist die Hauptsache.«
»Er ist aber sehr violett«, meinte Robert.
»Das ganze Leben ist sehr violett«, erklärte Katharina kryptisch, »zumindest, wenn man genau hinsieht.«
»Ach ja«, sagte Robert. Was sollte er dazu auch sagen?
Nun, der erste Effekt des Tees bestand darin, dass Robert trotz starkem Espresso im Vorfeld bald wieder einschlief, nun eben nicht mehr goldbekleidet, sondern mit einem Pullover, auf dem sich unter einer Vielzahl von Musterungen auch zwei mit der norwegischen Flagge bestrickte Rentiere befanden. Die Maskottchen rechts und links...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alpen • Bayrischer Buchpreis • Berg • Bestseller • Buchhändlerin • büglerin • chauffeur • Cheng • Deutsche Literatur • deutscher Roman • Köhlmeier • Liebesgeschichte • Menasse • Österreich • Roman • Schicksal • Schutzhütte • SPIEGEL-Bestseller |
ISBN-10 | 3-492-60288-6 / 3492602886 |
ISBN-13 | 978-3-492-60288-4 / 9783492602884 |
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