Heumahd (eBook)

Roman

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
320 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-29590-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heumahd -  Susanne Betz
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Ein kraftvoller Roman über das ungewöhnliche Leben einer eigensinnigen Bergbäuerin
Als König Ludwig II. 1886 im Starnberger See ums Leben kommt, sind die Menschen im Werdenfelser Land schockiert. Dass ihr Ehemann in einer eiskalten Nacht erfriert, empfindet Vroni Grasegger dagegen als großes Glück: Endlich ist sie nicht mehr seinen Misshandlungen ausgeliefert. Optimistisch übernimmt sie das Sagen auf dem einsamen, gegenüber dem Karwendel gelegenen Bergbauernhof und die Sorge für die behinderte Stieftochter Rosl. Harte Arbeit bei der Heumahd und Missernten bringen Vroni an ihre Grenzen, ebenso wie der Druck aus dem Dorf, dass sie wieder heiraten soll. Da begegnet sie dem Maler Wilhelm Leibl, den eine Schaffenskrise in die Berge führt - und auf Vronis Hof. Zwischen dem homosexuellen Künstler und der jungen Bäuerin entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft. Als Leibl dann noch einen englischen Arzt und Alpinisten mitbringt, verbreitet sich in dem kurzen Bergsommer eine ungekannte Leichtigkeit. Und Vroni schöpft vielfältige Hoffnungen ...

»Betz' Romane haben zweifellos etwas Besonderes.« Süddeutsche Zeitung Starnberg

Susanne Betz wurde 1959 in Gunzenhausen geboren. Sie studierte Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften in Deutschland, den USA und Kolumbien. Danach arbeitete die promovierte Historikerin bei verschiedenen deutschen und amerikanischen Tageszeitungen und Zeitschriften. Seit 1993 ist sie Hörfunkredakteurin in der Abteilung Politik des Bayerischen Rundfunks. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in der Nähe von München. In ihren historischen Romanen macht sie auf einzigartige Weise Geschichte lebendig.

KAPITEL 2

DER WARME WIND war in einer mondlosen Nacht über den Nordkamm der Alpen gekommen. Er tollte über die Dächer des Hofes, der Heustadel und des Hühnerhauses, das der Hahn und seine Hennen wieder bezogen hatten, rüttelte an den Holzschindeln und riss mindestens ein Dutzend herunter.

Er kroch in die Ritzen zwischen den alten Balken und wirbelte die letzten Reste Heu hoch, die Ende April gut eingeteilt werden mussten. In den Kammern wischte der Italiener, den die Werdenfelser Sunnawind nannten, mutwillig durch die Haare und Herzen der Schlafenden. Bis diese wie von einem Gespenst geküsst aufschreckten und ihre wollüstigen Träume noch genau vor Augen hatten.

Der Onkel dachte wieder an die ledige Mutter aus Murnau, der er als junger Mann elf Sonntage hintereinander, einen wunderbar sonnigen Spätsommer und Herbst lang, auf dem Kirchplatz begegnet war, weil sie im Haushalt ihrer nach Loisbichl eingeheirateten kranken Schwester aushalf. Schlank und weiß bog sich ihr Hals, wenn sie ihrem kleinen Sohn die Nase putzte. An ihre Haar- und Augenfarbe erinnerte er sich dagegen nicht mehr. Ob sie eventuell sogar singen und ihn beim Zitherspiel begleiten konnte, sollte er damals nie herausfinden. Zu seinem lebenslangen Verdruss auch nicht, ob sie Ja gesagt hätte. Ein lediges Kind bringt sie mit, der Allmächtige steh uns bei, seine Mutter hätte getobt. So zog er später, als er zu alt fürs Arbeiten gewesen war, auf den Hof seiner inzwischen verstorbenen Schwester. Dass er diese Johanna aus Murnau nie gefragt hatte, quälte ihn bis heute.

Der Onkel stöhnte und drehte seinen langen mageren Körper zum wiederholten Mal im Bett herum. Seine Wirbelsäule krachte und schmerzte bei jeder Drehung, aber still liegen ging auch nicht. Im Stall hoben die Kühe die Köpfe und muhten ausdauernd wie sonst nur, wenn sie zum Stier wollten. Auch Josefa schlief schlecht. Sie setzte sich zweimal aufrecht hin und dachte an den Bauern, der sie regelmäßig in sein Bett geholt und rangenommen hatte, sodass sie schon gehofft hatte, selbst einmal Bäuerin zu werden. Bis dann die junge Schnalle ins Haus gekommen war. Das hat er nun davon, der Idiot!

Hektisch ließ Josefa den Rosenkranz durch die rissigen Finger gleiten. Als auch das nichts half, stand sie auf, stieg im Dunklen die Stiege hinunter und füllte der getigerten Katze, die in zehnter oder elfter Generation zum Hof gehörte, noch etwas Milch in die Schale vor der Tür.

Als der Tag im Osten grau anbrach, trieben Wolken über den Geißschädel. Als Korbinian kurz darauf den warmen Mist aus dem Stall fuhr und vom Schubkarren kippte, hatten sie sich aufgelöst, und der Himmel versprach klar und blau zu werden. Noch vor dem Waschen und Haareflechten zog Vroni das kleine Mädchen vor die Tür. Es war ausgerechnet der Tag des Heiligen Ludwig, der Namenspatron des toten Bauern, und es tropfte. Pling, plang, dong.

»Hörst du’s Rosl, hörst du’s?«

Das Rosl nickte. Auf dem kleinen flachen Antlitz erschien ein zutrauliches Lächeln, das Vroni von keinem anderen Gesicht kannte. Kinder wie das Rosl gab es in fast jedem der umliegenden Dörfer. Mal behandelte man sie besser, mal schlechter. Meistens starben sie, bevor sie erwachsen wurden.

»Schön, Rosl, gell!

»Arg schön.«

Obwohl es von unten kalt hochzog, setzten sich die beiden auf die Bank an der Hauswand. Aneinandergekuschelt lauschten sie mindestens eine Viertelstunde.

Pling, plang, dong.

Es tropfte vom Überstand des Schindeldaches. Es tropfte vom Balkon, der über ihren Köpfen so schief hing, dass eine Walnuss ohne menschliches Zutun von der einen zur anderen Seite gekullert wäre. Es tropfte von den mächtigen Ästen des Bergahorns, sogar von einem zerrupften Reisigbesen, der mit den Borsten nach oben gegen den Brunnen lehnte, tropfte es. Jeder Tropfen, der sich von den alten Schneemassen löste, zerplatzte auf der weichen Erde, einem Stein oder in einer Pfütze mit einem anderen jauchzenden Ton. Pling, plang, dong.

Vroni schloss die Augen. Was, wenn die genossenschaftliche Molkerei nicht genug bezahlte? Der Blitz in einen Heustadel schlug? Ein Stierkalb stand im Stall und musste verkauft werden. Wie viel konnte sie dafür von Johann Wackerle, dem Viehhändler verlangen? Wie viel muss ich verlangen? Überlegungen, die in den Winterwochen eingefroren gewesen waren, tauten jetzt ebenfalls auf. Vroni sinnierte und rechnete. Der Bauer hatte alles gewusst, aber mit seiner jungen Bäuerin nie besprochen.

Sonnenstrahlen legten sich auf Vronis Gesicht, das Rosl gähnte, und der Speichelfaden aus seinem Mund schuf einen nassen, nahezu kreisrunden Fleck auf dem Mieder seiner Stiefmutter. Mit anhaltenden heiseren Schreien flogen drei Krähen seitlich am Hof vorbei und ließen sich nieder. Im Tal herrschte bereits Frühling, auf dem Geißschädel begann er erst.

Niemand wusste, wann genau der Hof auf der Anhöhe ursprünglich gebaut worden war. Er war nach Süden ausgerichtet, zum Karwendel hin. Im Osten gingen die buckeligen Wiesen des Plateaus allmählich in ein mit scharfen rotbraunen Gräsern eingewachsenes Hochmoor über, im Westen und Norden schützte ein dunkles Dickicht aus Föhren, Fichten und vereinzelten Lärchen das Gehöft.

Die einzige Verbindung zur Außenwelt war ein mehr schlecht als recht befestigter Ziehweg, der in sanften Schwüngen hinunter in die Ebene des Isartals mäanderte und dann gleich wieder einen lächerlich kleinen Hügel hinauf, auf dem die Höfe, die Kirche und das Wirtshaus von Loisbichl beieinanderhockten. Nach Loisbichl war vor Kurzem eine richtige Straße gebaut worden. Sie verband das Dorf in der einen Richtung mit Krün und Wallgau und in der anderen mit Klais, wo sich die Straße gabelte und südwärts nach Mittenwald und Tirol führte und nördlich nach Partenkirchen, Garmisch, Murnau und weiter in die Residenzstadt des bayerischen Königreichs und von dort ins große deutsche Kaiserreich.

Wollten die Graseggerleute also in die Welt hinaus, mussten sie den beträchtlichen Umweg über Loisbichl nehmen, denn der direkte und viel kürzere Weg hinunter zum Wagenbruchsee und durch den Weiler Gerold nach Partenkirchen war vor Jahrzehnten vom Dickicht verschluckt worden. Warum man ihn nicht freigehalten hatte, wusste niemand mehr, nicht einmal der Onkel. Vronis Finger wanderten kraulend über Rosls Hinterkopf. Wie um Himmels Willen soll ich den Wald am rentabelsten bewirtschaften? Den Wald am Walchenseeufer hatte der Bauer von seinem Onkel gegen lebenslange Kost und Logis überschrieben bekommen. Vroni war nur ein einziges Mal mit dort gewesen, hatte sich aber nicht in die unbekannte Dämmerung hineingetraut, sondern nur am hellen Rand Totholz gesammelt, während die Männer Bäume fällten. Wann genau soll ich mit der Heumahd beginnen?

Vroni schlang ihre Arme fester um das kleine Wesen neben sich und wiegte es im Rhythmus der Tropfmusik. Jetzt hatte sie die alleinige Verantwortung für dieses Kind, den Onkel und das Vieh. Heimliches Glück und Sorge lagen auf einmal so dicht beieinander wie die bemoosten Steinbrocken auf den Schindeldächern.

Irgendwo im hintersten Winkel der Scheune schlug etwas metallisch. Die drei Krähen, die für eine Weile auf den noch braunen Buckelwiesen herumgepickt hatten, flogen hoch und zurück ins Dickicht.

Der Berg fläzte sich massig, grau und weiß gefleckt vor Vroni. Das Karwendel sei wie alle anderen Berge im Werdenfelser Land und die Erdkugel überhaupt vor sechstausend Jahren vom Herrgott erschaffen worden, predigte der Pfarrer drunten in Loisbichl. Korbinian behauptete allerdings, solchen Blödsinn verzapften heutzutage nur noch Pfaffen. »Unser Planet«, hatte er Vroni beiläufig mitgeteilt, kurz nachdem sie auf dem Hof eingezogen war, »unser Planeeet ist in Wahrheit älter. Sehr viel älter sogar, Millionen Jahre, der Berg auch.« Absichtlich hatte Korbinian das E am Ende des Wortes sehr hochdeutsch und sehr lang gezogen gesprochen, aber vor allem seine kornblumenblauen Augen, deren Iris von einem besonders klaren Weiß umgeben war, hatten Vroni mit ihrer Seelenruhe vom Wahrheitsgehalt der Behauptung überzeugt.

Es wird sich schon alles finden, sagte sich Vroni, auch der richtige Preis für Kälber und geschlagene Bäume. Noch einmal schloss sie genüsslich die Augen. Wenn mich der Bauer bei so einer Faulenzerei ertappt hätte … Die Wärme auf dem Gesicht, die sich so viel besser anfühlte als die vom Herd und auch anders roch, wanderte hinunter in Vronis Bauch und breitete sich aus. Es überkam sie ein großes Verlangen, sich auf der Stelle auszuziehen und die nässende Wunde an der linken Hüfte von der Sonne bescheinen zu lassen. Vroni schlug die Augen wieder auf. Helle Punkte tanzten vor ihren Augen, und der Himmel erschien grellrosa. Erst dann bemerkte sie, dass das Rosl mittlerweile aufgestanden war und auf Zehenspitzen und mit ausgestreckter Zunge dort stand, wo der Dachüberstand am weitesten herunterragte. Plang, dong, pling.

Jeder zweite Tropfen wurde aufgefangen und verschluckt. Lachend schaute Vroni eine Weile zu und vergaß darüber all ihre Wunden und Schmerzen.

»Komm, Rosl, gehen wir jetzt rein und machen gescheit Brotzeit. Nicht nur Wasser.«

»Brot, Brot machen«, antwortete das Kind fröhlich. Aber so verschwommen, dass es außer Vroni niemand...

Erscheint lt. Verlag 24.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Acht Berge • Bauernleben • Bergbäuerin • Bergland • Das Leben meiner Mutter • Das Mädchen mit dem Perlenohrring • Die Bagage • eBooks • Herbstmilch • Heuernte • Hintertristerweiher • Historische Romane • Historischer Roman • Jarka Kubsova • Joseph Vilsmaier • Karwendel • König Ludwig II • Landleben • Malerei des 19. Jahrhunderts • Malerei des Realismus • Monika Helfer • Nature writing • neuer heimatroman • Neuerscheinung • Nicola Förg • Oskar Maria Graf • Rama Dama • Werdenfelser Land • Wilhelm Leibl
ISBN-10 3-641-29590-4 / 3641295904
ISBN-13 978-3-641-29590-5 / 9783641295905
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