Auf hoher See/Striptease (eBook)
80 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61079-6 (ISBN)
Slawomir Mrozek, geboren 1930 in Borzecin bei Krakau, studierte Architektur, Kunstgeschichte und Orientalistik. In Polen war er zunächst als Karikaturist erfolgreich, bevor er als Schriftsteller in Erscheinung trat. 1957 erschien sein erstes Buch mit satirischen Erzählungen. Es folgten seine Stücke (darunter ?Tango?, ?Emigranten?, ?Polizei?, ?Striptease?), mit denen er Weltruhm erlangte. In Deutschland gehören sie zu den meistgespielten Theaterstücken überhaupt. 1962 verließ er Polen und beantragte 1968, als Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings, in Frankreich politisches Asyl. Nach langen Jahren in Paris und später in Mexiko kehrte er 1996 in seine Heimatstadt Krakau zurück. Die letzten Jahre lebte er in Nizza, wo er 2013 verstarb.
Slawomir Mrozek, geboren 1930 in Borzecin bei Krakau, studierte Architektur, Kunstgeschichte und Orientalistik. In Polen war er zunächst als Karikaturist erfolgreich, bevor er als Schriftsteller in Erscheinung trat. 1957 erschien sein erstes Buch mit satirischen Erzählungen. Es folgten seine Stücke (darunter ›Tango‹, ›Emigranten‹, ›Polizei‹, ›Striptease‹), mit denen er Weltruhm erlangte. In Deutschland gehören sie zu den meistgespielten Theaterstücken überhaupt. 1962 verließ er Polen und beantragte 1968, als Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings, in Frankreich politisches Asyl. Nach langen Jahren in Paris und später in Mexiko kehrte er 1996 in seine Heimatstadt Krakau zurück. Die letzten Jahre lebte er in Nizza, wo er 2013 verstarb.
Schauspiel in einem Akt
Der dicke Schiffbrüchige
Der mittlere Schiffbrüchige
Der schmächtige Schiffbrüchige
Ein Briefträger
Ein Lakai
Die Handlung vollzieht sich in einem Akt bei gleichbleibender Dekoration. Die Bühne stellt ein Floß auf hoher See dar. Die drei Schiffbrüchigen tragen elegante schwarze Anzüge, weiße Hemden, korrekt gebundene Krawatten. Aus den Brusttaschen ihrer Jacken schauen die Ecken weißer Tüchlein. Die Schiffbrüchigen sitzen auf drei Stühlen. Außerdem befindet sich auf dem Floß ein großer Koffer.
DER DICKE
Ich habe Hunger.
DER MITTLERE
Ich würde gern etwas essen.
DER SCHMÄCHTIGE
Sind die Vorräte zu Ende?
DER DICKE
Die Vorräte sind völlig erschöpft. Es ist nicht das geringste übriggeblieben.
DER SCHMÄCHTIGE
Ich dachte, ein bißchen Kalbfleisch mit Erbsen müßte noch da sein.
DER DICKE
Nichts ist übriggeblieben.
DER MITTLERE
Essen!
DER SCHMÄCHTIGE
Ich könnte auch etwas vertragen.
DER DICKE
Etwas? Seien Sie doch realistisch …
DER MITTLERE
Mir ist schon alles gleich.
DER SCHMÄCHTIGE
Sie haben doch selbst gesagt, daß die Vorräte erschöpft sind. Was meinten Sie also?
DER DICKE
Wir müssen essen, aber nicht etwas, sondern jemanden.
DER MITTLERE
schaut nach rechts, nach links und hinter sich. Ich sehe keinen.
DER SCHMÄCHTIGE
Ich sehe auch niemanden, abgesehen von … Bricht plötzlich ab. Pause.
DER DICKE
Wir müssen einen von uns essen.
DER MITTLERE
Essen wir doch einen.
DER SCHMÄCHTIGE
eilig zustimmend Ja, ja, essen wir einen auf.
DER DICKE
Meine Herren, wir sind doch schließlich keine Kinder. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir nicht alle gleichzeitig rufen können: »Essen wir doch!« In dieser Lage muß einer von uns sagen: »Bitte sehr, meine Herren, bedienen Sie sich.«
DER MITTLERE
Wer?
DER SCHMÄCHTIGE
Wer?
DER DICKE
Eben das wollte ich Sie fragen.
Betretenes Schweigen.
Ich appelliere an Ihren Kameradschaftsgeist, an Ihre gute Erziehung.
DER MITTLERE
zeigt plötzlich in die Luft, als ob ihn dort etwas sehr interessierte. Da fliegt eine Möwe, eine Möwe!
DER SCHMÄCHTIGE
Vielleicht ist das nicht fein, was ich jetzt sage, aber ich muß gestehen, daß ich schrecklich egoistisch bin. Schon in der Volksschule habe ich mein Vesperbrot immer allein aufgegessen.
DER DICKE
Das ist gar nicht schön … Aber wenn nichts anderes übrigbleibt, müssen wir losen.
DER MITTLERE
Ausgezeichnet!
DER SCHMÄCHTIGE
Das ist die beste Lösung.
DER DICKE
Die Auslosung vollzieht sich nach folgendem System. Einer der Herren nennt irgendeine Zahl. Dann nennt der zweite eine andere Zahl. Am Schluß nenne ich auch eine Zahl. Wenn dann die Summe der drei Zahlen ungerade ist, fällt das Los auf mich, und das heißt, ich werde gegessen. Sollte die Summe jedoch eine gerade Zahl sein, wird einer von Ihnen gegessen.
DER MITTLERE
Nein, ich bin eigentlich ein Gegner von Glücksspielen.
DER SCHMÄCHTIGE
Und wenn Sie sich vertun, was dann?
DER DICKE
Sie haben kein Vertrauen zu mir. Schade!
DER MITTLERE
Suchen wir einen besseren Ausweg, wir sind schließlich zivilisierte Menschen. Das Los ist ein Überbleibsel finsterer Zeiten.
DER SCHMÄCHTIGE
Ein vulgärer Aberglaube.
DER DICKE
Gut, führen wir also freie und allgemeine Wahlen durch!
DER MITTLERE
Keine schlechte Idee! Zum Dicken Wenn es Ihnen recht ist, bilden wir beide eine Wählergemeinschaft, einen Block. Das vereinfacht die ganze Sache.
DER SCHMÄCHTIGE
Der Parlamentarismus hat sich überlebt.
DER DICKE
Aber es bleibt kein anderer Weg. Oder wollen Sie eine Diktatur? Ich würde mich bereit erklären, die Macht zu ergreifen.
DER SCHMÄCHTIGE
Nein, nein! Nieder mit der Tyrannei!
DER DICKE
Also, freie Wahlen!
DER MITTLERE
Geheime!
DER SCHMÄCHTIGE
Aber ohne Wahlbündnisse! Jeder stellt sich selbständig als Gegenkandidat auf.
DER DICKE
steht auf und nimmt aus dem Koffer einen Zylinder. Hier ist ein Hut. Die Karten mit dem Namen des Kandidaten kommen hier hinein.
DER SCHMÄCHTIGE
Ich habe nichts zum Schreiben.
DER MITTLERE
Wir helfen Ihnen gerne aus.
DER DICKE
einen Füllfederhalter aus der Tasche ziehend Bitte sehr!
DER MITTLERE
sich die Hände reibend Zur Urne! Zur Urne!
DER SCHMÄCHTIGE
Einen Augenblick! Wenn wir schon als moderne Menschen eine Wahl veranstalten, dann können wir die vorausgehende Etappe des Wahlkampfes nicht überspringen. Sie kommt in der ganzen zivilisierten Welt vor dem eigentlichen Wahlakt.
DER DICKE
Wenn Sie unbedingt wollen!
DER MITTLERE
Agitieren wir also, aber machen wir schnell!
DER DICKE
steht auf, stellt einen Stuhl in die Mitte des Floßes. Die Versammlung ist eröffnet! Wer tritt als erster ans Rednerpult?
DER MITTLERE
zum Schmächtigen Vielleicht Sie?
DER SCHMÄCHTIGE
Ich möchte lieber anschließend … Ich war nie ein guter Redner.
DER DICKE
Aber Sie sind der Urheber des Projekts.
DER MITTLERE
Ja, Sie haben den Massen dieses Versammlungen-Abhalten, diese Politikasterei eingeredet. Nun müssen Sie auch den Anfang machen.
DER SCHMÄCHTIGE
Wenn Sie unbedingt wollen …
Stellt sich auf den als Rednerpult dienenden Stuhl. Die beiden anderen Schiffbrüchigen nehmen vor ihm Aufstellung. Der Dicke zieht ein mit zwei Stäben versehenes Transparent aus der Tasche und reicht ein Ende dem Mittleren. Sie entfalten das Transparent über ihren Köpfen. Die Aufschrift lautet: »Wir wollen essen«.
Hm … meine Herren!
DER MITTLERE
ihn unterbrechend Wir sind einfache Menschen. Wir wollen keine Schmeicheleien hören …
DER DICKE
Sehr richtig! Nieder mit den zuckersüßen Worten! Wir wollen die nackte Wahrheit hören …
DER SCHMÄCHTIGE
Kollegen, wir haben uns hier versammelt …
DER MITTLERE
Zur Sache!
DER DICKE
Wir müssen an die Arbeit.
DER SCHMÄCHTIGE
Wir haben uns hier versammelt, um das brennende Problem...
Erscheint lt. Verlag | 27.4.2022 |
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Übersetzer | Ludwig Zimmerer |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Anthologie • Drama • Dramen • Einakter • Kannibalismus • Lüge • Meer • Polen • Sammlung • Schiffbruch • Schiffbrüchige • See • Theaterstück • Überleben • Überzeugungskraft |
ISBN-10 | 3-257-61079-3 / 3257610793 |
ISBN-13 | 978-3-257-61079-6 / 9783257610796 |
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