Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (eBook)

Das Haus der Häuser
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31095-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero -  Andrea Giovene
Systemvoraussetzungen
22,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Es ist die Zeit zwischen den Kriegen. Nach einem turbulenten Bohemeleben in Mailand und Paris kehrt der dreißigjährige Giuliano nach Süditalien zurück. In der überwältigenden Schönheit der kalabrischen Landschaft findet er die erhoffte Ruhe - doch nicht für lange. Fern von Neapel, von Familie und Politik, beginnt Giuliano di Sansevero auf einem geerbten großen Olivengrund am Meer sein »Haus der Häuser« zu bauen. Dort, in der einfachen, archaischen Welt der Fischer und Bauern, will er Wurzeln schlagen. Doch schon bald wird er so sehr ein Teil der kleinen Dorfgemeinschaft und verantwortlich für die Geschicke jedes Einzelnen, dass jede Vorstellung von einem asketischen anonymen Leben ad absurdum geführt wird. Als er dem abgeschiedenen Ort zu einer Zufahrtsstraße verhilft, wird das jahrhundertealte Gleichgewicht des Dorfes binnen weniger Jahre zerstört. Mit großer poetischer Kraft und Wärme, gleichermaßen sinnlich wie real und präzise im Detail, zeichnet Giovene das Bild des vergessenen Mezzogiorno und seiner Menschen im Wandel zur Moderne.

Andrea Giovene (1904-1995) war Spross der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Er besuchte eine Klosterschule und wurde nach dem Studium Autor. Als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und war Zwangsarbeiter in Norddeutschland. Seine Romanfolge Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (5 Bände zwischen 1966 und 1970) war ein sensationeller Erfolg, wurde preisgekrönt, für den Nobelpreis nominiert und in verschiedene Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint sie erstmals vollständig auf Deutsch. 

Andrea Giovene (1904–1995) war Spross der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Er besuchte eine Klosterschule und wurde nach dem Studium Autor. Als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und war Zwangsarbeiter in Norddeutschland. Seine Romanfolge Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (5 Bände zwischen 1966 und 1970) war ein sensationeller Erfolg, wurde preisgekrönt, für den Nobelpreis nominiert und in verschiedene Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint sie erstmals vollständig auf Deutsch.  Moshe Kahn, geboren 1942, Übersetzer von Pier Paolo Pasolini, Primo Levi, Muigi Malerba, Andrea Camilleri, Roberto Calasso, Norberto Bobbio u.a.; 2015 wurde er für seine letzte Entdeckung und Übersetzung, Stefano D'Arrigos Horcynus Orca, mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis, dem Jane Scatcherd-Preis, und dem Paul-Celan-Preis (fürs Lebenswerk) ausgezeichnet. 

Inhaltsverzeichnis

2. Das Auge


Die Gemeinde San Giovanni an den Hängen des Monte Palanuda umfasste ganze sieben Ortsteile, von denen sechs aus völlig verelendeten Weilern auf felsigen Höhen bestanden und einer, Licudi, am Meer lag.

San Giovanni, ein Ort von mittlerer Größe, wies keine Besonderheiten auf: einen Kern von jahrhundertealten, wie Festungen verschanzten Häusern, in denen die größten Landeigner lebten, und einen Streifen rauchgeschwärzter Häuschen ohne jede Art von Annehmlichkeit. Die einfachen Leute von San Giovanni führten ein wesentlich schlimmeres Leben als die in Licudi und trugen im Gesicht die Zeichen eines alten, von Mühsal betäubten Kummers. Viele bearbeiteten Landstücke unten beim Calitri und allabendlich klommen sie, vollbepackt wie Tiere, den steilen Weg wieder hinauf. San Giovanni wurde von einer überraschend großen Zahl Schweine bewohnt. Zwischen ihnen und der »guten Luft« lebte man im Sommer inmitten von Fliegenschwärmen.

Reiche in San Giovanni gab es drei oder vier, die aber, überflüssig, es eigens zu sagen, in zwei Lager gespalten waren, und zwar nicht in politische, sondern persönliche. Auf der einen Seite der Amtsarzt, ein gewisser Carruozzo, und auf der anderen der seinerzeitige Machtinhaber, der Podestà Calì, ein Cousin unseres Don Calì in Licudi. Doch die Beziehungen zwischen diesen beiden waren nicht besonders.

Die sangiovannische Mentalität ähnelte mehr oder weniger der des Lindwurms in der Wagner’schen Nibelungen-Tetralogie: »Mich hungert sein. Ich lieg’ und besitz’.« Am Ort zeigte sich kein Exemplar jenes gebildeten Bürgertums, zu der beispielsweise der Rechtsanwalt und der Arzt des gottseligen Marchese Lerici gehörten, die beide aus Avellino stammten.

Meine Nachbarn saßen im Kreis auf einem eher bimssteinhaltigen als sandigen Strand und flickten ihre Netze. Sie hielten die Spule in der Hand und das zwischen Hand und großem Zeh gespannte Netzstück. Zu ihnen gehörten die Zwillinge Tatèo, Ferlocco, Denticiaro, Sciotto und, ein bisschen abseits, »il Fimminella«, »der Weibliche«, der stets diesen sanften Ausdruck hatte und Wäschestücke nähte. Sacht und gemächlich tröpfelten sie mir, bald der eine, bald der andere, in der friedlichen Sonne etwas über die Ruhmesseiten von San Giovanni ins Ohr, mit denen es nicht weit her war.

»Don Calìs Cousin«, erzählte der erste der Zwillinge, »der jetzt Podestà ist, legt darauf großen Wert wegen der Ehre. Alle zwei Jahre kommen alle Angehörigen seiner Familie zusammen, und zwar in aller Heimlichkeit, und untersuchen Kleidung, Wäsche und Schuhe. Was verschlissen ist, verbrennen sie im Gemüsegarten, ohne dass sie auch nur einen Fetzen an irgendwen herschenken, weil man, so heißt es, nicht kritisieren darf, in welchem Zustand und auf welche Weise sie sich die Sachen vom Leib ziehen!«

»Il Fimminella« presste die Nadel zwischen die Lippen, hielt lange Zeit eine Hose vor seinem Blick in die Luft, um das Ergebnis seiner Näharbeit zu begutachten. Doch es war unmöglich abzuschätzen, ob er irgendeine Absicht hatte oder ob die anderen sie erkannt hatten. Wahr ist, dass die Menschen von Licudi San Giovanni aus vollem Herzen verabscheuten und dem Ort auch dann nichts hätten abgewinnen können, wenn er gemalt gewesen wäre. Wenn sie gezwungen waren, wegen irgendwelcher Zertifikate oder Pässe ins Bürgeramt zu gehen, wanden sie sich wie gepeinigte Seelen und blickten immer zur Marina hinüber, die die Sangiovanneser wiederum als Beduinenkolonie und Nest von Lumpenhunden betrachteten. »Diebsgesindel und Wegelagerer«, sagten sie. Die Herren des Hauptortes dagegen gingen immer tadellos gekleidet aus: dunkler Anzug, Schuhe, Krawatte und Hut.

»Allerdings«, sagte der andere Zwilling, »dem Vater des Podestàs, einem gewissen Don Oronzo, der, möge uns Gesundheit gewährt sein, vor vier Jahren von uns ging, befand sich letztes Mal in gar keinem guten Zustand. Denn der Tischler hatte den Sarg so eng gemacht, dass es einiger Hammerschläge bedurfte, um ihn da hineinzuzwängen. Doch es heißt, dass er dazu genötigt wurde. Und die Verwandten, sie schwiegen! Er hatte die gesamte Gemeinde seit der Zeit des Erdbebens von Messina geknebelt. Hätten sie auch nur zu mucksen gewagt, hätte man ihn einfach ohne Deckel gelassen.«

Sciotto stand auf, um eine andere Garnrolle holen zu gehen.

»Und der Lehrer?«, fragte er. Die Zwillinge verharrten todernst, doch zogen sie kaum wahrnehmbar die Augenbrauen hoch.

»Der Lehrer«, sagte Denticiaro und wandte sich höflich mir zu, als sei er mir eine Erklärung schuldig, »der Lehrer von San Giovanni jagt seine Schüler in den Wald und lässt sie dort Wurzeln für Tabakspfeifen ausgraben, mit denen er dann Handel im Ausland betreibt. Und wenn ein Junge nicht so pariert, wie er soll, lässt er ihn sitzen. Er verpasst ihm eine Sechs.«

»In Botanik«, ließ Sciotto beiläufig fallen.

Sicher ist, dass, abgesehen vom beißenden Spott der Licuder, das örtliche Leben da oben ein Gemisch aus Zeitvertreib, aus Apathie und aus wiedergekäutem Groll gewesen sein muss. Die großen Herren blieben zu Hause, pflegten ihre Langeweile, ihre Absichten und ihre Interessen, und die Knechte kämpften sich durch die tiefen Täler ohne auch nur den Anflug einer Idee.

Angesichts dieses Bildes stellte sich die »meridionale Frage« zwar in keinerlei offiziellen Begriffen, dafür aber sehr konkret dar. Gian Luigi hatte seine Gründe, als er die politischen Entscheidungen verwarf, die, »indem diese die Aristokratie entmannten, den Mezzogiorno seiner natürlichen Führer beraubt hatten«. Die Herren von einst, so absolut sie auch gewesen sein mögen, hatten gleichwohl auf ihren Latifundien einen Palazzo, eine Kirche, eine Bibliothek und eine Kontrollstelle unterhalten, was die kleinen Usurpatoren, die ebenso gierig wie engstirnig waren, später nicht mehr aufrechterhalten haben. Nachdem der Palazzo eingestürzt, die Kirche ausgeplündert und die Bibliothek den Ratten überlassen worden war, verarmte auch das aufgeteilte und misshandelte Land. Nach der Abholzung des Waldes kamen die Erdrutsche, die ihrerseits unter der Herrschaft der Regenfälle standen. Wie eine Herde ohne Schäfer hatte sich die Bevölkerung von San Giovanni so wie die vieler ähnlicher Gemeinden in den Bergtälern mit ihrer Abgeschlossenheit abgefunden. Gigantische Wortkaskaden plapperten über das Abgleiten des Südens in eine derartige Stille. Doch diesen eifernden Worten setzte der Süden immerhin genau diese Stille entgegen.

Über der reglosen, sich spiegelnden Wasserfläche kreisten nun unter der Sonne die beiden gezähmten Möwen des Hafens gleichmäßig und feierlich dahin. Am Ende kamen sie neben dem Haufen von Netzen herunter und hockten sich auf komische Art da hin.

»Und Don Calì?«, fragte ich, eigentlich nur, um anzuregen – so wie es Gian Luigi an unserem Tisch tat: Also. Wie er! – »Was ist mit Don Calì? Gehört der denn nicht zum Schlag der Sangiovanneser?«

»Natürlich!«, antwortete der erste Zwilling und warf mir einen Blick von unten nach oben zu, »doch da oben wollten sie ihn nicht haben, und hier unten haben wir ihn gezähmt. Er bewegt sich, das stimmt, immer noch nach eigenen Regeln. Die, die bei ihm im Haus ist, zum Beispiel, behandelt er wie eine Dienstmagd. Und die ganze ›Maultierbande‹ unterhält er außerhalb. ›Auf der Straße will ich Vater genannt werden‹, sagt er, ›doch im Haus müssen sie mich Don Calì nennen.‹ Na, wenn er meint! Doch er muss bei uns im Dorf bleiben!«

Das stimmte. Licudi war, weil es sich am äußersten Rand der menschlichen Gemeinschaft befand, diesem Schicksal von Fron und Leid entgangen, wie ein winziger Strohhalm am Rand des Feuers, das ihn verschonte. Aufgrund eben seiner Armut hatte es sich in einer ungeplanten Form zusammengeschlossen, die es aus unvordenklichen Zeiten ererbt hatte. Und wenn die Menschen von Licudi auf die andere Seite des Ozeans auswanderten, war es, um an ebensolche urtümlichen Orte zu gelangen, an die sie lediglich die gleichen Bräuche der Heimat mitnehmen mussten, gleich den ersten Kolonisatoren der urantiken Chalkis, und damit keinerlei Verunreinigung mit sich brachten. Das Überleben von Licudi, das grundlegend anders war als das des nur ein paar Wegmeilen entfernten San Giovanni, entsprach ganz dem von Circeo, an der Grenze zu einer lehmbödigen Ebene: ein einsamer Berg aus Fels und Alabaster, Bruchstück eines verschwundenen Kontinents und einer untergegangenen Epoche.

Don Calì war somit die einzige Fremdmacht, die den Calitri überschritten hatte, um ein für alle Mal ins Dorf »hinabzusteigen«. Dazu war er mit Sicherheit durch die gleichen unerfindlichen Gründe gezwungen worden, deretwegen ihm bei der Aufteilung der Familiengüter die unzugänglichsten entlang der verachteten Marina zugefallen waren. Denn seine Familie besaß ja eigentlich ein wenig außerhalb von San Giovanni sogar das in Ehren gehaltene Kastell, das einmal das Eigentum der Fürsten von Caldora gewesen war, sich jetzt aber in den Händen eines misanthropischen Bruders befand. Möglicherweise hatte Don Calì den Turm ausschließlich aufgrund eines Rachegedankens bezogen, doch mit seinen Interessen hatte er auch die erste Reibung (denn Belebung konnte man das nicht nennen) mit der Außenwelt gebracht. Er hatte sich teilweise an den Ort gewöhnt, welcher ihn im Lauf vieler Jahre mit seiner geheimnisvollen Macht verbraucht hatte. Doch das Fehlen staatlicher Autorität, die in voller Absicht seit annähernd einhundert Jahren im Mezzogiorno nicht vertreten war, bündelte in seinen Händen eine Macht, die der eines Medizinmannes im Kongo nicht unähnlich war. Ein negativer Ausgangspunkt...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2023
Reihe/Serie Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero
Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero
L'autobiografia di Giuliano di Sansevero
Übersetzer Moshe Kahn
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adel • Aigle d'Or • Andrea Giovene • Der letzte Sansevero • Die Jahre zwischen Gut und Böse • Ein junger Herr aus Neapel • fremde Mächte • Giuliano di Sansevero • Kalabrien • Moshe Kahn • Neapel • Romanserie • Süditalien • Übersetzung
ISBN-10 3-462-31095-X / 346231095X
ISBN-13 978-3-462-31095-5 / 9783462310955
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99