Da wo sonst das Gehirn ist (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-28264-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Da wo sonst das Gehirn ist -  Sebastian Stuertz
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Auf der Suche nach dem, was man Familie nennt: der neue schwindelerregend komische Roman von Sebastian Stuertz.
Sebastian Stuertz nimmt uns mit auf die Achterbahnfahrt ins Erwachsenenleben. Ein schwindelerregend komischer und mitreißender Roman über Freundschaft, Liebe, Patchworkchaos und die größte aller Freiheiten - die Freiheit, immer wieder neu anfangen zu können.

Hamburg, Sommer 2019. Alina ist neu an ihrer Schule, aber trotzdem gleich das coole Nerdgirl, denn sie hat eine eigene App programmiert: ein Mini-Social-Network nur für die 13. Klasse. Hätte ein perfekter Einstieg sein ko?nnen - wäre ihre Mutter nicht gleich nach dem ersten Elternabend mit Herrn Carstensen im Bett gelandet, dem Vater des idiotischen Klassensprechers Corvin. Noch blöder, dass Alina und ihre Mutter, die als Berufs-Clown ihr Geld verdient, kurz darauf aus ihrer WG fliegen. Bei Dad ist kein Platz für sie, der hat noch drei andere Kinder und keine Lust, sich auch noch um Alina zu kümmern. Also muss sie mit Mama bei den Carstensens einziehen, was vollkommener Irrsinn ist: Bei Corvin wohnen Spinnen und Riesentausendfüßler, seine Schwester Nina hat eine zweite Identität, und dann gibt es noch ein weiteres, dunkles Familiengeheimnis, das bald schon alles auf den Kopf stellen wird.

Sebastian Stuertz, geboren 1974 und aufgewachsen am Steinhuder Meer, war jahrelang Musiker mit überschaubarem Erfolg, bevor er sich dem Schreiben widmete. Er animiert Grafiken für Film und TV und arbeitet als Dozent für Motion Design. Seit Beginn des Jahrtausends lebt er mit seiner Familie in Hamburg. Sein Debütroman von 2020, »Das eiserne Herz des Charlie Berg«, wurde mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und war Finalist beim Klaus-Michael Kühne-Preis. 2021 erschien die Audio-Miniserie »Ruslan aus Marzahn«, nominiert für den Deutschen Hörbuchpreis.

mit dem Taxi vorfahren


Alinas Mutter sprüht Parfum auf ein Seidentuch, setzt einen weiteren Stoß in die duschfeuchte Badezimmerluft, dreht mit geschlossenen Augen eine Pirouette in der niedernieselnden Wolke. Dann noch etwas Parfum auf das Handgelenk, das an den Hals getupft wird. Am Tag, an dem Dad sein Leben in Kartons gepackt und runter in den Honda getragen hat, saß Mama heulend in ihrem Zimmer und füllte den Online-Fragebogen zu Vorlieben und Charaktereigenschaften aus. So wie sie manchmal stundenlang auf der BMW-Website Neuwagen konfiguriert oder auf mytheresa.com den Warenkorb mit Designerzeug vollballert, ohne je etwas zu kaufen. Dad drückte zum Abschied unten zweimal auf die Hupe – Mama drückte auf BEZAHLEN: Ein maßgeschneidertes Duft-Unikat für fünf-fucking-hundert Euros – »so einzigartig wie Ihre Persönlichkeit«.

Und dann nie benutzt, weil zu gut für die Welt.

Seit fünf Jahren steht es im Schrank, flüssiges Gold quasi, und ausgerechnet heute dieselt sich Mama damit ein. Das wird böse enden, so viel vorweg.

»Ey, Mama. Das ist ein Elternabend, keine Singlebörse. Vielleicht ein bisschen weniger Brustausstellung?«

Alinas Mutter trägt ein Oberteil mit viel zu tiefem Dekolleté, nennt es »Herrenkino« und findet das witzig.

»Ach, lass mich doch«, sagt Mama, schüttelt ihre blonden Locken, drückt sie hier und da an den Kopf, um sie an anderer Stelle wieder rauszuzupfen. Dann reißt sie die Augen auf und geht ganz nah an ihr Spiegelbild heran.

Alina drückt derweil rot-weiße Streifen aus der Tube und putzt sich die Zähne. Wenn sie ehrlich ist, und das ist sie jetzt mal, wenn auch nur zu sich selbst, muss sie zugeben: Soo scheiße ist das mit diesem Klassenabend gar nicht. Während alle anderen in der Stadt den ersten Schultag komplett absitzen müssen, trifft sich die Freie Kreativschule Sternschanze erst um 18:00 Uhr. Lehrer, Schüler und Eltern. Kleine Ansprache von der Direktorin in der Pausenhalle, dann alle in die Klassenräume. Es stehen ein paar Wahlen an, auch im Kreis der Erziehungsberechtigten, weil das zur neuen Schule dazugehört, dass sich die Eltern voll einbringen in die Orga.

Anschließend wird über ein ominöses »Sozialexperiment« abgestimmt, für das alle aus der Klasse ein Konzept einreichen mussten. Hoffentlich wird nicht ihrs gewählt, denkt Alina. Hoffentlich gibt es keine dummen Kennenlern-Spielchen und hoffentlich keine Arschlöcher. Und am allerhoffentlichsten huscht die Dreizehnte einfach nur schnell an ihr vorüber, was nach dem letzten Horrorjahr auf dem Suder-Gymnasium mehr als angebracht wäre.

Sie spuckt ins Becken, nimmt die Brille ab, bückt sich zum Wasserhahn und spült den Mund aus.

Scheiß Wyndi.

Spuckt gleich noch mal aus.

Der dummen Bitch nur einmal in die Fresse hauen, das wär so schön. Oder: Wyndi hat Krebs, und dann im Krankenhaus besuchen und sagen: »Kriegst du jetzt Chemo? Och, du Ärmste … Aber Glatze steht dir bestimmt!« Nein, in die Fresse wäre schon gut. Als Alina plötzlich von allen geghostet wurde und sie Wyndi im Klassenraum deswegen zur Rede stellen wollte, tat die einfach so, als ob Alina nicht da wäre. Sogar als sie anfing rumzuschreien, tat Wyndi weiter so, als wäre Alina Luft (da gab es noch keine Dr. Mannteufel), und schließlich flog ihre Faust von ganz allein in Richtung von Wyndis stummer, dummer Fresse. Die duckte sich weg, schlug aber wenigstens mit den Zähnen auf die Tischkante, und die Zähne waren raus, oben, alle beide, fette Zahnlücke, scheiße, sah das geil aus. Leider kein Foto gemacht. Und leider glaubten auch alle Wyndis Story: Alina hat mir die Zähne ausgeschlagen! Also muss sie das definitiv noch nachholen, sonst stimmt doch irgendwas nicht mit dem Universum.

Immerhin eins hat Alina aus der Sache gelernt: Sie kann niemandem trauen. Dr. Mannteufel ist zwar anderer Meinung, aber die ist auch Therapeutin und will nicht umsonst studiert haben.

Alina spült ihre Zahnbürste aus, klopft sie am Waschbeckenrand ab und setzt die Brille wieder auf.

Mama spielt mit dem Seidentuch. Legt es sich aber nicht um. Oh nein.

»Ey, Mama …«

Ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Mama dreht den Kopf zu Alina.

»Kannst du mir einen Gefallen tun, Mama?«

»Alles, Lini, was denn?«

»Keine Zaubertricks heute Abend? Bitte?«

Mama sieht sie geradezu empört an. »Aber Lini, wo denkst du hin?«

Dabei stopft sie sich nebenbei das Seidentuch in die linke Faust, bis es verschwunden ist. Öffnet die Faust und präsentiert einen kleinen gelben Ball. Haut ihn sich ins Gesicht, wo er quietschend auf der Nase stecken bleibt und auf einmal rot ist. Und während ihre Mama sie weiterhin entrüstet ansieht, als wäre es die absurdeste Idee überhaupt, dass sie im Beisein von Alinas neuer Klasse Zaubertricks vorführen könnte, steigt aus ihrem Mund eine Seifenblase.

Alina schließt die Augen und denkt an Frau Mannteufels neue Liste mit den verfickten Tipps. Erstens, das rote Stoppschild, das sie sich vorstellen soll, um die scheiß Wutexplosion zu stoppen (was für ein Schwachsinn), zweitens, das tiefe, ruhige Atmen durch die Nase in den Bauch (sie schnauft wie ein Schwein), und kurz bevor sie schreiend die Faust in Mamas dämliche Clownsfresse im Spiegel schlägt, fällt ihr, drittens, der Kälteschock ein – sie reißt den Hahn nach rechts, hält die Handgelenke und Unterarme drunter, und tatsächlich: Das hilft.

Uff.

Alina atmet aus, Mama schaut sie ernst an. Und nickt.

»Okay, Mausi. Keine Tricks, Ehrenwort.«

Sie nimmt die Clownsnase ab, Mutter und Tochter tauschen einen Spiegelblick, Mama versucht ein versöhnliches Lächeln, Alina nicht.

»Ich wäre dann so weit«, sagt sie, macht Kussmundlippen und prüft abwechselnd beide Wangen im Spiegel. »Und du? Hast du saubere Fingernägel?«

»Ich weiß nicht, kannst du mal kucken?«, fragt Alina, hält Mama ihre Hände hin und klappt die Finger langsam ein, bis nur noch die beiden Mittelfinger aufragen.

Es geht ihr schlagartig besser. Sie grinst.

»Ach, Lini …«, seufzt Mama enttäuscht. »Ein bisschen mehr Benehmen stünde dir von Zeit zu Zeit ganz gut.«

Sie verlassen das Badezimmer.

Im Flur dreht sich Mama zu ihr um, mit einem Gesicht, das für ein viel zu übertriebenes Weihnachtsgeschenk reserviert ist, so eins, das man sich eigentlich nicht leisten kann, und sagt: »Komm. Ich bestell uns ein Taxi!«

Und bis auf das Weihnachtsgeschenk stimmt es ja auch, es ist völlig übertrieben, und leisten können sie es sich auch nicht, aber entweder hat Mama gerade wieder Geld auf dem Konto oder ein schlechtes Gewissen wegen gerade oder beides, und natürlich hofft Mama auch, dass es die anderen Eltern sehen. Wie sie mit dem Taxi vorfahren.

Mama stirbt


»Ich nehme die Wahl zur Leiterin des Festkreises an.«

Mamas Wangen leuchten rot, und es ist nicht das Make-up.

»Vielen Dank für das Vertrauen, welches Sie mir entgegenbringen, ohne mich wirklich zu kennen. Ich freue mich sehr darauf, mit Herrn Carstensen ein paar tolle Feten auf die Beine zu stellen.«

Fuck, ernsthaft, Mama? FETEN?

Alinas Mama lächelt Herrn Carstensen an, der direkt neben ihr sitzt und zurückstrahlt wie ein Lottogewinner, im echten Leben aber der Vater von einem Geek namens Corvin ist. Welcher kurz zuvor einstimmig zum Klassensprecher gewählt wurde. Kunststück, er war der einzige Kandidat. Und, als wären Herr Carstensen und ihre Mutter nur zu zweit im Raum, sagt der Klassensprechervater: »Ich bin übrigens der Urs, wir können uns gern duzen«, dabei glotzt er ins Herrenkino, Film mit Überlänge, dann hält er ihr den Zeigefinger hin, und aus irgendeinem Grund weiß Mama, was zu tun ist, und drückt ihren Zeigefinger dagegen, und gemeinsam machen sie zwei kurze, kreisende Bewegungen, Fingerkuppe an Fingerkuppe.

»Fein, ist mir auch lieber. Ich bin die Ulli.«

Mama leuchtet wie ein Filmscheinwerfer.

Alina schließt die Augen und versucht, sich ein Jahr in die Zukunft zu beamen, in eine Welt, in der sie Abi und ein Stipendium im Silicon Valley hat, aber das mit dem Beamen ist genauso Science-Fiction wie das mit dem Stipendium.

Sie öffnet die Augen, weil Corvin engagiert zu klatschen anfängt, um das neue Partykomitee zu beglückwünschen, alle Eltern müssen notgedrungen mitmachen. Der eine von den beiden Gebärdendolmetschern, der gerade dran ist, wedelt neben den Ohren mit den Händen. So geht also Gebärden-Applaus. Es sind gleich zwei Dolmetscher mitgekommen, die einer gehörlosen Mutter gegenübersitzen und sich jede Viertelstunde abwechseln müssen, so anstrengend ist das für die. Die Tochter der Gehörlosen, Johanna, sitzt neben ihr, kann aber hören, und gebärden kann sie auch, nur dass es bei ihr nicht so hektisch und schwitzig nach Arbeit aussieht wie bei den Dolmetschern, sondern wie ein verträumter Fingertanz. Johanna ist nämlich eine Elfe oder Fee oder so was, für einen Menschen jedenfalls eindeutig zu schön.

»Gut, wäre das also erledigt, ich danke Frau Beinert für ihr Engagement. Bei der Weihnachtsfeier sehen wir dann, was sie draufhaben, hahaha …«, Herr Kujawa lacht ein dröhnendes Schnurrbartlachen, von dem man nicht glauben kann, dass es echt sein soll.

»Kommen wir zum nächsten Punkt: Das Sozialexperiment.«

Kujawa sortiert seine Blätter, findet, was er sucht,...

Erscheint lt. Verlag 24.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Coming of Age • eBooks • Familienroman • Hamburg • Neuerscheinung • Patchworkfamilie • Programmiererin • Roman • Romane • Schule
ISBN-10 3-641-28264-0 / 3641282640
ISBN-13 978-3-641-28264-6 / 9783641282646
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