Freizeit (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30405-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Freizeit -  Carla Kaspari
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Hinter Franziska liegen zwei Jahre in Paris und eine auf erwachsene Art beendete Beziehung. In Sachen Selbstverwirklichung steht sie gut da - abgeschlossenes Studium, solides Einkommen, gesundes Sozialleben, untrügliches Stilempfinden - und doch scheint etwas zu fehlen.  Auf der Suche nach der verlorenen Leichtigkeit sitzt sie in Cafés, arbeitet Aufträge ab, treibt Sport und trifft ihre Freund:innen. Um sie herum prallen Lebensentwürfe aufeinander, Stadtflucht und reflektierter Drogenkonsum, authentische Social-Media-Profile und künstlich beschworene Zwischenmenschlichkeit. Franziska beobachtet die Ambivalenzen ihrer Gegenwart ungerührt und schreibt darüber aus sicherer Distanz in einem Romanmanuskript - bis ein unabgeschlossenes Kapitel sie mit großer Wucht einholt. Mit feinem Humor und einer präzisen Sprache beschreibt Carla Kaspari ein Milieu, ohne ihre Protagonist:innen vorzuführen, aber auch ohne auf sie hereinzufallen.

Carla Kaspari, geboren 1991, hat in Bonn und Paris Literatur- und Musikwissenschaft studiert. Sie lebt in Köln und arbeitet als freie Autorin. Ihre Texte erscheinen in unterschiedlichen Publikationen und Formaten. 

Carla Kaspari, geboren 1991, hat in Bonn und Paris Literatur- und Musikwissenschaft studiert. Sie lebt in Köln und arbeitet als freie Autorin. Ihre Texte erscheinen in unterschiedlichen Publikationen und Formaten. 

Drei


»Marlburro, Marlburro.« Das sonore Murmeln, mit dem die Zigaretten-Dealer um die Metrostation Barbès–Rochechouart ihre Ware bewerben, stimmt Franziska wie jeden Morgen auf unbestimmte Weise froh. Bevor sie gegen acht Uhr dreißig das Appartement im 18. Arrondissement das letzte Mal verließ, hatte sie die Schlüssel auf den Esstisch gelegt und kurz überlegt, ob sie noch einen Zettel dazu schreiben sollte. Ein kurzer Satz, irgendetwas Sentimentales, vielleicht sogar etwas Versöhnliches. »Danke für die schöne Zeit.«

Franziska hatte nichts geschrieben.

Seitdem sind acht Minuten vergangen. In diesen acht Minuten hat Franziska drei Mal die Luft angehalten, als sie die Halal-Metzgereien mit roten Markisen in ihrer Straße passiert hat, deren Thekenauslagen in der Morgensonne mit verschiedenen Innereien befüllt wurden. Das beige wabbelige Fleisch war unvorteilhaft in die beschlagenen Vitrinen gequollen. Wenn sie die Luft nicht angehalten hätte, hätte es so gerochen, wie Franziska sich den Geruch einer Leiche vorstellt, die schon etwas länger liegt. Die ersten Male war ihr von diesem Geruch so schlecht geworden, dass sie sich wahrscheinlich übergeben hätte, hätte sie schon etwas im Magen gehabt. Auch wenn sie es von sich selbst lächerlich gefunden hatte, hatte sich Franziska in Paris dem Klischee entsprechend angewöhnt, zum Frühstück nur Kaffee zu sich zu nehmen.

Die Frauen in Trachten aus buntem African Wax hatten gerade begonnen, sich auf den Bürgersteigen des Goutte d’Or einzurichten, um dort bis zum späten Nachmittag derb und kraftvoll »Siss a zäng Öro« zu rufen. Fünf Euro wollten sie für sechs Knollen eines Gemüses, das aussah wie eine missgebildete Kreuzung aus Schwarzwurzel und Aubergine. Franziska wusste bis heute nicht, worum es sich genau handelte. Ihr kamen die Frauen seltsam unbeteiligt und gleichzeitig stark und respekteinflößend vor. Es war Franziska während der zwei Jahre undenkbar erschienen, mit ihnen zu sprechen.

Sie hatte den Verkäufer im Gemüsehandel an der Ecke gegrüßt, bei dem sie nur sehr selten und wenn, dann aus Verlegenheit etwas gekauft hatte, weil er so nett grüßte. Eigentlich war es hier wie überall in Paris zu teuer gewesen für Franziskas Verhältnisse. Ein Mann mit flatternder Krawatte war ihr entgegengekommen, der laut lachend »Projekte, Projekte« in seine weißen Airpods gesagt hatte.

Sie war an den Fischverkäufern der Rue des Poissonniers vorbeigelaufen, die gerade ihre fragil wirkenden Stände aufbauten. Sie hatte nicht umhingekonnt, entzückt zu sein über das Wasser, das in klaren, die Sonne reflektierenden Bächen durch die Rinnsteine des Viertels floss und sich hier an einer Eisscholle staute, auf der kurz zuvor eine Dorade transportiert worden war. Franziska hatte sich die Thekenauslage nie genauer angeschaut und nicht die geringste Ahnung von Fisch, aber sie hatte »Dorade« gegoogelt und fand, dass die Dorade aussah wie der klassische Fisch. Bestimmt verkauften sie hier den klassischen Fisch. Die Eisscholle schmolz nur langsam in der Sonne des klaren Morgens.

An der Ecke hatte sie innegehalten und zum Fenster hochgeschaut, hinter dem Malos Appartement lag. Sie hatte dazu an mehrere dunkelblaue, an den Seiten aufgerissene Nudelverpackungen der Marke Barilla auf dem Fensterbrett der kleinen Küche und genoppte Kondome gedacht.

Schnell war sie links auf den breiten, auch zu dieser Tageszeit trubeligen, aber verhältnismäßig ruhigen Boulevard Barbès eingebogen. Sie war den Gittern, durch die die warme, süßliche Luft der Metroschächte auf den breiten Bürgersteig geblasen wird, ausgewichen. Wie immer hatte sie sich vorgestellt, dass an diesen Stellen die Stadt ausatmet.

Spätestens an einem der vom Ruß geschwärzten, zum Grill umfunktionierten Einkaufswagen, auf dem ein kleiner, verschlafener Mann die ersten Maiskolben des Tages röstete, hatte sich ihr eigener Atem wieder normalisiert. Sie hatte den Popcornduft tief durch die Nase gesogen, der sie für den Rest ihres Lebens an das größte Kino ihrer mittelgroßen Heimatstadt und darüber hinaus einzig an den Pariser Norden erinnern würde.

»Marlburro, Marlburro.« Als sie acht Minuten später an der Kreuzung kurz vor der Metrostation steht, kontrolliert Franziska also aus Reflex ihre Taschen. Normalerweise stehen die Dealer hier sehr dicht und hier klauen sie. Zu dieser Tageszeit sind es nur ein paar einzelne Männer mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, die auch auf einen Bus warten könnten. Ihre morgendlich verquollenen Augen sind höchstens zu erahnen. Franziskas großer Reiserucksack drückt sein Gewicht orthopädisch korrekt auf ihre Hüften. Sie könnte die Metro der Linie 4 zum Nordbahnhof nehmen, entscheidet sich dann aber gegen die Enge und die Dunkelheit und mit dem Elan des neuen Tages dafür, das restliche Stück zu laufen. Hinter der Station wird es etwas leerer, Franziska lässt von ihren Taschen ab und entspannt ihre Schultern. Mit jedem Schritt wird das Murmeln der Dealer in ihrem Rücken leiser. Franziska hat den Eindruck, leichtfüßig über den Boulevard zu laufen. Bevor sie am Kreisverkehr links in die Rue de Dunkerque einbiegt, an der der Bahnhof liegt, kauft sie sich im Monoprix an der Ecke eine Packung carottes râpées und ein Baguette für den Weg. Seit sie nicht mehr frühstückte, hatte sich ihr Magen an ein pünktliches Mittagessen gewöhnt, und im Zug würde sie Hunger bekommen.

Die luftige Bahnhofshalle ist auf angenehme Weise mit Gesprächen gefüllt. In Franziskas Bauch breitet sich das prickelnde, feierliche Gefühl aus, das sie nur von Abreisetagen kennt. Sie denkt, dass sie sich in Bahnhöfen immer schon wohlgefühlt hatte: alternativlose Plätze, die zweckgebunden aufgesucht wurden, geordnete Hektik, wenig Zufall, kaum jemand kommt hier einfach so her.

Der Zug ist pünktlich und angenehm beheizt. Ein ausdrucksloser Mann hilft ihr dabei, ihren Rucksack auf die Gepäckablage zu heben. Erst kurz vor Brüssel, den Kopf in das samtrote harte Kissen des Sitzplatzes 74 in Wagen 22 gelegt, denkt Franziska, dass sie gerade vermutlich das hinter sich gelassen hat, was man einen Lebensabschnitt nennt. Sie wartet darauf, dass ihr Gehirn ihr die prägendsten Bilder der letzten zwei Jahre vor ihr inneres Auge projiziert oder sie zumindest ein nennenswertes Gefühl zu dieser Erkenntnis entwickelt. Als nichts dergleichen passiert, schickt sie ein Foto des Brüsseler Bahnhofs an Mehmet, auf dem das Schild »Bruxelles-Midi« zu erkennen ist. Weniger, weil sie Lust auf den Song hat, sondern eher, weil er so gut zur Situation passt, hört sie über ihre Airpods Bruxelles arrive, ein Lied des belgischen Rappers Roméo Elvis aus dem Jahr 2016, das es leider nur auf YouTube gibt. Franziska denkt an das Jahr 2016. Sie erinnert sich, dass sie am Abend der US-Präsidentschaftswahl mit Mina auf einer Art Wahlparty war, die an einer Kunsthochschule ausgerichtet wurde. Ein paar der anwesenden Studierenden hatten, sogar noch bevor das Ergebnis feststand, »Make America great again« gerufen und auf irgendeiner Metaebene mit Trump-Fähnchen gewunken. Damals war Ironie noch nicht ganz vorbei gewesen. Die Studierenden hatten Oberteile mit Rollkragen getragen und Sekt getrunken. Mina hatte die Augen verdreht und feststellend gesagt: »Wie traurig kann man sein.«

Franziska hatte ihr zugestimmt, obwohl sie das Verhalten der Studierenden zwar peinlich, aber längst nicht so abwegig gefunden hatte wie Mina. Sie schickt Mehmet auch noch den Song. Als ihr angenehm ruhiger Sitznachbar, ein untersetzter deutscher Mann mit Halbglatze, aufsteht, um auf die Toilette zu gehen, rückt auch Franziska seitlich aus der Sitzbank und reckt sich nach ihrem Rucksack in der Gepäckablage, um ihren Laptop zu holen. Sie kommt sich bei diesem Vorgang von den anderen Fahrgästen beobachtet und ungelenk vor. Ihr Nacken wird heiß. Zurück auf dem Fensterplatz stellt sie ihr MacBook auf den kleinen Klapptisch. Draußen zieht grünbraune Landschaft vorbei, von der Franziska sich sicher ist, sie nie zu betreten. Sie tippt:

In Mehmets Kopf zwirbelt es. Es fühlt sich an, als würden seine Schläfen aneinanderrücken und den frontalen Teil seines Hirns schraubstockartig zusammenquetschen. Mehmet denkt: Wieso likst du meine Bilder, aber folgst mir nicht, du Wichser? Eigentlich wäre schon vor zwei Stunden der richtige Moment gewesen, das iPhone wegzulegen. Seitdem hat er alle Instagram-Stories gesehen, vier davon selbst hochgeladen und drei Tweets abgesetzt. Mehmet googelt: »süchtig smartphone ab wieviel stunden«. Er kann sich nicht auf die Suchergebnisse konzentrieren. Mehmet aktualisiert, zieht den Bildschirm nach unten, noch mal, lässt ihn los, wiederholt das Ganze. Noch mal. Keine Notifications. Er sitzt auf dem zugeklappten Klodeckel und tippt auf das Profilbild von @_highleid, einem Account mit 115.768 Followern und blauem Haken. Die Unerträglichkeit der Welt liegt in diesem Blau. Das Bild vergrößert sich. Mehmet schaut abwechselnd in die blass-beigen Fliesen des fensterlosen Badezimmers und die ausdruckslosen Augen von @_highleid. Mehmet verlässt die Großansicht des Profilbilds wieder. Er hat keine Ahnung, wer der Mensch hinter dem Bild ist oder was er von ihm will, trotzdem denkt er manchmal vorm Einschlafen an den Account. Sein Feed besteht hauptsächlich aus nihilistischen Memes, die vor allem junge Leute im Internet lustig finden. Dazwischen ergeben ein paar Screenshots seiner und anderer Tweets ein kartiertes Muster, hin und wieder ein Selfie, auf jedem schaut @_highleid gleich...

Erscheint lt. Verlag 7.7.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beziehungen • @carlsparla • Debütromane 2022 • Debüt-Roman Kaspari • Dreiecksbeziehung • Erster Roman Kaspari • Freundschaft • Generation Y • Humor • Komik • Lebensentwurf • Lebensplanung • Millenials • Quarterlife Crisis • Roman über Millenials • Sinnkrise • Sophie Passmann • Studio Schmitt • zwischenmenschlich
ISBN-10 3-462-30405-4 / 3462304054
ISBN-13 978-3-462-30405-3 / 9783462304053
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