Anleitung ein anderer zu werden (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
272 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3058-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anleitung ein anderer zu werden -  Édouard Louis
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Was kostet es, das eigene Leben in die Hand zu nehmen? 

Mit Mitte zwanzig hat er schon mehrere Leben hinter sich: Eine Kindheit in extremer Armut, die Scham über die eigene Herkunft, die Flucht vom Dorf in die Stadt, den Aufbruch nach Paris. Er macht sich frei von den Grenzen seiner Herkunft, nimmt einen neuen Namen an, liest und schreibt wie ein Besessener, probiert sich aus, will alle Leben leben. Immer neue Welten erschließen sich ihm. Mit unbändiger Energie erfindet er sich wieder und wieder, schließt Freundschaften und hinterfragt doch die radikale Selbstveränderung, die sich nie ganz vollendet. Édouard Louis hat ein großes Buch geschrieben darüber, was man zurücklässt, wenn man bei sich selbst ankommt.

Der neue Roman von Édouard Louis, der Autor von »Das Ende von Eddy«.

»Ein starkes Buch.« ARD Morgenmagazin.

»Édouard Louis beginnt seinen neuen, autobiografischen Roman mit einer derart fesselnden Einführung in sein Leben, dass man schon nach wenigen Seiten süchtig nach mehr ist.« Zeit Magazin.

»Ein Buch von aufwühlender Schönheit.« Le Monde. 

»Es hat eine enorme aufpeitschende Kraft, wie Édouard Louis sein Leben reflektiert.« Edgar Selge. 

»Ein seltener Glücksfall - ein Autor, der etwas zu sagen hat und bereit ist, es ohne Rücksicht auf sich selbst zu tun.« The New York Times. 

»Fesselnd.« FAZ.

»Höchst eindrucksvoll. In der Radikalität, mit der er vorgeht, liegt eine enorme Kraft. « Jörg Magenau, rbb.



Édouard Louis, geboren 1992, gilt als einer der wichtigsten Autoren der jüngeren Generation. Sein Roman »Das Ende von Eddy« machte ihn 2015 international bekannt. Er erzählte darin von seiner Kindheit in einem Dorf in Nordfrankreich in prekärsten Verhältnissen. In »Anleitung ein anderer zu werden« erzählt er davon, wie er die Grenzen seiner Herkunft hinter sich ließ. Seine Bücher erscheinen in 35 Sprachen und werden an Bühnen überall auf der Welt fürs Theater adaptiert. Zuletzt erschienen »Im Herzen der Gewalt«, »Wer hat meinen Vater umgebracht« sowie »Die Freiheit einer Frau«. Édouard Louis lebt in Paris. Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, lebt als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau, Kanada. Sie überträgt unter anderem Annie Ernaux ins Deutsche. 2019 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis.

Ich lief die Treppe hoch. Ich weiß nicht mehr, was ich im Treppenhaus dachte, ich nehme an, ich zählte die Stufen, um an nichts anderes zu denken.

Vor der Tür wartete ich, bis ich wieder bei Atem war, dann klingelte ich. Auf der anderen Seite der Wand kam der Mann näher, ich hörte seine Schritte auf dem Parkett.

Keine zwei Stunden zuvor hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit ihm gehabt, über eine Webseite. Er hatte mich angeschrieben. Er stehe auf Jungs wie mich, jung, schlank, blond, blaue Augen – er präzisierte: arischer Typ. Er schrieb, ich solle mich wie ein Student anziehen, und ich war seinem Wunsch gefolgt und hatte mich so angezogen, wie er sich einen Studenten vorstellen musste, ich trug einen zu großen, von Geoffroy geliehenen Kapuzenpulli und himmelblaue Turnschuhe, meine Lieblingsschuhe, ich erfüllte ihm seinen Wunsch, weil ich hoffte, er werde mir dann mehr Geld geben, als Belohnung für meine Mühe.

Ich wartete.

Nach einer Weile öffnete er die Tür, und bei seinem Anblick musste ich die Gesichtsmuskeln anspannen, um keine Grimasse zu ziehen – er sah ganz anders aus als auf den Fotos, die er geschickt hatte, sein Körper war weich und schwer, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es war, als würde ihn ein Gewicht zu Boden ziehen, als würde er zerfließen.

Offensichtlich war ihm schon der Weg zur Tür schwergefallen, er wirkte erschöpft, atemlos und verschwitzt, auf seiner Stirn glitzerten kleine Tropfen; ich wandte den Blick ab, so weit es ging, ich wollte sein Gesicht nicht sehen, ich dachte, In weniger als einer Stunde bist du mit dem Geld hier raus. Sein Geruch schlug mir entgegen, ein künstlicher Geruch nach Vanille und verdorbener Milch. Ich konzentrierte mich auf diesen Gedanken, In weniger als einer Stunde, mit dem Geld, als ich hinter ihm in der Wohnung Stimmen hörte. Es waren die Stimmen von mehreren Männern, vielleicht drei oder vier; ich fragte, wer sie seien; er sagte grinsend: Das kann dir egal sein. Tu einfach so, als wären sie nicht da, sie kennen das schon, ich hole mir oft Nutten ins Haus, du bist nicht der Erste. Wir gehen direkt zum Schlafzimmer, ignorier sie einfach.

Ich dachte: Ich will nicht, dass andere mein Gesicht sehen –Scham stieg in mir auf, erfüllte meinen Körper von den Fingerspitzen bis zum Nacken, eine lauwarme, lähmende Flüssigkeit, deren Brennen mir vertraut war. Ich drohte ihm, ich würde sofort wieder gehen. Ich dachte, meine Worte würden ihn ärgern oder verletzen, aber er versuchte nicht, mich aufzuhalten, gelassen bot er mir 50 Euro an, für mein Kommen, falls ich auf der Stelle umkehren und wieder gehen wollte, und ich hasste ihn, weil er ruhig blieb. Ich brauchte mehr als 50 Euro. Ich sagte, Okay, aber wir gehen direkt ins Schlafzimmer, die anderen sollen mich nicht ansehen und ich setze meine Kapuze auf.

Er schwor, dass seine Freunde nicht versuchen würden, mein Gesicht zu sehen, Denen ist das scheißegal, er drehte sich bereits um, ich sah seinen fetten weißen Nacken, Denk an das Geld, denk an das Geld.

Ich durchquerte mit ihm zusammen das Wohnzimmer. Er ging voraus. Ich senkte den Kopf, die Kapuze verbarg mein Gesicht. Im Schlafzimmer setzte er sich auf die Bettkante, und als sein schwerer Körper die Matratze berührte, gab sie ein kurzes Quietschen von sich.

Die Matratze schrie an meiner Stelle.

Ich stand vor ihm, wagte nicht, mich zu rühren, er musterte mich, Du bist echt geil, du kleine Nazisau. Ich sagte nichts, er wollte, dass ich schwieg, das wusste ich, es erregte ihn, dafür bezahlte er mich, für meine Härte, meine Kälte. Ich spielte eine Rolle. Er sagte, ich solle mich ausziehen, und fügte hinzu: So langsam wie möglich, und ich gehorchte.

Jetzt stand ich nackt vor ihm und wartete. Er sagte nur: Ich will, dass du mich fickst wie eine Schlampe. Er stand auf, zog seine Hose halb runter, bis sie ihm um die Knie hing, drehte sich um, stieg aufs Bett, ging auf alle Viere – sein Arsch vor mir war zu weiß und zu rot, eingefallen, schlaff, von braunen Härchen übersät – er wiederholte: Los, fick mich, mach mich zu deiner Schlampe. Ich presste meinen Schwanz an seinen Körper, aber es passierte nichts, mein Schwanz blieb leblos, ich scheiterte, und ich schaffte es nicht, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, mir eine andere Situation vorzustellen, die Realität seines Körpers drängte sich mir auf, als wäre die Realität seines Körpers so brutal, so absolut, dass sie jede Fantasie zerstörte. Er sagte: Was ist los, kriegst du keinen hoch, und um Zeit zu gewinnen, sagte ich, Halt den Mund. Ich spürte, wie sein Körper unter meinen Händen erschauderte, meine Worte erregten ihn.

Ich versuchte es wieder, rieb mich an ihm, auf ihm, verzweifelt, ich mühte mich ab, versuchte, mir einen anderen Körper unter meinem vorzustellen, oder vielmehr einen anderen Körper auf meinem, weil das die Stellung war, bei der ich normalerweise geil wurde, ich konzentrierte mich, aber die Berührung mit seiner kalten, trockenen Haut holte mich immer wieder in die Wirklichkeit zurück, in seine Gegenwart. Er begann zu seufzen, er verlor die Geduld. Ich wiederholte, Halt den Mund und beweg dich nicht, aber ich wusste, dass es beim zweiten Mal nicht mehr so gut funktionierte. Er wollte etwas anderes. Ich rieb mich noch härter an ihm, aber ich wusste, dass ich verloren hatte, die Sache war von vornherein verloren gewesen, heute glaube ich, dass ich das schon beim Betreten des Schlafzimmers wusste.

Ich dachte an das Geld, das ich unbedingt brauchte, an meine Scham, wenn ich dem Zahnarzt am nächsten Tag sagen müsste, dass ich die Rechnung nicht begleichen könne, daran, wie wir uns ansehen würden, an die Worte, die er sicher auswendig kannte, Kann ich beim nächsten Mal bezahlen, es tut mir leid, ich habe mein Portemonnaie vergessen, und er würde wissen, dass ich log, und ich würde wissen, dass er es wusste, ich dachte an die Scham, die ich aufgrund dieser unendlichen Spiegelsituation empfinden würde – es war so einfach, so banal, aus diesem Grund war ich bei diesem Mann und presste mich nackt an ihn.

Er war immer noch auf allen Vieren, er rührte sich nicht. Ich löste mich von ihm, umrundete das Bett, stellte mich vor sein Gesicht. Sein Ausdruck war müde, erschöpft vom Warten, flehend. Ich sagte, Blas mir einen, und er nahm meinen Schwanz in den Mund, aber der blieb weiter schlaff. Ich schloss die Augen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aber nachdem ich zwanzig Minuten vor ihm gestanden hatte, zog sich mein Schwanz zusammen und ich kam, ich nahm meinen Schwanz aus seinem Mund und spritzte ihm übers Gesicht, ich senkte den Kopf und sah die dicke weiße Flüssigkeit auf seiner Stirn, seinen Wangen, seinen Lidern.

Mein Atem zitterte.

Ich zog mich an. Ich dachte: Es ist fast vorbei. Fast vorbei. Er nahm ein Handtuch vom Nachttisch neben dem Bett, wahrscheinlich hatte er es in dem Wissen bereitgelegt, dass ich kommen würde, wischte sich das Gesicht ab und ging zu einer kleinen Kommode. Er nahm ein Bündel Geldscheine heraus und kehrte damit zu mir zurück.

Er gab mir 100 Euro; ich rührte mich nicht. Er wusste genau, worauf ich wartete und warum ich reglos dastand, aber er stellte sich dumm. Er spielte mit mir, und er wusste, dass ich ihn durchschaute, er wusste, dass ich wusste, dass er mit mir spielte, dass ich aber zu große Angst hatte, um etwas zu sagen. Schließlich sagte er, Du hast es nur halb gemacht, also gebe ich dir auch nur die Hälfte. Du solltest mich ficken und hast es nicht getan. Eine Nutte, die nicht fickt, ist keine Nutte. Du kannst froh sein, dass ich dir 100 gebe. Er sagte es nicht aggressiv, sondern wie eine Feststellung, wie wenn man eine Verwaltungsvorschrift oder einen Vertrag vorliest. Ich sah es ihm an. Ich hatte gelernt, auf den ersten Blick einzuschätzen, ob jemand vermögend war, ich irrte mich nie, ich wusste, dass er reich war und dass 100 Euro keine Rolle spielten, dass 100 Euro weniger ihm nicht wehtun würden. Das Herz schlug mir in der Brust (nicht mein Herz pochte, sondern mein ganzer Körper). Ich begann dem Mann die Situation zu erklären, dabei kannte ich nicht einmal seinen Namen, ich erzählte ihm alles, die Scham, der Zahnarzt. Er sagte, das sei nicht sein Problem, Wenn man etwas nur halb macht, kriegt man auch nur die Hälfte. Im Leben muss man wissen, was man will. Du bist noch jung, du wirst das noch lernen.

Nach diesem Satz gab...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2022
Übersetzer Sonja Finck
Sprache deutsch
Original-Titel Changer: méthode
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amiens • anders werden • Annie Ernaux • Armut • Aufstieg • Autobiografisch • Bestseller • Changer: Methode • Das Ende von Eddy • Didier Eribon • Die Freiheit einer Frau • Édouard Louis • Freiheit • Im Herzen der Gewalt • Junge Literatur • Klasse • Klassiker • Klassismus • Leben • Literatur • Paris • politisch • Privilegien • Queer • Queere Literatur • Rache • Scham • Selbstbestimmt • Selbsterfahrung • Teilhabe • Veränderung • Wer hat meinen Vater umgebracht
ISBN-10 3-8412-3058-X / 384123058X
ISBN-13 978-3-8412-3058-4 / 9783841230584
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