Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31099-3 (ISBN)
Andrea Giovene (1904-1995) war Spross der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Er besuchte eine Klosterschule und wurde nach dem Studium Autor. Als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und war Zwangsarbeiter in Norddeutschland. Seine Romanfolge Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (5 Bände zwischen 1966 und 1970) war ein sensationeller Erfolg, wurde preisgekrönt, für den Nobelpreis nominiert und in verschiedene Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint sie erstmals vollständig auf Deutsch.
Andrea Giovene (1904–1995) war Spross der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Er besuchte eine Klosterschule und wurde nach dem Studium Autor. Als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und war Zwangsarbeiter in Norddeutschland. Seine Romanfolge Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (5 Bände zwischen 1966 und 1970) war ein sensationeller Erfolg, wurde preisgekrönt, für den Nobelpreis nominiert und in verschiedene Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint sie erstmals vollständig auf Deutsch. Moshe Kahn, geboren 1942, Übersetzer von Pier Paolo Pasolini, Primo Levi, Muigi Malerba, Andrea Camilleri, Roberto Calasso, Norberto Bobbio u.a.; 2015 wurde er für seine letzte Entdeckung und Übersetzung, Stefano D'Arrigos Horcynus Orca, mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis, dem Jane Scatcherd-Preis, und dem Paul-Celan-Preis (fürs Lebenswerk) ausgezeichnet.
2. Die Heiligen
Silvesternacht, letzte Nacht des Jahres 1948. Zwei Personen auf dem weitläufigen Piazzale, der von San Martino aus über das antike Neapel und die vom Vesuv zur Stadt verlaufende Küstenlinie blickt, unterhielten sich leise miteinander, beinahe so, als wären sie nicht alleine, was sie jedoch waren.
Bis zum Ende des Jahres fehlten noch zwei Stunden, und die Stadt, die schon seit mehreren Tagen vom Lärm der Knaller erfüllt war, der seit dem Morgen mit jeder Stunde und mit noch ohrenbetäubenderen Schüssen lauter wurde, schwieg jetzt, begraben in der Dunkelheit. Sie sammelte sich und wartete. Hinter den beiden verschwamm die riesige Masse des Castel Sant’Elmo mit der von oben kommenden Schwärze. Nur die ausladenden marmornen Wappen mit den ruhmreichen Insignien Carls V., die sich auf dem Tuff zeigten, schimmerten schwach im unbegreiflichen Widerschein.
»Ein Mal im Jahr, Giugiù«, erzählten sie mir in meiner Kindheit, »nur ein Mal im Jahr steigt die Zeit selbst in menschlicher Gestalt auf die Erde nieder und berührt sie mit der Spitze ihres Flügels genau in dem Augenblick, wenn es Mitternacht schlägt. Es ist wie der Schwung des Pendels, und mit einem leichten Schlag lässt die Zeit die Welt weiterlaufen. Gleich kommt sie.«
In Gian Luigis Sammlungen ragte vor vielen Jahren eine schwergewichtige Gruppe aus Porzellan heraus: die Zeit, die Amor die Flügel ausreißt. Alle beide, der bärtige Alte und der widerspenstige Knabe, waren halb nackt und von einem unnatürlichen Weiß. Amor verzog fletschend seinen kleinen Mund, während der andere ihn fest zwischen seine Knie geklemmt hatte und sich daranmachte, ihm brutal die Federn auszureißen. Dieses Stück, das von Liebhabern sehr geschätzt wurde, gehörte für mich zu den unerträglichsten. Doch Onkel Gedeone bediente sich für seine Analogien nie pompöser Rhetorik.
»Hier«, sagte er langsam und blickte wieder starr hinunter, »leben und leiden die Menschen seit dreitausend Jahren. Überall müssen die, die leben, auch leiden, bei uns aber blickt man sich aufmerksamer, meine ich, in die Seele. Aus diesem Grund hat mich der Missbrauch, wie ich ihn in diesen Zeiten miterlebt habe, bedrückt. Während der schlimmsten Tage allerdings habe ich in Neapel etwas entdeckt, das mir wieder Hoffnung für die Menschen gegeben hat. Jetzt ist es vorbei. Und es ist nur richtig, dass ich umkehre und all meine Hoffnung in Gott setze.«
Aus dem dunklen, nur eben von bleichen Fluoreszenzen durchsprenkelten Schoß des Tals schossen in Abständen lautlose Blitze auf, möglicherweise elektrisch geladene Teilchen in der Luft. Der leichte Schleier, der die Landschaft zu Füßen des Vesuvs einhüllte, entfernte die zahllosen Lichter an Stränden und Buchten in einem blendenden Schein, ähnlich dem der Milchstraße.
»Ja«, sagte Onkel Gedeone wieder, »jetzt ist es anders. Genauer gesagt: nach all der Leidenschaft und wegen eben der dunklen Wärme, die sie birgt, sollten wir wieder zu Erde werden, um Samen hineinzustreuen, die keiner kennt. Diese Schurkenbande, die jetzt nach der Macht greift, war überhaupt nicht hier bei den Bombenangriffen von 1942. Weißt du, welche Strafe ich den Deutschen für das auferlegen würde, was sie Europa angetan haben? Das Verbot, als Touristen zurückzukommen, und zwar für die gesamte Generation. Weißt du, was ich von einem politischen Kandidaten verlangen würde? Die wahre Geschichte seiner fünf Jahre während des Krieges. Wir haben einen Verteidigungsminister, der nie beim Militär war.[16] Und jetzt sehe ich, dass zu Propagandazwecken die Heiligen herumgetragen werden. Damals sah man sie hier nicht. Hier war nicht das Paradies.«
Mein Onkel sprach diese geistreiche Bemerkung so müde aus, dass er nur wie ein wehmütiger Kommentar wirkte, frei von jeder Ironie. Der matte Schimmer, der gleichwohl den Schatten durchdrang, wurde in seinem müden Gesicht sanfter, nicht weil er die Bürde eines Tages oder eines Monats getragen hatte, sondern die eines ganzen Lebens. Er hatte den Wunsch geäußert, das Feuerwerk der letzten Nacht im Jahr von da oben zu sehen. Ich wusste, warum. Wir lebten seit vierzehn Monaten zusammen, und es war mir zugekommen, ihn am Ende nicht zu verlassen. Darüber schien er zufrieden zu sein, so als hätte er sich weder etwas anderes noch etwas mehr gewünscht. Wie jemand, der die flackernde Flamme betrachtet, die kleiner wird und dann noch einmal schwach aufscheint, und der weiß, dass sie nicht fortdauert, so fühlte ich sein Leben aus ihm weichen. Doch gleichzeitig glaubte ich, dass ich es in mich aufnehmen und dadurch getröstet und gekräftigt werden würde und er wiederum wusste, dass er es in mich goss, ohne auch nur einen Tropfen zu verlieren. Der Familienbaum stand zwischen uns oder wir befanden uns in ihm, und ein Zweig starb nur deshalb ab, damit der ganze Lebenssaft angehalten war, sich auf die verbliebenen zu konzentrieren.
»Was hat diese Stadt für die Menschheit bedeutet?«, fuhr Onkel Gedeones Stimme fort. »Was sind wir in dieser Stadt gewesen? Und was du, in unserer Mitte? Nach außen hin hast du immer alleine und weit weg gelebt. Aber du tatest recht, indem du für alle das getan hast, was nur einer tun konnte. Deine Mutter Annina, die ihr Leben so unbeschwert lebte und so mühelos vergaß, hat, bevor sie die Augen schloss, immer nur dich genannt, ganz so, wie Checchina es dir gesagt hat. Aus welchem Grund wohl, glaubst du?«
Aus der weiten Dunkelheit stieg jetzt ein heimliches Verdrängen auf, ein dumpfes Rollen, wie ein unterirdisches Gewässer, das den Boden zum Beben bringt. Hier und da zuckten Blitze auf, bläulich, violett, blassrötlich. Kurzes Knallen. Bengalische Feuer ließen für Sekunden kleine lebendige und sofort wieder verschwindende Gestalten auf Loggien erkennen. Drüben am Meer war der Nebel dichter geworden, und der weite Bogen des Golfs jenseits der kalten Hafenlaternen lag reglos da.
»Was stellte diese Stadt für die Menschheit dar?« Die Stimme hallte bereits hinter den Schleiern der Erinnerung nach und wurde bei jeder Wiederholung ein ums andere Mal intensiver. »Das Land der Kanzonen!«, sagten die Fremden, die verzaubert auf Schiffen in die lichtdurchflutete Bucht zwischen Hügeln und Meer kamen. »Die Mandolinen, wo sind denn hier die Mandolinen?«, fragten ältliche Damen, die bereits ihr Billett für Positano, Capri oder Ravello schwenkten. »Das berühmte Vaterland von Campanella und von Vico!«, sagten die Gebildeten, die einen Reverenzbesuch bei Don Benedetto Croce machten.[17] »Die Schwindler«, tickte der Fernschreiber von Interpol. Den Archäologen zog es nach Pompeji und Herculaneum, den Vulkanologen zum Vesuv, die Naturfreunde zu den Eidechsen auf Capri. Es gab den Totenkult, es gab das Blut und den Schatz des Heiligen Januarius, die Spuren von acht Dynastien und drei oder vier Städte übereinander. Es gab die Entehrung, die Küche und die Elendsviertel. Es schien, als würde es Neapel an nichts fehlen und als wäre es doch aller Dinge beraubt. Es war berühmt und gefeiert, gierig, poetisch und traurig. Und jetzt brütete in seinem dunklen Schoß die unerhörte Explosion eines sinnlosen Feuers. Das Wiederaufleben zahlloser, in der Phantasie erschöpfter Leidenschaften, verborgener Sinnesfreuden, erstickter Schamlosigkeiten, Rebellionen und überbordender Illusionen. Das ferne Grollen wurde nun als dumpfes, doch unaufhörliches Schlagen von Tamburinen deutlicher hörbar, das sich von den entlegensten Kreisen dem dunklen und noch unbelebten Herzen der Stadt näherte. Die Spitze des Obelisken beim Gesù zwischen der Kirche Santa Chiara und der Port’Alba konnte ich gerade noch schwach erkennen und vielleicht auch die Fassade des Doms. Ringsum hatten sich arme Menschen versammelt, welche über die Treppen bei Sant’Antonio heraufgestiegen waren oder aus den Gässchen hinter der Festung. Keiner von ihnen sprach. Da sie kein Geld hatten, um selbst auch ein paar Feuerwerkskörper zu kaufen, kamen sie, diese traurigen Philosophen, um sich unter begrabenen Gedanken die Feuerwerksfeier der anderen anzuschauen.
»Das hier ist keine Stadt, die von einem Bürgermeister regiert werden muss«, spann mein Onkel seinen Kommentar weiter. »Lediglich drei oder vier ihrer Könige wie Alfons von Aragon, zum Beispiel, oder Carl III. haben das geschafft. Und solange alles gut lief, auch Gioacchino. Dann hatten die Philosophen und Männer der Kirche Neapel etwas mitzuteilen, Padre Rocco etwa.[18] Heute wollen die Ingenieure, die Techniker und Industriellen über sie herfallen. Du hast Recht, wenn du sie bekämpfen willst. Du weißt so gut wie ich, dass der Todeskampf der Bourbonen eines Dichters bedurfte.«
Seit mehr als einem Jahr, gleich nach meiner Rückkehr nach Neapel, kämpfte ich in der Zeitung, bei der mich Arquà auf verlorenem Posten untergebracht hatte. Nach den absonderlichsten Behinderungen, nach unendlichen Verzögerungen, Möglichkeiten, die auftauchten, sich auflösten und dann wieder in die Hand genommen wurden, wie bei dem Zickzackflug der taumelnden römischen Nachtfalter, stellte die Zeitung, die in Neapel ihren festen Standort bekam und nicht in Rom, in dieser frühen Zeit Ziele, Richtungen und Aussichten vor, die völlig anders waren als die ursprünglich ins Auge gefassten. Niemand von denen, die vom Start an dabei waren, hatte die Prüfung durchgehalten, außer mir, dem die Motive und Absichten von Anfang an gleichgültig gewesen waren und der ich überzeugt war, dass ich immer dienstbar sein konnte, ganz gleich, welche Bürde damit verbunden war. Doch die geheime Antriebskraft, die mein Leben über die konkrete Verpflichtung gegenüber meinem Onkel Gedeone hinaus bestimmte,...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2023 |
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Reihe/Serie | Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero |
Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero | L'autobiografia di Giuliano di Sansevero |
Übersetzer | Moshe Kahn |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aigle d'Or • Andrea Giovene • Das Haus der Häuser • Die Jahre zwischen Gut und Böse • Ein junger Herr aus Neapel • fremde Mächte • Giuliano di Sansevero • Moshe Kahn • Romanserie • Übersetzung • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-462-31099-2 / 3462310992 |
ISBN-13 | 978-3-462-31099-3 / 9783462310993 |
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Größe: 2,2 MB
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