Der Ruf des Eisvogels (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
432 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-2819-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Ruf des Eisvogels -  Anne Prettin
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Vom Wagnis eines freien Lebens
21 Gramm, so viel wiegt eine Seele, weiß Olga. Ungefähr so viel wie der Eisvogel, in dem die Seele ihrer Mutter fortlebt, ewig und drei Tage. Das zumindest behauptet ihr Großvater, obwohl er Arzt ist und doch eigentlich an Wissenschaft glaubt. Er ist es auch, der Olga die Wunder der Natur erklärt und in ihr die Liebe zur Medizin weckt. Denn der kühle, distanzierte Vater hat kein Verständnis dafür, dass Olga die Welt mit eigenen Augen sieht.
Dann bricht der zweite Weltkrieg in die Idylle der Uckermark ein. Die Achtzehnjährige muss fliehen, und nichts ist mehr, wie es war. Erst fünfzig Jahre später kehrt sie mit Tochter und Enkelin zurück.
Einfühlsam und berührend erzählt Anne Prettin von Schuld und Verlust, von Freundschaft und von den vielen Formen der Mutterliebe.



<p><strong>Anne Prettin </strong>ist eine Hamburger Autorin und schreibt Reden für Auftraggeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie studierte Politikwissenschaften und Soziologie in Freiburg, Hamburg und Bordeaux und arbeitete als freie Journalistin für verschiedene Tageszeitungen. Sie ist verheiratet und lebte mit ihrer Familie in Neuseeland, als ihr Debutroman - <strong>DIE VIER GEZEITEN</strong> - entstand. Für ihren neuen Roman hat sie sich von der Geschichte ihrer eigenen Familie inspirieren lassen.</p>

Anne Prettin ist eine Hamburger Autorin und schreibt Reden für Auftraggeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie ist verheiratet und lebte mit ihrer Familie in Neuseeland, als ihr Debütroman - DIE VIER GEZEITEN - entstand. Für ihren neuen Roman hat sie sich von der Geschichte ihrer eigenen Familie inspirieren lassen.

1. April 1925


Ginsterburg


Das Unglück war genauso plötzlich da wie das Glück.

In dem Moment, in dem Olga ihren ersten Schrei tat, um das Leben zu begrüßen, tat Elli Blume ihren letzten, lautlos, das eingefallene Gesicht wie in stummer Anklage zu ihrem Mann gedreht. Otto hatte dabei zusehen müssen, wie ihr Atem flacher und flacher geworden war. Wie ihre Arme herabfielen, während ihre leeren, bernsteinfarbenen Augen offen standen wie die einer Puppe. Doch er weigerte sich einzugestehen, vor sich und der Welt, dass er es verpfuscht hatte. Dass seine Frau tot war und der Vorwurf in ihrem letzten Blick ihm galt. Wie vielleicht auch das erste Wimmern seiner Tochter, die er wenige Minuten zuvor für tot gehalten und auf der Fensterbank abgelegt hatte, ohne sie ein einziges Mal richtig zu betrachten. Und die nun, von der Aprilsonne beschienen, langsam zum Leben erwachte. Als mutterloses Kind.

Doch Dr. Otto Blume achtete nur auf seine Frau, die still in der Lache ihres eigenen Blutes lag. In ihren Augen sah er nicht ihr Ende. Nicht einmal die Verzweiflung darüber, dass er als Halbgott in Weiß ihre Sorgen weggelächelt hatte, als sie ihn nach sechsunddreißig Stunden Wehen, zehn davon Presswehen, mit inzwischen brüchiger Stimme angefleht hatte, endlich seinen Vater oder die Hebamme zu holen, oder doch wenigstens das Kind, notfalls mit der Zange. Zwischen zwei Schlucken Tee hatte er sie gefragt, was falsch daran war, auf die Kräfte der Natur zu setzen, und, nachdem sie sich noch mehr krümmte, versichert: »Vertrau mir, die Kinder kennen den leichten Weg raus!«

»Nimm doch die Zange«, hatte Elli noch einmal gerufen und den Kopf hin und her geworfen. Auf ihn hatte ihre wiederholte Bitte wie eine Ohrfeige gewirkt. Wie ein Eingriff in seinen Hoheitsbereich. Er war Arzt und sie Patientin, eine Trennung, die er schon aus professionellen Gründen vollziehen musste.

»Zange, Zange«, hatte er verärgert gesagt. »Ich weiß schon, was ich tue.«

Als sie stöhnend geflüstert hatte, dass sie Angst um das Kind habe, dass sie diese beißenden Krämpfe von der Geburt ihres Sohnes her nicht kenne, hatte er ihr zu guter Letzt seinen eigenen Schmerz entgegengehalten. Der leichte Oberschenkeldurchschuss bei Pierrefonds an der Westfront vor sieben Jahren durch einen Briten, sein Schmerzbarometer, das ihm zuverlässig half, »den Peinpegel seiner Patienten« einzuschätzen. »Da haben wir 1918 in Frankreich ganz andere Dinge erlebt«, hatte er sie erinnert, nicht zum ersten Mal, und endlich vertraute sie auf seine Erfahrung, so kam es ihm zumindest vor, und ließ ihn schweigend gewähren.

Und ja, er behielt tatsächlich recht, das Kind fand den Weg heraus, auch ohne Zange. Nur dass Otto den Preis dafür nicht zu kennen schien. Es war, als wäre er plötzlich taub für alle Warnsignale, das viele Blut, die fahle Gesichtsfarbe und den langsam eintretenden Tod.

Seine Frau starb nicht und schon gar nicht unter seinen Händen. Sie war doch alles, was er liebte, die zarte, warmherzige Gutstochter aus der Nähe von Lübeck, die er bei einer Bootsfahrt kennengelernt hatte, damals auf der Trave, als sie mit ihrer Kamera Fotos von ihm und seinem Freund gemacht hatte. Seine Elli, die er erst um die Bilder, dann ein paar Wochen später um ihre Hand gebeten und mit nach Ginsterburg genommen hatte. Seitdem hatten sie sechs wunderbare Jahre miteinander verbracht, und Elli hatte die schönsten Momente auf Bildern festgehalten, so wie am Anfang.

Unruhig schaute er sich um. Da fand sein Blick ihre Leica, dieses kleine moderne Spielzeug, das er ihr für stolze 270 Mark zur Geburt ihres vierjährigen Sohnes Karl geschenkt hatte. Gleich nach der Geburt sollte Otto ein Foto seines zweiten Kindes schießen, das hatte sie sich gewünscht. Doch für solche Sentimentalitäten blieb jetzt keine Zeit. Erst einmal musste er sich um diesen Notfall auf der Liege kümmern, denn hier war schnelles Eingreifen vonnöten … Aber er würde die Situation schon in den Griff bekommen, dessen war er sich sicher.

Womöglich hätte seine Frau, die ihn aufrichtig geliebt hatte, sein Verhalten sogar verstanden, hätte sie geahnt, was hinter seiner Verweigerung steckte – wie verhasst ihm diese Zange war, die ach so sichere Naegele-Zange, die wie eine Mahnung aus dem offenen schwarzledernen Geburtshilfekoffer neben ihm ragte. Es war ja nicht so, dass ihm ihr Gebrauch nicht in den Sinn gekommen wäre. Aber schon beim Gedanken an das Instrument fingen seine Finger an zu brennen.

Elli wusste nichts über sein unrühmliches Ende in der Rostocker Frauenklinik, wo er als junger Assistenzarzt als große Nachwuchshoffnung gegolten hatte. Zumindest bis zu seiner verhängnisvollen praktischen Prüfung ein Jahr vor Karls Geburt im Jahr 1920.

Unter den Augen des Chefarztes und der Kollegen hatte er viermal die Zange angesetzt und vergeblich versucht, das Köpfchen mit den metallenen Zangenblättern zu packen. Die brüllende Gebärende, vielleicht auch die dreifache Verantwortung für Mutter, Kind und Examen hatten ihn so verunsichert, dass er, aus einem unerklärlichen Impuls heraus, den noch nicht verknöcherten Schädel viel zu fest zusammendrückte, als er ihn endlich zu fassen bekam, fast so, als wollte er eine Nuss knacken. Der Anblick des malträtierten Schädels verfolgte ihn bis heute. Dass das Baby überlebt hatte, wenn auch schwerbehindert, rettete ihm die Approbation, nicht aber seinen Ruf in der Klinik. Seine Karriere als Gynäkologe war vorüber gewesen, ehe sie richtig begonnen hatte.

»Herrje, Sie Stümper, Sie haben ein vollkommen gesundes Kind zum Krüppel gemacht«, hatte der Chefarzt ausgerufen. »Lassen Sie sich nie wieder in der Nähe einer Gebärenden blicken! Seien Sie froh, dass es lebt.«

Er war aber nicht froh, nicht über das Überleben dieses Kindes, dessen Leben niemals wirklich eines sein würde, noch über das seiner Tochter, deren Stimme und Gesichtsfarbe jetzt immer mehr an Kraft gewann.

Wie oft hatte Elli den Kopf darüber geschüttelt, dass ihr Mann in seiner eigenen Welt lebte. Darüber, dass sich seine Mundwinkel immer tiefer eingruben. Wieder und wieder hatte sie ihn ermahnt, doch auch einmal zu lächeln, nicht immer alles so furchtbar ernst zu nehmen. Sicher hätte er ihr zugelächelt, vorhin, als sie ihn lang ansah und ihm schwach die Hand drückte, hätte er gewusst, dass es das letzte Mal sein würde. Vielleicht hätte er ihr gesagt, was er vorher nie hatte sagen können: dass er sie bewunderte für ihre Geduld mit ihm. Dass er sie brauchte. Aber die letzten Male sind tückisch, man erkennt sie meist erst, wenn es zu spät ist – sofern man sie nicht wie Otto selbst dann noch mit der Kraft eines Verzweifelten zu ignorieren beschließt. Eigentlich war er als Arzt besser als irgendwer sonst mit den Vorboten des Todes, auch mit dem Tod selbst vertraut. Doch er hatte entschieden, dass seine Frau erst tot war, wenn er, kraft seines Amtes, ihren Tod auch feststellte.

Und solange er dies nicht tat, setzte er alles daran, dass sie ihn wieder anlächelte. Rasch krempelte er die Hemdsärmel hoch und beugte sich über seine Frau. Die Ursache für den Blutschwall war ihm sofort klar: Uterusatonie. Die Gebärmutter zog sich nicht mehr zusammen. Sicher waren ihre Muskeln nach den langen Wehen ebenso erschöpft wie Elli selbst, die keinen Laut mehr von sich gab. Mit der linken Hand massierte er ihr Herz, mit der rechten die Bauchdecke, um die Blutung zu stoppen. Aber bei jeder festen Bewegung schoss das Blut wie eine Fontäne aus ihr.

»Elli«, rief er und legte die Hände fest um ihr Gesicht. »Schau mich an!« Er gab ihr zwei kräftige Ohrfeigen und hörte nicht, dass das Mädchen auf der Fensterbank immer lauter brüllte. Nahm auch nicht wahr, wie die Tür aufging und sein Vater, der gerade von der Geburt bei Ellis Freundin Ira zurückkehrte, entsetzt aufschrie.

Plötzlich aber spürte er eine Hand auf seiner Schulter. »Hör auf, Otto, hör auf! Das bringt nichts mehr!«

Doch er machte weiter, kniete sich jetzt auf seine Frau und massierte mit beiden Händen wie besessen ihr Herz, bis sein Vater seine Hand fortzerrte und ihn Ellis schweigenden Puls fühlen ließ. »Schluss damit, mein Sohn. Siehst du es denn nicht? Sie ist tot, Otto! Tot!«

Da ließ Otto ab von ihr, taumelte kraftlos zurück und ließ sich auf die Knie fallen. Es gab nichts mehr, was er noch tun konnte. Er hatte versagt.

Wie durch einen dichten Nebel hindurch hörte er seinen Vater oder sein Gewissen sprechen, so genau wusste er es nicht. Herrgott, warum hast du nicht die Zange genommen? Du hättest die Zange nehmen müssen. Dann würde Elli noch leben.

Warum? Otto rappelte sich auf. Warum hatte nicht sein Vater die Geburt seiner Enkelin übernommen? Dann hätte Otto an seiner Stelle das Kind von Ellis Freundin Ira auf die Welt bringen können, und alles wäre gut ausgegangen. Nach bald dreißig Jahren als Landarzt und mehr als tausend Geburten, eine davon in der Pferdekutsche, hätte Albert Blume doch am Morgen sehen müssen, in welchem Zustand seine Schwiegertochter gewesen war! Noch dazu war er mit der Zange versierter als sonst irgendwer. Aber Elli hatte Vertrauen in ihren Mann gehabt und darauf bestanden, Otto an ihrer Seite zu haben. Wie hätte er ihr diesen Wunsch abschlagen können? Wie seine eigene Befähigung in Frage stellen sollen, vor seiner Frau?

»Sieh nur«, sagte Albert, der auf einmal mit dem brüllenden Bündel auf dem Arm vor ihm stand. »Du hast ein kleines Mädchen. Sie lebt. Und wie sie lebt! Das ist mal eine uckermärkische Naturgewalt – robust, kräftig und zäh. Eine echte Blume!«

Als Otto das hörte, drehte er sich weg von seinem...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abtreibung • Adoption • Arzt • Bestseller 2023 • Emanzipation • Empowerment • Familiengeheimnis • Flucht • Gesellschaftsroman • Hausarzt • Krieg • literarische Unterhaltung • Medizin • Medizinstudium • Mutterlos • Mutterschaft • Nationalsozialsozialismus • Natur • Naturliebe • Ostdeutschland • Poel • Schwangerschaft • Seen • Trauma • Uckermark • Waise • Wende • Zwangsarbeiter
ISBN-10 3-7517-2819-8 / 3751728198
ISBN-13 978-3-7517-2819-5 / 9783751728195
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