Trottel (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
400 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30246-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Trottel -  Jan Faktor
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Von der Prager Vorhölle, einer schicksalhaften Ohnmacht, einem Sprung und dem seltsamen Trost von Chicorée. Mit »Trottel« ist Jan Faktor ein wunderbar verspielter, funkelnder, immer wieder auch düsterer, anarchischer Schelmenroman gelungen. Im Mittelpunkt: ein eigensinniger Erzähler, Schriftsteller, gebürtiger Tscheche und begnadeter Trottel, und die Erinnerung an ein Leben, in dem immer alles anders kam, als gedacht. Und so durchzieht diesen Rückblick von Beginn an auch eine dunkle Spur: die des »engelhaften« Sohnes, der mit dreiunddreißig Jahren den Suizid wählen und dessen früher Tod alles aus den Angeln heben wird. Ihren Anfang nimmt die Geschichte des Trottels dabei in Prag, nach dem sowjetischen Einmarsch. Auf den Rat einer Tante hin studiert der Jungtrottel Informatik, hält aber nicht lange durch. Dafür macht er erste groteske Erfahrungen mit der Liebe, langweilt sich in einem Büro für Lügenstatistiken und fährt schließlich Armeebrötchen aus. Nach einer denkwürdigen Begegnung mit der »Teutonenhorde«, zu der auch seine spätere Frau gehört, »emigriert« er nach Ostberlin, taucht ein in die schräge, politische Undergroundszene vom Prenzlauer Berg, gründet eine Familie, stattet seine besetzte Wohnung gegen alle Regeln der Kunst mit einer Badewanne aus, wundert sich über die »ideologisch morphinisierte« DDR, die Wende und entdeckt schließlich seine Leidenschaft für Rammstein.

Jan Faktor, 1951 in Prag geboren, 1978 Übersiedlung nach Ostberlin. Arbeit als Kinder­gärtner und Schlosser. Entdeckt in den 80er-Jahren das »Rückläufige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache« für die experimentelle Dichtung. Bis 1989 fast ausschließlich in der inoffiziellen Literatur­szene engagiert. 1989/90 Mitbegründer der Zeitung des Neuen Forums.

Jan Faktor, 1951 in Prag geboren, 1978 Übersiedlung nach Ostberlin. Arbeit als Kinder­gärtner und Schlosser. Entdeckt in den 80er-Jahren das »Rückläufige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache« für die experimentelle Dichtung. Bis 1989 fast ausschließlich in der inoffiziellen Literatur­szene engagiert. 1989/90 Mitbegründer der Zeitung des Neuen Forums.

Inhaltsverzeichnis

Mein Gaskrieg, der Anfang [2]


Natürlich würde ich meine Geschichte gern etwas übersichtlicher erzählen als so, wie es mich meine aktuellen Notate vorfürchten lassen. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich ganz pingelige Regeln für die Aufbewahrung aller meiner, wie man heute sagt, personenbezogenen -lassenschaften hatte; das heißt aller meiner Dokumente, amtlicher und technischer Unterlagen und so weiter. Ich hielt also in allen Schächtelchen mit den unterschiedlichsten Zetteln, Karteikarten und Schnipseln, also praktisch in allem, was mir wichtig war, eine strenge zeit- wie auch raumsystematische Ordnung. Ich versuchte einfach, meiner Begrenztheit, so gut es ging, entgegenzusteuern. Inzwischen herrscht um mich herum relativ viel Chaos, und meine Geschichte lässt sich sowieso – wenn überhaupt – nur auf eine abanale Weise achronal erzählen. Anders ausgedrückt: Mehr zappelig als in Grenzen wohl.[7]

Wenn einer meint, Lebensläufe würden dank einer Verkettung von mehr oder weniger frei gefällten und begründbaren Entschlüssen zusammengehalten, weiß ich nicht, wo er lebt. Oft gönnt man sich irgendwo nur einen Tick mehr Zeit und verpasst eine Von-bis-Spanne, in der man eine Weiche noch hätte umstellen und dauerhaft verkeilen können. Man rennt los, geradeaus oder schräg zur Seite, gern auch gegen etwas Gemauertes. Ich habe in Prag angefangen, etwas zu studieren, es nach dem Abitur also kurzzeitig geschafft, auf dem Bildungsweg einen Schritt voranzukommen. Mitten im Sozialismus und in Schussweite russischer Granatwerfer, Luftabwehrkanonen und propagandistischer Nebelgranaten. Das muss man sich erst einmal vorstellen, auch wenn dies – unter uns – nicht alles stimmt. Mir wird schlecht, wenn ich heute an meine mir damals theoretisch offenstehenden sozialistischen Perspektiven denke. Die Luftabwehrkanonen standen nach dem Einmarsch von 1968 noch eine ganze Weile auf dem Altstädter Ring, gleichmäßig in einem Kreis angeordnet, und ich sehe sie dort manchmal noch heute – trotz der vielen Touristen, Souvenirbuden und kotabwerfenden Kutschenpferde. Da mir von einer meiner Tanten rechtzeitig eingeredet worden war, die Zukunft würde auch in unserem besetzten Land den Computern gehören, wählte ich ein Studium, das vor allem mit Mathematik und kopflosen Maschinen zu tun haben würde. Wie recht meine Tante hatte und wie grandios sie sich gleichzeitig in mir geirrt hatte! Ich studierte diese tatsächlich früchtetragende und sich dauerhaft selbst besamende Digitalwissenschaft aber nicht elitär bei den intelligenten Mathematikern, sondern dummerweise bei den perspektivisch zum totalen Scheitern verurteilten Ökonomen, was mein studentisches Leben noch grauenhafter machte, als es in der damaligen Situation hätte sein müssen. Ich war also dabei, nicht einfach nur ein Programmierer, sondern außerdem ein sozialistischer Ökonom zu werden – das heißt ein philosophoider Marxist, doppelbödiger Buchführungsspezi und Lügenstatistiker. Geschichte der geschickten Arbeiterbewegung, hieß eine der wichtigsten Vorlesungsreihen. Ein anderer Themenkomplex hieß: Erstarrt menschenbenebelnde Preismissbildung im Sozialismus. Der nächste: Die Partei und ihre akzeptanzsteigernden Maßnahmen für die primäre Disziplinakkumulation des Zappelproletariats[8] und für den gemütlichen familienzentrierten Balkongemüseanbau, oder: Die führende Rolle der KPdSU bei der Berechnung des Toilettenpapierbedarfs der befreundeten Bruderstaaten im alltäglichen Katastrophenmodus … So reichhaltig und abwechslungsreich waren die Themen, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Da mir das Studium und außerdem die anderen Bekloppten, die sich der vorgezeichneten ökonomischen Rettungsonanie verschrieben hatten, zuwider waren, wurde ich gleich zu Beginn meiner studentischen Karriere beinah zum Alkoholiker. Die Innenstadt von Prag ist klein, und ich war nach den drei oder vier Doppelstunden im vollgepferchten Unigebäude nicht in der Lage, in eine Straßenbahn zu steigen, wo die nächsten Verklumpungen von Menschen bereit waren, sich auf den zickzackig liegenden Schienen schütteln und in den Kurven die Körperneigerichtung diktieren zu lassen. So ging ich einfach zu Fuß nach Hause, quer durch die ganze Innenstadt. Und ausgerechnet damals wurden dort kleine Weinschenken eröffnet, was sicher kein Zufall war. Die unzähligen Bierkneipen reichten zur Ruhigstellung der Bevölkerung inzwischen nicht mehr aus. »Wir stellen dem Volk Opiate in ausreichenden Mengen und in ausgezeichneter Qualität zur Verfügung!«, stand auf großen Plakaten, wenn ich mich nicht irre. Warum erzähle ich jetzt aber nicht lieber von einigen meiner warmherzigen Verwandten oder anderen Mitmenschen von damals? Oder konkret zum Beispiel von der Unantastbarkeit ihrer mit ihnen verstorbenen Gefühle? Gerade dank dieser mir nahen, herrlichen und trotz aller Widrigkeiten optimistischen Menschen bin ich doch der geworden, der ich bin. Einfach nur liebenswürdig und zartfühlend bin ich aber natürlich nicht. Neulich stand ich in Triest vor einer leider aufgegebenen Filiale des Café Hausbrandt und dachte gleich als Erstes: Café Hausbrand, Berghotel Erdrutsch, Eigenheim Kellervollscheiße. Zum Glück ist meine Frau ein ausgesprochen reizendes, tolerantes und hilfsbereites Wesen und gleicht immer wieder einiges aus – oder wischt dies und jenes mit einem nassen Lappen weg. Und ruft bei Bedarf notfalls in die Menge: So blöd ist er gar nicht! Und ich hatte im Leben sowieso auch noch andere tatkräftige Kurskorrektoren und Mahner an meiner Seite, die mich – wie ich wusste – schon vor dem Schlimmsten bewahren würden.

Die Prager Weinschenken zum Standsaufen waren schlicht, aber rustikal eingerichtet, hatten in der Regel nur einen Raum, und die stillen Saftlutscher, die sich dort tagsüber einfanden, verbrachten beim Nippen an ihren Weingläsern nicht übermäßig viel Zeit. Hinter dem Tresen lagerten gut sichtbar einige mittelgroße Weinfässer, und aus den in sie eingerammten Zapfhähnen tropfte es pausenlos. Dementsprechend entsetzlich roch es dort immer. Aber nicht einfach nur säuerlich nach Wein, sondern nach Breitbandzersetzung durch freie Weinradikale und durch die wahrscheinlich eher nachtaktive Spaltkeilsäure. Und haben diesen Geruch vielleicht dann noch irgendwelche Tannine in eine instabile Seitenlage gebracht? Natürlich wurde die Geruchsblume dieser Stuben auch dank schlichter Holzfäulnis, vielleicht auch dank der wenig schlichten Kotabwürfe besoffener Ratten und ihrer mitsaufenden Milben und Flöhe anfermentiert, abgerundet, nachgegart und rundverekelt. Man trank also nur schnell sein Gläschen und musste sich dort nicht wie in den Bierkneipen länger aufhalten, um das geschluckte Kohlendioxid abzurülpsen. Mein Nachhauseweg war tröstlich, auch die politische Situation fühlte sich bald etwas erträglicher an; und in der nächsten Schenke kostete ich einen anderen nachokkupatorischen, möglicherweise aber sogar noch vorokkupatorischen Jahrgang.

Ich mag bis heute keine verklemmten Menschen, verklemmte Menschen machen mich sofort verklemmter, als ich es inzwischen sein dürfte. Sie erinnern mich an viele meiner Zustände von früher, und ich bekomme im Beisein solcher Atemgenossen sogar eine piepsige Stimme. Und dann diese Schwere in der Brust! Aber eigentlich verlagerte sich mein Schweregefühl damals nach und nach eher in meine Magengegend. Mich beherrschte regelrecht die Vorstellung, dass das ganze Essen, das ich in mich in einem vier- bis fünfstündigen Rhythmus reinstopfte, sich in mir regelrecht stauen würde – und war davon überzeugt, immer mehr Ballast durch die Gegend zu schleppen. In mir steckten sehr viel Wut und Widerwillen, zum Glück aber auch die hinterwäldlerische Hoffnung, auf dem heimatlichen Fleckchen Erde später doch einen Ort für mich zu finden; und ich nahm dabei an, irgendwann im Leben – egal wie langsam – die in mir stecken gebliebenen Ballastladungen wieder loszuwerden. Mittlerweile weiß ich medizinisch über dies und jenes etwas besser Bescheid. Ich weiß zum Beispiel, dass die Legionen der bakteriellen Darmbewohner ein Trockendrittel der Ausscheidungsmasse ausmachen – gemeint sind hier die reinen Zellenbodys der Bakterien, ihrer ganzen Stämme und Familien, ob lebendig oder längst tot. Und nach getaner Arbeit sowieso bereits im Zerfall begriffen. Das zweite Trockendrittel der braunen Masse besteht aus nicht verdaulichen Ballaststoffen. Und der allerletzte Rest setzt sich einfach aus Materialien zusammen, die der Körper absolut nicht mehr gebrauchen konnte – dazu gehören zum Beispiel auch alle abgestorbenen, nun also abzustoßenden Zellen aus dem gesamten Körpergebiet. Also alles, was nicht ausgespuckt, ausgerotzt, ausgekotzt, ausgeweint, ausgepisst, ausgeblutet oder als Eiter ausgedrückt – also nicht anders entkloakisiert – werden konnte. Zur Beruhigung sollte man sich aber Folgendes klarmachen: Drei Viertel der Gesamtmasse ist einfach reines Wasser. Irgendwann im vorigen Jahrhundert sagte Bert Papenfuß zu mir: Die Natur hat uns einen gewaltigen Verdauungsauftrag übergebraten, ans Werk! Das Folgende weiß inzwischen fast jeder: Zwischen Böhmen und Mähren gibt es keine Mauer, die Grenze definiert eher die Dominanz des Bier- beziehungsweise Weinkonsums. Verlassen wir uns, hinterlassen wir Dreck, taufrisch – verkündete mein Freund Bert Mitte der Achtzigerjahre dann auch noch.

Trotz des täglichen Weinkonsums war es...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70er Jahre • 80er Jahre • Autobiographisch • Bohème-Szene • Familiengeschichte • Georgs Sorgen um die Zukunft • Longlist Deutscher Buchpreis 2022 • Ost-Berlin • Ost-Punk-Milieu • Prenzlauer Berg • Schelmenroman • Suizid • Tod
ISBN-10 3-462-30246-9 / 3462302469
ISBN-13 978-3-462-30246-2 / 9783462302462
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