Bittere Wasser (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01442-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bittere Wasser -  Tina Pruschmann
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ida ist ein Zirkuskind, ihre Eltern sind Stars im DDR-Staatszirkus, die Mutter am Trapez, der Vater als Elefantendompteur, es gibt sogar eine Briefmarke mit seinem Bild. Zur Einschulung wird das Mädchen nach Tann ins Erzgebirge verschickt, zur Oma, in deren Kneipe die Männer vom Uranbergwerk ihre Extrazuteilungen versaufen, ehe sie früh an radioaktiver Vergiftung, der Schneeberger Krankheit verrecken. Nach der Wende wird die Mine geschlossen, der Zirkus an einen westdeutschen Investor verscherbelt. Die Ehe der Eltern scheitert an Stasigeschichten. Idas Vater hockt in seinem Zirkuswohnwagen im Garten der Großmutter und säuft. Sie selbst folgt der Elefantendame Hollerbusch, die an den Zoo von Kyjiw verkauft wurde ... Der Roman einer Familie und der einer Stadt, die immer eine andere war, in einem Land, das es nicht mehr gibt. Tina Pruschmann erzählt davon wirklichkeitssatt und realitätsnah, und doch klingt die Geschichte von den Bergleuten und Zirkusmenschen immer wieder wie ein schönes und düsteres Märchen.

Tina Pruschmann, 1975 geboren, lebt in Leipzig. Der Versuch, einen ordentlichen Beruf zu ergreifen, führte sie in Juravorlesungen, an eine Förderschule, in eine psychiatrische Klinik und in das Lehrerzimmer einer Berufsfachschule. Ihr Debütroman Lostage erschien 2017 im Residenz Verlag.

Tina Pruschmann, 1975 geboren, lebt in Leipzig. Der Versuch, einen ordentlichen Beruf zu ergreifen, führte sie in Juravorlesungen, an eine Förderschule, in eine psychiatrische Klinik und in das Lehrerzimmer einer Berufsfachschule. Ihr Debütroman Lostage erschien 2017 im Residenz Verlag.

Ein Kind wie ein bunter Mäusespeck


Er ist jetzt Vater. Georg kaut auf diesem Wort herum wie auf Brotrinde. Er sieht das Baby an, das vor ihm auf dem Bett liegt. Es zappelt mit den Beinen, gähnt, verzieht das Gesicht und sieht dabei aus wie Jutta. Wie es nur gekommen ist, fragt sich Georg, dass er für dieses Mädchen, das er doch gerade erst anfängt kennenzulernen und von dem er noch nicht so recht weiß, welches Temperament es hat, was es mag, was nicht, was es zum Lachen bringt, wovor es sich fürchtet, ohne zu zögern alles hingeben würde; sogar sein Leben, sogar das von Jutta.

«Hallo, Ida, mein Mädchen», flüstert Georg.

Das Baby streckt ihm die Arme entgegen. Georg gibt ihr den Tscheburaschka, den er ihr von seiner Gastspielreise aus Odesa mitgebracht hat. Ida nimmt ihn, knetet die großen braunen Ohren, zieht sie hin und her. Georg knöpft den Strampler zu, der grün ist und samtig, öffnet die Cremedose und cremt mit beiden Händen Idas Wangen. Ida schaut, lacht, winkt mit dem Stofftier. Georg hebt sie hoch. Der Tscheburaschka fällt zu Boden. Er legt sich das Kind in die Armbeuge und schaut es an.

«Na, kennst du mich noch? Ist ein bisschen her, sechs Monate. Aber weißt du noch? Im Krankenhaus. Da haben wir uns zum ersten Mal gesehen.»

Georg kitzelt Ida. Sie zieht ihre Beine an und greift nach seinem Zeigefinger. Georg starrt auf ihre Fingernägel, und wie bei allem, was er an dem Kind sieht, braucht er eine Weile, bis er sich das Bild gut genug eingeprägt hat, obwohl das, was er eigentlich behalten will, eine Empfindung ist und kein Bild, aber Georg weiß nicht, wie das geht, sich eine Empfindung einprägen. Von Freunden hat er gehört, dass Babys schnell wachsen, und er weiß schon jetzt, dass er später Sehnsucht nach der Ida aus dem November neunzehnhundertfünfundsiebzig haben wird.

«Ich heiße Georg. Aber du kannst auch Papa zu mir sagen.»

Georg hört Schritte im Flur des Wohnheims, hört die Tür, spürt einen kühlen Luftzug im Rücken. Er wendet sich um. Jutta betritt das Zimmer. Die Herbstluft, die sie hereinträgt, riecht nach aufziehendem Regen.

«Kommt ihr klar?», fragt sie, öffnet den Schrank und zieht ihre Ballettschuhe aus dem unteren Fach.

«Kommst du klar?», erwidert Georg.

«In fünf Monaten geht’s los», singt sie auf eine Edith-Piaf-Melodie, gibt Ida einen Kuss auf die Stirn und wirft sich den Mantel über.

«À Paris …», Jutta zieht summend die Tür hinter sich ins Schloss, und Georg hört ihren Schritten nach.

«Was meinst du, Idalein?», sagt er und wendet sich dem Kind zu. «Wir kommen so was von klar.»

Ida gluckst. Georg geht mit ihr in dem Zimmer umher, das in der oberen Etage eines zweigeschossigen Neubaus liegt. Zwei Zimmer, Küche, Bad bedeuten im Winterquartier des Zirkus Dusche, Klo und Frühstücksküche auf dem Flur, Klubraum im Gemeinschaftshaus nebenan und diese zwanzig Quadratmeter nur für sich, die im Vergleich zu ihrem Tourneewohnwagen fast geräumig sind. Sein Blick fällt auf den roten Flokati vor dem Bett, das Spitzendeckchen auf dem Nachtschrank und die Lampe mit dem gedrechselten Fuß und den goldenen Kordeln. Jutta scheint seit Neustem den nomadischen Alltag ihres Lebens etwas dimmen zu wollen. Bevor Ida auf die Welt kam, reichte ihr, was die Standardmöblierung an Gemütlichkeit hergab. Ida patscht ihre Hand auf die Dinge, die da sind, und Georg erklärt ihr, wie das heißt, was sie fühlt. Das Fensterglas ist kalt und glatt, die abblätternde Farbe des alten Holzstuhls rau und kantig, das rote Kissen auf dem Stuhl grob und kratzig, Juttas Schal am Garderobenhaken warm und weich, die dünne Plastiktischdecke auf dem Klapptisch zäh und klebrig, und sie knistert, wenn man sie schiebt und zieht. Georg spürt die Schwere und die Wärme des kleinen Körpers, sieht, wie sich ihr Brustkorb bewegt, und er legt seine Hand auf Idas Kopf. Ida wird still und schaut ihm in die Augen. Es liegt kein Urteil in ihrem Blick. Georg spürt die weiche Stelle zwischen den Schädelknochen des Kindes, und es breitet sich in ihm, ohne dass er darauf vorbereitet gewesen wäre, eine diffuse Furcht aus, weil ihm bewusst wird, wie wenig doch zwischen Liebkosen und Zerstören liegt und wozu er mit nur einer einzigen Entscheidung, die er im Bruchteil einer Sekunde fällen konnte, imstande wäre. Jäh zieht er seine Hand zurück.

Ida erschrickt und schreit.

Georg weint.

Er steht vom Tisch auf, drückt das Kind an seine Brust, spürt die Unbedingtheit, mit der Ida jeden Muskel ihres Körpers anspannt, und die Kraft, mit der sie die Schreie aus ihrem Leib herauspresst. Georg legt seine Hand auf ihren Rücken, wippt und summt, bis Ida wieder ruhig ist, und steht lange so da, sieht aus dem Fenster in den grau verhangenen Himmel, hört die Autos, die auf der Frankfurter Chaussee vorbeirauschen, und den Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelt. Georg dreht sich um, schaut auf das eingerahmte Foto, das unter den goldenen Kordeln auf dem Nachtschränkchen steht. Es zeigt ihn, wie er Ida auf dem Arm hält. Es ist der achtzehnte Mai, am Morgen nach ihrer Geburt. Ida kam zehn Minuten vor Mitternacht auf die Welt. Fast wäre sie ein Sonntagskind geworden. Am Tag darauf ist Georg nach Odesa abgereist. Er hebt den Tscheburaschka auf, der neben dem Bett auf dem Flokati liegt, legt Ida wieder auf das Bett und schaltet die Lichterkette an, die er am Vormittag gekauft hat. Ein warmes oranges Licht legt sich wie ein Pflaster über Georgs Kümmernis und gibt ihm die Sicherheit zurück, die er für einen Augenblick verloren hatte. Ida blinzelt und streckt ihre Hand den Lämpchen entgegen. Georg küsst Idas Hand, gibt ihr den Tscheburaschka zurück. Er schaltet das Radio ein, sammelt die Wäsche zusammen, die überall im Zimmer verstreut liegt, wirft sie in den Wäschekorb, der am Fußende des Bettes neben dem Laufgitter steht, und wischt Idas Kekskrümel vom Tisch.

Sie übertragen eine Reportage vom Bau einer Stadt in der Ukraine. Atomstadt, sagt die Sprecherin, eine Kategorie, von der Georg noch nie etwas gehört hat. Im Wappen der Atomstadt kreisen Elektronen um einen Atomkern, eine Bewegung, die weder Anfang noch Ende kennt, und den Elektronen gleich zirkulieren die Mikrorajony um das Atomstadtzentrum. Das hätten sich die Stadtplaner so ausgedacht. Die Sprecherin erzählt, wie junge Frauen ihre Kinderwagen über die neuen Gehwege schieben, wie die Einkäufe durch die Maschen ihrer Netze quellen, Kinder Kosmonauten spielen, Ikarusbusse die Eltern über die Straße der Enthusiasten zur Kraftwerksbaustelle bringen und ein Hochzeitspaar, die Braut blütenweiß, vor dem Ortseingangsschild posiert. Der Bürgermeister spricht von den neuen sozialistischen Menschen, von einer strahlenden Zukunft, der Energiewirtschaft, Fünfjahrplan, Planübererfüllung. Georg fragt sich, ob man eine solche Stadt, die frei von jedem Zufall ist, die kein Gedächtnis und keine Launen hat, riechen kann, wie man Berlin riechen kann, ob sie einen Klang besitzt, ob sie an einem zieht, wenn man sie verlässt, wie Tann an ihm zieht, obwohl der Ort ein Drecknest ist, ob man in solch einer Stadt je auf einer Parkbank in der Abendsonne sitzen und eine Frau küssen wird.

Georg schaut Ida an. Sie knetet den Tscheburaschka und lacht.

«Komm, Ida, wir schauen mal, was die anderen machen», sagt er und nimmt Idas Winteranzug von der Garderobenleiste.

Georg legt Ida in den Anzug, steckt zuerst die Füße in die Hosenbeine, dann die Arme in die Jackenärmel. Er zieht den Reißverschluss zu, setzt Ida eine Mütze auf und schiebt die Kapuze darüber. Mit dem wild gemusterten rot-gelben Anzug und ihren cremeglänzenden Wangen sieht sie jetzt aus wie ein bunter Mäusespeck, findet Georg, und er nimmt sie unter seine Jacke und verlässt mit ihr das Wohnheim.

Autolärm dringt von der Straße herüber. Inzwischen regnet es in Strömen, und er eilt mit dem Kind am Gemeinschaftshaus vorbei in die Malereiwerkstatt, wo Manne, der Hausmaler, im weißen Kittel die Stellwände für die nächste Saison bemalt – ein Tiger, der durch einen funkelnden Reifen springt. Auf der anderen Seite des Raums beugt sich Löschi, der Schriftenmaler, an einem langen Arbeitstisch sitzend über seine Plakatentwürfe.

«Was’n das Motto?», fragt Georg.

«Irgendwat mit Druschba», sagt Löschi.

Als er aufschaut und Ida sieht, hellt sich sein Gesicht auf.

«Na, Kleene, kiek dir nur allet an. Wenn de ma groß bist, kommste zu uns inne Werkstatt. Hier isset lustig, und wir machen nich so verrückte Sachen wie deine Eltern», sagt er, streicht mit seinen rauen, farbverkrusteten Händen über Idas Wange. Dann zwinkert er Georg zu. «Die Hasardeure.»

Löschi wirkt blass unter dem Neonlicht. Er riecht nach Farbe und Lösungsmittel, und Ida lacht. So viel weiß Georg nach den drei Wochen, die er vom Gastspiel zurück ist, über das Kind schon; Ida lacht alle an.

Sie verlassen die Werkstatt. Das Gelände versinkt im Schlamm, nur eine Reihe aufgebockter Sattelschlepper mit den Schriftzügen Busch, Aeros, Berolina leuchtet gleißend weiß aus dem verwaschenen Braun, Grau und Schmutzgrün des Novembernachmittags. Überhaupt ist der Zirkus der wohl einzige Ort in einem Land, das optisch nicht viel hergibt, an dem all das sein darf: strassbesetzte Kostüme mit Silberfransen, Galawagen und Goldräder, bunte Drachen aus Pappmaschee, hohe Zylinder, Rappen mit Kopfschmuck aus Straußenfedern, dazwischen der Geruch der feinen Späne, der Wildtiere, der abgekämpften Artisten und über allem der luzide Duft irgendeines Parfüms. Sie spazieren durch die ehemaligen Rennställe, in denen jetzt Zirkus- statt Rennpferde ihr Winterquartier haben. Es riecht warm nach den...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufwachsen als Zirkuskind • Bergbau • Coming of Age • DDR • Erzgebirge • Familie • Familienroman • Generationenroman • Stasi • Tschernobyl • Uranbergbau • Wenderoman • Zirkus • zirkusfamilie
ISBN-10 3-644-01442-6 / 3644014426
ISBN-13 978-3-644-01442-8 / 9783644014428
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99