Töchter Haitis (eBook)

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2022 | 1. Auflage
288 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-28951-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Töchter Haitis -  Marie Vieux-Chauvet
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Exklusive Entdeckung der haitianischen Klassikerin des 20. Jahrhunderts: «Weltliteratur.» Libération
Port-au-Prince, Haiti, Anfang der 1940er Jahre. Die junge Lotus gehört der herrschenden «mulattischen» Gesellschaftsschicht an. Doch als Tochter einer Prostituierten ist sie stigmatisiert und hat für Männer nur Verachtung übrig. «Weil sie meine Mutter gestohlen haben, sind sie meine schlimmsten Feinde.» Sie führt ein Leben in Langeweile und zerstreut sich mit oberflächlichen Männerbekanntschaften. Unter ihnen ist nur einer, zu dem sie sich wirklich hingezogen fühlt: Georges Caprou, einer der Führer der Opposition gegen das herrschende Regime. Er öffnet Lotus die Augen für das Elend der Menschen in Haiti. Also gibt sie ihr ausschweifendes Leben auf, um den Ärmsten in ihrem Viertel zu helfen. Dabei wird sie von ihrem Nachbarn, dem alten Charles, unterstützt. Lotus und Caprou führen eine Beziehung mit Wechselbädern, die durch den revolutionären Kampf, dem sich Lotus angeschlossen hat, zusammengeschweißt wird. Die von ihnen entfachten Unruhen führen zum Sturz der Regierung. Doch auf die Begeisterung folgt die Ernüchterung: Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet. Denn sobald sie von ihren Unterdrückern befreit sind, kehren die Menschen im Land zu ihren alten Dämonen zurück, der Rivalität zwischen Schwarzen und «Mulatten». Von der Polizei gejagt, verstecken sich Lotus und Caprou in den Bergen, wo sich die Ereignisse weiter zuspitzen ...

Schnörkellos erzählt, eindringlich, kraftvoll und ergreifend besticht Marie Vieux-Chauvet in «Töchter Haitis» durch ihre Weitsicht: 1957, drei Jahre nachdem sie diesen Roman schrieb, ergriff der blutrünstige Diktator Duvalier die Macht, wobei ihm die Konkurrenz von Schwarzen und «Mulatten» in die Hände spielte.

Marie Vieux-Chauvet (1916-1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren. Ihr Vater war haitianischer Politiker, die Mutter stammte von den ehemals spanischen, seit 1898 zu den Vereinigten Staaten gehörigen Jungferninseln. Sie besuchte die l'Annexe de l'École Normale d'Institutrices und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Kurz darauf heiratete sie Aymon Charlier, einen Arzt, ließ sich aber vier Jahre später scheiden. Ihren zweiten Mann, Pierre Chauvet, heiratete sie 1942. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman «Töchter Haitis» (Fille d'Haïti) erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l'Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten die Romane «Tanz auf dem Vulkan» (La Danse sur le Volcan, 1957) und «Wiedersehen in Fonds-des-Nègres» (Fonds des Nègres, 1960), für letzteren wurde sie mit dem Prix France-Antilles geehrt. Als François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie war einziges weibliches Mitglied in der haitianischen Autorenvereinigung «Les Araignées du Soir». Die Trilogie «Liebe, Wut, Wahnsinn» (Amour, Colère, Folie, 1969) erschien auf Fürsprache Simone de Beauvoirs. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr Mann alle in Haiti befindlichen Exemplare auf. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil gehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York. Dort schrieb sie auch ihren letzten Roman, «Die Raubvögel» (Les Rapaces), der 1971 erschien.

1

Ich heiße Lotus.

Der Name dieser orientalischen Blüte mag für eine Haitianerin zwar unpassend erscheinen, aber den Vorwurf richten Sie bitte an meine Mutter. Für mich ist es weniger ein Vorname, den ich trage, als eine Last, die ich mit mir herumschleppe, und notgedrungen finde ich mich ab mit dem unharmonischen Kontrast, den er zu meiner hellen Haut und meinem stark gelockten Haar bildet.

Ich wohne in einem der nach Bolosse hin gelegenen Viertel im Zentrum von Port-au-Prince.1 Ich lebe allein in einem zu großen Haus, auch dies ein Erbe meiner Mutter, das von zwei Bediensteten geführt wird. Mein Haus ist schön, mit seinem schmiedeeisernen Tor und dem großen Garten voller hoher, dicht beieinanderstehender Bäume. An manchen Tagen scheinen ihre in einem seltsamen Ringkampf verschlungenen Äste im Licht der Sonne irgendwelche wilden Schreie zu ersticken. Nachts, unter dem Sternenregen, sprenkeln goldene Tupfen die in schimmernden Glanz getauchten Blätter der Katappenbäume2, und in den nach oben hin auseinanderstrebenden Palmengruppen herrscht, da die Vögel schlafen, eine ohrenbetäubende Stille.

Hier in diesem Haus bin ich geboren. Mein altes Hausmädchen Maria, das offenbar der Hebamme dabei geholfen hatte, mich zu waschen, hat mir die Geschichte von meiner Ankunft in der Welt erzählt. Meinen Vater kenne ich nicht,3 und meine Geburt war, wie ich später verstand, vielmehr hingenommen als Erfüllung eines Wunschs. Eines Abends hatte in diesem abgeschiedenen, von einem riesigen Hof umschlossenen Heim ein Besucher den Arm meiner Mutter genommen. Sie waren in das Zimmer neben demjenigen gegangen, das ich heute bewohne, hatten gemeinsam Likör getrunken, und neun Monate später war unter Tränen und Geschrei ein kleines Mädchen zur Welt gekommen.

Lange hielt ich dies für meine Vergangenheit. Wenn die alte Maria mich an sich drückte und mich «Armes Ding!» nannte, ahnte ich mehr oder weniger, weshalb sie mich bedauerte. Ich sehe mich wieder vor mir, ein kleines Mädchen mit mageren Beinen und einem schmalen, ausgezehrten Gesicht mit übergroßen, wie von Fieber glühenden Augen. Meine Zöpfe waren so dick, dass die Leute, als ich immer dünner wurde, behaupteten, meine Haare würden mir das Blut aussaugen. Meine Mutter fürchtete, ich könne krank werden, und wollte sie mir abschneiden. Aber ich lief weg, tief hinein in den Garten, wo ich mich, meine Puppe fest an mich gedrückt, versteckte. Stundenlang kauerte ich dort im Verborgenen und malte mir aus, wie sie überall nach mir suchten. Da hörte ich Marias gütige Stimme, die, um meine Mutter zu beruhigen, während sie sanft die Küchentür schloss, zu ihr sagte: «Nun lassen Sie der süßen Kleinen doch ihre Haare, wenn Sie sie ihr abschneiden, wird sie hundertmal hässlicher aussehen.»

Meine Mutter war sehr schön. Ich erinnere mich, wie sie, eingehüllt in ihr langes Haar, im Halbdunkel nach Männern Ausschau hielt. Lachend hakte sie sich bei ihnen unter, führte sie in ihr Zimmer und bot ihnen Liköre an, deren scharfen, aromatischen Duft der allzu warme Wind zu mir hertrug. Dann schlüpfte ich in mein Bett, und Maria kam, um mir einen Kuss zu geben und sich zu vergewissern, dass ich schlief. Ich wurde häufig wegen belangloser Dinge ausgescholten. Mit gesenktem Blick trat ich vor meinen Richter, äußerlich kühl, dabei pochte mein Herz so stark, dass ich zu sterben glaubte. Beim ersten Vorwurf begannen meine Augen von Tränen zu brennen, sodass ich sie, um diese zurückzudrängen, fest zusammenkniff und dabei das Gesicht verzog. Meine Mutter missverstand dies und glaubte, ich wolle sie verhöhnen, indem ich die Lider zusammenpresste, um mir Tränen abzuringen, die von selbst nicht kamen. «Böses, böses Mädchen», rief sie, «will sich zwingen zu weinen.» Hochrot rannte ich davon und suchte Zuflucht in der Küche, wo Maria mir ein Stück Kuchen in die Hand drückte.

Mit zehn Jahren liebte ich nichts so sehr wie das Lesen. Um mein Zutrauen zu gewinnen, brachten die Freunde meiner Mutter, von ihr über meinen liebsten Zeitvertreib in Kenntnis gesetzt, mir Bücher mit, die mich lange genug wach hielten, dass ich um mich herum die tausend wispernden Geräusche der Nacht hörte, deren eindringlicher Klang in der Stille die vorgerückte Stunde verriet. Die Hand um eine Seite geklammert, schlief ich schließlich vor Erschöpfung ein.

Ich will gleich gestehen, dass es mir ein gewisses Vergnügen bereitet, diese Erinnerungen wachzurufen und zu versuchen, das seltsame kleine Mädchen wiederauferstehen zu lassen, das ich einst gewesen bin.

Damals galt ich als unkonventionell. Seither bin ich durch den Kontakt mit dem Leben gewöhnlicher geworden, denn mag Erfahrung uns auch wehrhafter machen, so nutzt sie doch zugleich unsere schönsten Eigenschaften ab. Inzwischen lebe ich wie jeder andere, errege so wenig Anstoß wie möglich und vergrößere jene Schar unbekümmerter Menschen, die sich aus der großen Zahl von Egoisten auf Erden zusammensetzt. Das Einzige, was mich vor dem allgegenwärtigen Mittelmaß rettet, ist der zarte innere Kampf, den sich in mir Gefühle liefern, von denen noch nur erste Ansätze zu erkennen sind. Soll ich mir wünschen, sie mögen endgültig zur Entfaltung gelangen? Wenn ich nach Glück strebe, bietet der Gedanke, ich könne es in der Vollendung meiner eigenen Natur finden, eine zusätzliche Hoffnung.

In der Schule hatte ich drei Freundinnen. Ich hatte sie unter den Glücklosen gewählt, die bei den Prüfungen durchfielen. Sie hießen: Nicole Darcé, Anna Verdieu und Janine Larivière.

Die beiden ersten waren Mulattinnen4, die dritte eine hinreißende kleine Schwarze, deren perfekter Körper einer Statue glich. Seit zwei Jahren bildeten wir eine Gruppe, die, obwohl in der Schule unzertrennlich, zerfiel, sobald wir das Schultor hinter uns ließen, denn bei den Eltern meiner Freundinnen war ich unerwünscht. Vergeblich hatte ich auf den Moment gewartet, in dem eine von ihnen mich zu sich nach Hause einlud. Nur die kleine Larivière stellte mich einmal ihrer Mutter vor. Nicole und Anna trennten sich stets vor ihrem Haus von mir, und der Blick, den Madame Verdieu mir eines Tages zuwarf, ließ mich erkennen, dass sie Annas Umgang mit mir missbilligte. Aber junge Mädchen, die ihre Freundinnen mit Leidenschaft wählen, verstehen sich darauf, ihren Eltern deren Namen zu verschweigen, wenn sie ahnen, dass diese eingreifen und den ohne ihre Zustimmung geschlossenen Freundschaften ein Ende setzen könnten. Nicole, die von spontanem Naturell war, hatte mir gleich zu Beginn anvertraut, dass ihre Mutter ihre Schwärmerei für mich verurteilte. An dem Tag, als eine ältere Schülerin mich als pitite bouzin5 beschimpfte, weil ich ihr vorwarf, es sei feige von ihr, ein achtjähriges Mädchen zu schlagen, begriff ich, was man mir selbst zum Vorwurf machen konnte. Durch das Leben, das sie geführt hatte, verdammte meine Mutter mich von vornherein in den Augen der anderen. Die Welt, die über mich richtete, nannte mich «Hurentochter», nachdem sie die Vergangenheit meiner Familie durchleuchtet und meine finanziellen Mittel bewertet hatte, und nach dieser Abwägung strich sie mich von der Liste derjenigen, die sie ins vorderste Glied der Gesellschaft stellte.6

Meine drei Freundinnen bewunderten mich. Um mich an ihren Eltern zu rächen, nährte ich diese Bewunderung, indem ich meine Aufmüpfigkeit weiter steigerte und während der Unterrichtsmonate den Ruf einer guten Schülerin mit dem der «Unruhestifterin» verband. Voller Geringschätzung nahm ich die Bestrafungen hin, und jeden Monat aufs Neue gelang es mir, trotz null Punkten in Betragen die beste Note zu erzielen. Ich ging dazwischen, wenn Schülerinnen geschlagen wurden, protestierte, wenn die Nonnen ungerecht waren, beschützte die Schwächsten und Ärmsten und prügelte mich ihretwegen aus nichtigsten Anlässen mit den Ältesten. Ich sah, dass meine Freundinnen sich im Glanz meiner Erfolge sonnten, was meinen Eifer noch zusätzlich anstachelte. Im Überschwang der Begeisterung hatten Anna und Nicole es sich nicht verkneifen können, ihren Müttern von dieser unvergleichlichen Lotus zu erzählen, die ihnen zufolge mit den hervorragendsten Eigenschaften begabt war. Man ließ sie versprechen, mich nicht wiederzusehen. Also belogen sie ihre Eltern und verkehrten heimlich weiter mit mir.

Janine Larivière hingegen besuchte ich auch zu Hause. Dank ihrer Bescheidenheit und ihrer Liebenswürdigkeit herrschte zwischen uns eine Kameradschaft, die in den Augen ihrer Mutter unbedenklich erschien; und diese tat ihr Bestes, um jede Möglichkeit einer innigeren Freundschaft zwischen uns zu verhindern. Ich stellte mir vor, wie sie, kaum dass ich zur Tür hinaus war, zu ihrer Tochter sagte: «Vergiss nicht, mein Kind, auch wer selbst rein bleibt, kann die Sünden Israels tragen.7 Verhalte dich daher stets so, dass die Fehler der anderen nicht auf dich zurückfallen.»

Dieser schalen Freundschaft wurde ich mit der Zeit überdrüssig, Annas allzu eigennütziges Interesse missfiel mir – ich sollte für sie alle Hausaufgaben erledigen. Nur Nicoles spontanes Wesen bezauberte mich weiterhin. Ich spürte, dass sie aus anderem Holz geschnitzt war als die beiden anderen und mir trotz unserer unterschiedlichen Erziehung ähnelte. Wir verstanden einander. Und eines Tages schworen wir uns nach dem Unterricht, Freundinnen zu bleiben.

Ich muss gestehen, dass meine Sinne für eine «Hurentochter» mit sechzehn Jahren noch so gemäßigt waren, dass ich nicht ein einziges Mal von jenen lustvollen Träumereien...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Nachwort Kaiama L. Glover
Übersetzer Nathalie Lemmens
Sprache deutsch
Original-Titel Fille d'Haiti
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Diktatur • Diversity • eBooks • Emanzipation • feministische bücher • Gender • Klassiker der Weltliteratur • Kolonialismus • Mehr Klassikerinnen • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Postkolonialismus • Rassismus • Revolution • Weihnachten • Weihnachten Buch • Weihnachten Geschenk
ISBN-10 3-641-28951-3 / 3641289513
ISBN-13 978-3-641-28951-5 / 9783641289515
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