Blutbuch (eBook)

Spiegel-Bestseller
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2022 und dem Schweizer Buchpreis 2022
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
336 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8260-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blutbuch -  Kim de l'Horizon
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Die Erzählfigur in >Blutbuch< identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem Schweizer Vorort, lebt sie nun in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie. Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l'Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

KIM DE L'HORIZON, geboren 2666 auf Gethen. Vor >Blutbuch< versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen - u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik und dem Damenprozessor. Heute hat Kim genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. >Blutbuch< wurde 2022 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung sowie dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Der Roman wird in 17 Sprachen übersetzt und für di

Prolog

Beispielsweise habe ich »es« dir nie offiziell gesagt. Ich kam einfach mal geschminkt zum Kaffee, mit einer Schachtel Lindt & Sprüngli (der mittelgrossen, nicht der kleinen wie üblich), oder dann später in einem Rock zum Weihnachtsessen. Ich wusste, oder nahm an, dass Mutter es dir gesagt hatte. »Es«. Sie hatte »es« dir sagen müssen, weil ich »es« dir nicht sagen konnte. Das gehörte zu den Dingen, die mensch sich nicht sagen konnte. Ich hatte »es« Vater gesagt, Vater hatte »es« Mutter gesagt, Mutter muss »es« dir gesagt haben.

Andere Dinge, über die wir nie sprachen: Mutters riesiges Muttermal auf dem linken Handrücken, die Schwere, die Vater – wenn er von der Arbeit heimkam – ins Haus schleppte; wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch ins Haus schleppte; dein lautes Schmatzen, deinen Rassismus, deine Trauer, als Grossvater starb; deinen schlechten Geschmack, wenn es um Geschenke geht; die Liebhaberin, die Mutter hatte, als ich etwa sieben war, den silbrigen Ohrenring, den Mutter von ihrer Liebhaberin zum Abschied bekommen hatte, der wie eine lange Träne von Mutters Ohrläppchen bis fast an ihr Schlüsselbein reichte, als sie ihn noch anzog, um Vater zu provozieren; die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte – wenn ich mich unbeobachtet fühlte –, den Ohrenring von einer Hand in die andere gleiten zu lassen, den Ohrenring so in die Sonne zu halten, dass er flammende Muster an die Wände warf, meine unendliche Lust, diesen Ohrenring anzuziehen, meine unsägliche innere Stimme, die mir das verbot, meinen unendlichen Wunsch, einen Körper zu haben, Mutters unbändigen Wunsch, durch die Welt zu reisen. Wir sprachen nie über Politik oder Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault oder darüber, dass Mutter die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als ich auf die Welt kam. Wir sprachen nie darüber, dass du einen Bart gekriegt hast, als du mit Mutter schwanger warst, dass das »Hirsutismus« heisst, wir sprachen nie darüber, wie du das behandelt hast, ob du dich rasiert, gewachst oder die dunklen Haare mit der Pinzette ausgerissen hast, ob du Antiandrogene nimmst, um das Testosteron – das dein Körper »im Übermass produziert« – zu unterbinden, und wir sprachen nie darüber, wie du angeschaut wurdest, wie sehr du dich geschämt haben musst, wir sprachen sowieso nie über Scham, nie über den Tod, nie über deinen Tod, nie über deine wachsende Vergesslichkeit, wir sprachen sehr oft über die Familienalben und über jedes einzelne der Bilder darin, allerdings sprachen wir nie darüber, wie lächerlich Grossvater auf diesen Fotos aussieht, die er mit seiner Burschenschaft aufgenommen hat, wie komisch sie ihre Brust plustern und breitbeinig in die Kamera grinsen; wir haben nie über das Mädchen gesprochen, das bis zu einem gewissen Alter durch die Fotoalben geistert, meistens an deiner Hand, manchmal an einer der Hände deiner fünf Brüder, nein, wir haben nie darüber gesprochen, wohin diese jüngste Schwester namens Irma verschwunden ist. Wir sprachen nie darüber, ob es für andere Familien auch so anstrengend ist, so zu tun, als wären sie wie die anderen Familien, wir sprachen nie über Normalität, nie über Heteronormativität, Queerness, wir sprachen nie über Klasse, die sogenannte »Dritte« Welt und die geheimen Geflechte der Pilze, die viel grösser und feiner sind als in unserer Vorstellung, wir sprachen nie über all die Wege, die diese Welt bereithält, die sie uns bereithält, um vor uns selbst davonzulaufen, die gewundenen Wege, die im Schatten grosser Pappeln liegenden Wege, die öden, endlosen Wege, die diese Welt umspinnen, wie ein Faden einen Fadenknäuel umspinnt, aber wir sprachen über die Wege, die alle zusammen »Jakobsweg« heissen.

Vor einigen Wochen sassen wir auf dem Sofa, du hast mir eines der Fotoalben gezeigt. Ich habe mich gezwungen, dasselbe Interesse vorzutäuschen wie die letzten zehn Male, als du mir dieselben Fotos mit denselben Kommentaren erläutert hast. Wir schauten uns ein Foto deiner Mutter an, auf dem sie schwanger mit dir ist, ein Foto, das mich die ersten Male überrascht hat, weil da einfach eine nackte Frau zu sehen ist, in einem kleinbürgerlichen Familienalbum von 1935. Plötzlich hast du deinen Redefluss unterbrochen, mich angeschaut und gefragt: »Warum bist du eigentlich nie da?«

Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Zürich, ich bin sechsundzwanzig, es wird langsam dunkel, es ist einer dieser Abende, die noch Winterabende sind, während mensch schon eine Vorahnung von Frühling riecht, ein samtiger Geruch: von Bodnant-Schneeballblüten, übertrieben süss und weissrosa; von Menschen, die wieder beginnen zu joggen und ihren Schweiss durch die viel zu sauberen Strassen tragen. Ich jogge nicht. Ich sitze hier und kaue meine Fingernägel, trotz des Ecrinal-Bitternagellacks, ich kaue, bis der weisse Rand abgekaut ist und noch weiter, ich dränge den weissen Rand beständig nach hinten. Vor einem halben Jahr habe ich diesen ultralangweiligen Job im Staatsarchiv angenommen, ich stecke den ganzen Tag zwischen Regalen tief unter der Erde, katalogisiere Krankenakten längst verstorbener Patient*innen, ich spreche mit niemenschem, bin zufrieden, bin unsichtbar, lasse meine Haare wachsen, gehe nach Hause und setze mich hierhin, an meinen Schreibtisch, von wo aus ich die Buche im Nachbargarten sehen kann, von wo aus mir die Erinnerungen an die Blutbuche kommen, unsere Blutbuche, die grosse, rotlaubige Buche in der Mitte unseres Gartens. Ich schreibe. Wenn meine Freund*innen Dina und Mo, die auch irgendwo sitzen und schreiben, mir schreiben: »Kommst du was trinken?«, dann schreibe ich nicht zurück. Ich versuche zu schreiben, und wenn ich nicht schreiben kann, wenn ich im Wattenmeer der Vergangenheit versinke, dann rasiere ich mich, dusche und fahre mit dem Fahrrad in die Aussenbereiche der Stadt, in die Aussenröcke, wie die Engländer*innen sagen, ich suche die Tankstellen und Fussballplätze ab, ich tigere vor den Gyms auf und ab, die Grindr-App ist meine bleiche Fackel in der Nacht der Agglomeration, sie weist mir den Weg zu den Männern, die ich suche, die ich brauche, die ich mich brauchen lasse, von denen ich mir hinter dem Fahrradhäuschen den Rock hochschieben lasse und die ich sich in mich hineinschieben lasse, schnell und gefühllos, ich habe ja genug Gefühle, ich brauche nicht noch mehr davon, ich brauche endlich mal einen harten cut von ihnen. Ich verschwestere mich mit dem rostigen Gitter des Vorort-Gym, an dem ich mich festkralle, beim nächsten Mal verschwestere ich mich mit dem Geländer des ausgestorbenen Tribünenaufgangs, das mir Halt gibt, und last, but not least pralle ich mit der Wange so lange an die Pausenraumtür des Securitas, bis ich von meinen Gefühlen zurück in mein Fleisch gestossen bin, dann gehe ich nach Hause, Samen noch in und Geruch von fremdem Mann an mir, ein warmes Gefühl in meiner leeren Mitte, das mich für die Dauer des Heimwegs auffüllt. Hier gehe ich aufs Klo, rasiere mich wieder, Achseln, Beine, Scham, ich fürchte mich immer vor der Möglichkeit, nachts aufzuwachen und nach jemensch anderem zu riechen, dann gehe ich noch mal aufs Klo, um auch den restlichen Samen aus mir zu entlassen, dann duschen, mit Bimsschwamm abrubbeln, eincremen. Meine Haut ist irritiert vom vielen Rasieren. Dann setze ich mich zurück an den Schreibtisch, in das Blickfeld der Buche, und ich merke erst jetzt, dass ich schon diese ganze Zeit an dich schreibe. Und wenn ich nicht schreibe, dann lese ich oder denke an die Möglichkeit, meinen Körper auf den Jakobsweg zu geben, ich denke an die Möglichkeit, zu gehen, bis ich an nichts mehr denke oder nach Santiago de Compostela gelange oder ans Meer, und ich denke an die Möglichkeit, das alles nicht zu tun.

Wir sprachen nie darüber, dass du eines Nachmittags nicht mehr nach Hause fandest und Mutter einen Anruf von der Polizei erhielt. Wir sprachen nie darüber, dich in ein Heim zu geben, und als du einen schlimmen Schub hattest vor einem Monat und in einem Rehazentrum aufgewacht bist und gefragt hast, wo denn der Balkon hin sei mit der Aussicht über Bern, da hat Mutter gesagt: »Aber den haben sie doch abgenommen, der war nicht mehr sicher.« Da hast du gesagt: »Ach ja, stimmt«, und hast etwas zu laut über dich selbst gelacht und dann von den Geranien auf dem Balkon gesprochen. Ich habe Mutter gehasst für ihre Feigheit, dir nicht die Wahrheit zu sagen, ich war erst genervt und dann gerührter von ihrer plötzlichen Sorge um dich, als ich es sein wollte. Plötzlich ist sie die caring daughter, aber ich nicht, dachte ich, mich kriegst du nicht zur caring daughter, Mutti, und habe mich noch kälter von Mutter verabschiedet als sonst. Wir sprechen nicht über die hohe Wahrscheinlichkeit, dass du in den nächsten sechs Monaten einen weiteren Schub machen wirst (»sie wird einen Schub machen« – diese Ärzt*innensprache, als würdest du das bewusst machen), und wir sprechen nicht über die hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieser Schub den Rest deines Erinnerungsvermögens tilgen wird.

Jetzt ist es Nacht, und ich stelle mir vor, wie auch du am Fenster deines Zimmers in der Reha stehst und der Nacht ins Gesicht schaust. Ich spüre, wie du langsam verschwindest. Liebe Grossmutter, ich möchte dir noch schreiben, bevor du ganz aus deinem Körper verschwunden bist oder keinen Zugriff auf deine Erinnerungen mehr hast.

Ich möchte dir sagen können, dass ich mich vor dir fürchtete, dass beispielsweise ich damals das Glas Himbeermarmelade zerschlagen habe, die du frisch gemacht hattest und von dem du dachtest, dass Mutter es zerschlagen habe, und Mutter auch tatsächlich mich beschützt hat, die Schuld auf sich genommen hat und du sie aufs Gröbste zur Schnecke...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autofiktion • Autofiktionaler Roman • Coming of Age • Cover mit Statue • Debütroman Schweiz • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2022 • deutscher buchpreis 2022 die nominierten • Gewinner des Deutschen Buchpreieses • Gewinner Deutscher Buchpreis 2022 • Hexenverfolgung • Identitätssuche Buch • LGBTQI Buch • Longlist Deutscher Buchpreis 2022 • nominiert schweizer buchpreis • Roman des Jahres 2022 • roman queer • Roman über Emanzipation • Roman über Selbstverwirklichung • Schweizer Buchpreis 2022 • Shortlist Deutscher Buchpreis • Transgender Roman • Weiblicher Stammbaum • Wie Ocean Vuong
ISBN-10 3-8321-8260-8 / 3832182608
ISBN-13 978-3-8321-8260-1 / 9783832182601
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